Kritische Sozialtheorie und intellektuelle Praxis

Ein Sammelband zur Bourdieu-Rezeption in Frankreich und Deutschland

Von Steffen DörhöferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Steffen Dörhöfer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach dem Tode von Pierre Bourdieu hat - wenig überraschend - eine weitere Welle der Auseinandersetzung mit seinem facettenreichen Gesamtwerk begonnen. Hierbei liegt die Betonung insbesondere auf dem Begriff "Gesamtwerk", da die soziologische Auseinandersetzung mit dem französischen Theoretiker sich in den letzten Jahren sehr stark auf dessen Funktion als kritischen Intellektuellen, der sich wortgewaltig dem neoliberalen Dogmatismus entgegensetzt, fokussierte. Mittlerweile sind zahlreiche Monografien, aber auch Sammelbände zu den verschiedensten Themenbereichen der soziologischen Studien von Bourdieu erschienen, denen es sowohl darum ging, einen Überblick über die mannigfaltigen Arbeitsbereiche in den verschiedenen Disziplinen zu skizzieren, als auch dessen theoretisches Werk in Zusammenhang mit seiner intellektuellen Praxis zu bringen.

Im Kontext der posthumen Beschäftigung mit dem Bourdieu'schen Gesamtwerk setzen sich die AutorInnen in dem von Catherine Colliot-Thélène, Etienne François und Gunter Gebauer herausgegebenen Sammelband "Pierre Bourdieu: Deutsch-französische Perspektiven" mit der Rezeption seines Gesamtwerks in den beiden Ländern auseinander. Die Annäherung an das Werk Bourdieus verläuft entlang dreier Themenbereiche: 1. Der theoretische Rahmen, 2. Einblicke in die Rezeption Bourdieus in den Sozial- und Geisteswissenschaften und schließlich 3. Pierre Bourdieu: Der Wissenschaftler und der Politiker.

Der Sammelband beginnt folglich mit der Skizze des "theoretischen Rahmens", in dem ausgewiesene AutorInnen die wichtigsten Grundbegriffe der Sozialtheorie von Bourdieu herausarbeiten und kritisch diskutieren. Mit dem praxeologischen Ansatz von Bourdieu befasst sich Hans-Peter Müller, dem es in seinem Beitrag vor allem darum geht, dessen Überwindung der Gegenüberstellung von Handlung und Struktur als distinktiver Logiken soziologischer Theorie (durch das Habitus-Konzept) sowie die Verortung der handelnden Subjekte in der Sozialstruktur (Klassen- und Kapitaltheorem), begrifflich zu bestimmen. Bevor letzteres, also die "moderne[n] Gesellschaft und ihre Klassen", noch mal von Beate Krais einer genaueren Analyse unterzogen wird, unternimmt Cornelia Bohn einen Vergleich der Gesellschaftskonzepte in den Soziologien von Bourdieu/Luhmann und arbeitet in diesem Zusammenhang interessante Analogien der Ansätze heraus. Abschließend beschäftigen sich Catherine Colliot-Thélène mit den deutschen Wurzeln der Theorie Bourdieus, während Gunter Gebauer sich näher mit der Komplementarität des Praxisbegriffs von Bourdieu und dem Sprachspielkonzept von Ludwig Wittgenstein auseinandersetzt.

Unter der Überschrift "Einblicke in die Rezeption Bourdieus in den Sozial- und Geisteswissenschaften" finden sich ganz verschiedene Themenbereiche. Mit dem - vor allem in der französischen Bourdieudiskussion - klassischen Thema, dem Bildungswesen, beschäftigt sich Christian Baudelot, der sich nicht damit begnügt, lediglich die früheren Untersuchungen Bourdieus wiederzugeben, sondern diese auch nach ihrer Relevanz für die gegenwärtigen Ungleichheiten im Bildungssystem befragt.

Als nächstes widmet sich der Beitrag von Ingrid Gilcher-Holtey und der von Olivier Christin der Auseinandersetzung der Geschichtswissenschaften mit dem begrifflichen Instrumentarium des französischen Soziologen, wobei beide sich arbeitsteilig auf die Rezeption ihres Herkunftslands beschränken.

Einen weiteren zentralen Bestandteil der Herrschaftssoziologie Bourdieus, die Kategorie "symbolische Gewalt", analysiert Gérard Mauger im vielleicht interessantesten Beitrag des Sammelbands, indem er sowohl die Genese des Begriffs herausarbeitet, als auch nach der Möglichkeit des Widerstands fragt. Daran anschließend widmet sich die Historikerin Françoise Thébaud einer besonderen Form der symbolischen Gewalt, nämlich der männlichen Herrschaft. Hierbei stehen interessanterweise die widersprüchlichen Reaktionen - zwischen Anerkennung und Kritik - von Wissenschaftlerinnen und Journalistinnen auf Bourdieus Versuche, sich mit der Gender-Thematik zu beschäftigen, im Mittelpunkt des Aufsatzes.

Im letzten Abschnitt "Pierre Bourdieu: Der Wissenschaftler und der Politiker" schließt sich wiederum der Kreis von Theorie und Praxis. Ausgehend von Bourdieus Studien, die "Mechanismen der Reproduktion der herrschenden Klasse" vor allem in den Bildungsinstitutionen untersuchen, setzt sich Michael Hartmann mit dem Einfluss von Bourdieu auf die gegenwärtige Elitenforschung auseinander, mit deren Konzepten einige machtsoziologische Leerstellen der Mainstream-Forschung aufgefüllt werden können. Zum Schluss des Bands werden in den sehr lesenswerten Beiträgen von Yves Sintomer und Jacques Bouveresse die Zusammenhänge der Sozialtheorie, der intellektuellen Kritik, aber auch deren widersprüchliches Spannungsverhältnis diskutiert.

Der Sammelband bietet nicht nur einen gelungenen Überblick über zentrale theoretische Kategorien der Soziologie von Pierre Bourdieu, sondern zeigt auch die umfassende Rezeption des Gesamtwerks in den verschiedensten Geistes- und Sozialwissenschaften auf. Gerade die Herangehensweise der AutorInnen, nämlich die Begriffe Bourdieus aus seinen Studien herzuleiten und darauf aufbauend die Rezeption und die Perspektiven zu entwickeln, aber auch die ländervergleichende Perspektive erweist sich als eine erhebliche Perspektivenerweiterung bezüglich der Soziologie Bourdieus.


Titelbild

Catherine Colliot-Thelene / Etienne Francois / Gunter Gebauer (Hg.): Pierre Bourdieu: Deutsch-französische Perspektiven.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
328 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-10: 3518293524

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