Meditationen zur Verstehensfrage

Emil Angehrn untersucht Hermeneutik, Interpretation und Dekonstruktion

Von Daniel J. GallRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel J. Gall

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erst in seinen Schlusskapiteln reißt Angehrn das an, was als Leitmotiv über seiner Abhandlung stehen könnte, wenn er über die Dekonstruktion als philosophische Praxis referiert und dabei auf die Externalität ihres Sinnverständnisses verweist, das sich auf das Zeichen als äußeren Sinnbehälter stützt: Sinn ist demzufolge nicht mehr dem Subjekt immanent, sondern vielmehr auf das Zeichen, auf die Vermittlung der Schrift angewiesen. Man kommt an dieser Stelle, nach gut 300 eng bedruckten Seiten, nicht um ein eifrig zustimmendes Kopfnicken herum, und sei es nur, weil Angehrn selbst den besten Beweis liefert: irgendein anderer Ausdruck als die Schrift scheint für diesen massiven Exkurs zur Hermeneutik höchst unangemessen.

Angehrn ist tief in seiner Materie, führt seine Ideen nicht immer originell, aber nachhaltig aus und nimmt dabei keinerlei Rücksicht auf Lesbarkeit oder irgendwelche anderen Zugeständnisse an den Leser. Gleichwohl, er philosophiert nicht, er referiert und gibt dabei einen Lagebericht zum Ist-Zustand hermeneutischen Denkens. Der etwas vorhersehbaren, doch interessanten thematischen Einleitung, die den üblichen Bogen von Hermes über die Bibelexegeten bis hin zu Schleiermacher, Dilthey & Co. spannt, lässt Angehrn einen dreigliedrigen Hauptteil folgen, um der Frage nachzugehen, "in welchen Formen hermeneutisches Denken die Frage nach dem Sinn ausbildet, zum anderen, inwiefern heutiges Philosophieren in einem wesentlichen Sinn hermeneutisch ist."

Die Frage ist rhetorisch. Natürlich ist heutiges Philosophieren hermeneutisch, und das erkennt der Autor, seines Zeichens Lehrstuhlinhaber in Basel, auch an, wenn er unter anderem Gadamer und Ricoeur als Ausgangspunkte positioniert, gegen die bei ihm Interpretationsphilosophie und Dekonstruktion in Szene gesetzt werden, um die Abhängigkeiten der drei darzustellen - das Diktum von der Dekonstruktion als Ende der Hermeneutik wird also hinterfragt und letztlich auch widerlegt: alle drei sind Bestandteile des modernen Sinnschaffungsprozesses und schließen sich nicht aus. Sein Ansatz ist dabei ein utilitaristischer: Interpretation (a.k.a. Konstruktion) und Dekonstruktion werden als kulturelle Phänomene auf ihre Funktionen hin abgeklopft, nicht ohne einen gewissen Spannungsbogen einzubauen. So wächst das Interpretationsphänomen unter Angehrns Händen vom basalen Zeichenverständnis zum Akt des Auslegens und schließlich zum Akt der (Welt-)Konstruktion, in dem man, wie Nietzsche, auch einen grundlegenden Willen zur Macht erkennen kann.

Letztlich bleibt ein etwas schaler Geschmack, nicht nur, weil Angehrn Verstehen vor allem als Textverstehen definiert: nichts von dem hier präsentierten ist neu oder originell, als Referat über moderne Verstehensprozesse in ihren vielen Formen geht der Band aber allemal durch.


Titelbild

Emil Angehrn: Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik.
Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2003.
354 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 393473068X

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