Der Tony-Effekt

Gedichte bringen selbst Profis ins Schwitzen

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Szene wiederholte sich: Sie erstarrten förmlich, gerieten ins Stottern, das schlechte Gewissen sprang ihnen aus den Augen, für Momente wurden aus selbstbewussten Fachleuten ertappte Schüler. Und alles nur, weil man sie auf der Buchmesse gefragt hatte: "Können Sie ein Gedicht auswendig?"

Doch damit setzte - und das ist ein Ergebnis dieses kleinen Experiments - etwas ein, das ich den "Tony-Effekt" nennen möchte. Erinnern Sie sich? Zu Beginn der "Buddenbrooks" soll die kleine Tony den Katechismus aufsagen, stockt aber gleich: "Was ist das. - Was - ist das..." Dann geht es plötzlich: "Wenn man im Gange war, dachte sie, war es ein Gefühl, wie wenn man im Winter auf dem kleinen Handschlitten mit den Brüdern den Jerusalemsberg hinunterfuhr: es vergingen einem geradezu die Gedanken dabei, und man konnte nicht einhalten, wenn man auch wollte."

In Leipzig ging's genauso: Die anfängliche Peinlichkeit lüftete sich rasch, Titel wurden ausgegraben, Anfangszeilen aus dem "Osterspaziergang" drängten ans Licht, Balladenstrophen aus dem "Zauberlehrling", "John Maynard" oder dem "Knaben im Moor" brachen sich Bahn, und ehe man sich's versah, folgten - oft zum Erstaunen der Befragten - ganze Gedichte.

Hatte der Mitarbeiter der Deutschen Verlagsanstalt gerade noch behauptet, kein Gedicht zu können, fielen ihm kurz darauf drei von Gernhardt, eins von Goethe und eins von Brecht ein. Und am Stand des Klett-Schulbuch-Verlags kapitulierte nur eine Mitarbeiterin, obwohl sie sonst Gedichte von Eva Strittmatter auswendig lernt. Die Redakteurin für Geschichte und der für Deutsch dagegen brachten nach zehn Minuten Aufwärmzeit "Der Mond ist aufgegangen", ein Kindergedicht, Bertolt Brechts "Der Rauch" und die ersten zehn Zeilen des "Osterspaziergangs" zusammen. Hier weckte die Frage einen solchen Eifer und der Schwung der Verse eine so fröhliche Stimmung, dass die Mitarbeiter mit leuchtenden Augen begannen, sich untereinander zu befragen.

Überflüssig wird ein Plädoyer für das Auswendiglernen und seine messbaren neurologischen Wirkungen wie Klaus Bergs "Gedichte im Gedächtnis?" dadurch natürlich nicht. Er beklagt, wie sehr das Gedicht in den Schulen an den Rand gedrängt und fast nur noch analysiert, aber äußerst selten als Form- und Klangkunstwerk vorgetragen werde. Dabei löse das doch im besten Falle geradezu körperliche Glücksgefühle aus.

Das war deutlich zu spüren bei drei fantasievoll herausgeputzten Cos-Playern im Alter von 15-16, die erst gemeint hatten, alle gelernten Gedichte gleich wieder vergessen zu haben. Doch dann erwähnte die im Girlie-Look, Eichendorffs "Mondnacht" habe ihr sehr gefallen, das könne sie aber wohl nicht mehr. Ich bot ihr an, es zusammen mit ihr zu versuchen. Ihr Lächeln danach, der Beifall ihrer Freundinnen: wunderbar!

Die alte Kritik, Gedichte auswendig zu lernen, sei stumpfsinnig, verkennt die starke emotionale Wirkung der Lyrik und ihre tiefe Verwurzelung. Das Problem der Gedichte ist wohl ihre Fremdheit im Alltag. Wann hat man schon die Gelegenheit, Gedichte aufzusagen? Wann nutzt man sie? Eine Scham hat sich breit gemacht. Doch jeder der Befragten auf der Messe, der sie überwand, war danach zufriedener und überrascht von sich selbst. Tatsächlich: Da lebt in einem unbewusst noch ein Psalm, ein Lied, ein Abzählvers, ein Weihnachtsgedicht! Es bleibt dabei - Lyrik ist einfach eine hoch praktische Form der Literatur: klein, leicht im Herzen zu tragen und manchmal sogar überlebenswichtig, wie Ruth Klüger in ihrem autobiografischen Buch "weiter leben" betont.

Immer jedenfalls schien es, fingen die Menschen an, Gedichte vorzutragen, als veränderten sie sich. Sie wirkten gleichzeitig nach innen und nach außen gewendet, wie ein Sprachrohr und doch ganz sie selbst. Die Schriftstellerin Susanne Riedel, die Goethes "Erlkönig" kann, dazu Rilke-, Plath-, Sexton-Gedichte, warnte denn auch, man solle darauf achten, wem man Gedichte aufsage, sie seien fast so persönlich wie der eigene Name. Was weiß man also über Christoph D. Brumme, der "Mutter" von Gottfried Benn genüsslich vortrug? Oder über Birgit Lahann, wenn sie die lateinische Zauberformel aus Christopher Marlowes "Faust" rezitierte? Oder über Lyriker und Verleger Hans Till, der von Ferdinand Hardekopf "Doktor Schein und Doktor Sinn gingen ins Café" konnte?

Wen jetzt die Gedichtlernlust gepackt haben sollte, könnte mit dem "Lyrischen Zettelkasten" der edition Büchergilde anfangen. 50 kurze Gedichte von Gryphius über Busch bis Domin und 50 Blankokarten laden zum Lernen und Sammeln ein. Und wer über das reine Vergnügen hinaus einen praktischen Grund benötigt, dem sei das Beispiel der Pressefrau des Wallstein-Verlags genannt. Sie wusste am meisten Gedichte von allen auswendig (sogar Wordsworth!) und erzählte, sie memoriere Lyrik, wenn sie nicht einschlafen könne oder zur Ablenkung - beim Zahnarzt.


Titelbild

Klaus Berg: Gedichte im Gedächtnis? Vom Verlust der Gedächtniskultur in und außerhalb der Schule.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2005.
230 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 382603192X

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Der lyrische Zettelkasten. Lyrikbox für die persönliche Sammlung - 50 Gedichte und 50 Karten für die persönliche Sammlung.
Edition Büchergilde, Frankfurt a. M. 2006.
24,90 EUR.
ISBN-10: 3936428921

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