Gewichtiges über die Schwermut

Jean Clair hat eine umfassende Kunstgeschichte der Melancholie herausgegeben

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich habe über die Melancholie geschrieben, um sie mir mit dieser Unternehmung vom Leibe zu halten." Der Geistliche Robert Burton (1577 - 1640) verfasst seine etwa 1.300 Seiten starke "Anatomy of Melancholy", über die noch im Jahre 2001 ein Kritiker sagt, sie sei "the book to end all books", als Betroffener. Mit der Melancholie, soll das heißen, wird nur fertig, wer sich ihr aussetzt. Oder anders gesagt: Die "Anatomy" heilt Autor wie Leser nicht von der Schwermut, wohl aber von dem Glauben an die Heilung.

Auch 300 Jahre nach dem Freitod ihres Hohepriesters ist die Grabesstimme der Melancholie nicht verklungen. Kein Gemütszustand interessiert die westliche Kultur schon so lange wie die Melancholie. Traditionell als Ursache für seelisches Leiden oder Wahnsinn verstanden, galt sie nach der Temperamentenlehre zugleich als typisch für Helden und Genies. Selbst heute, wo "die schöne Kunst der Kopfhängerei" (Ulrich Horstmann) als Depression und trübsinnige Schwarzmalerei verunglimpft und medizinisch-wissenschaftlichen Paradigmen unterworfen ist, lässt sie sich nicht vollständig erklären.

Entsprechend variantenreich ist die mit der künstlerischen Darstellung der Melancholie verbundene Ikonografie. Der vorliegende Band - er begleitet die Kunstausstellungen in den "Galeries nationales du Grand Palais" (Paris) und in der "Neuen Nationalgalerie" (Berlin) - ist Raymond Klibansky gewidmet, der 1964 zusammen mit Erwin Panofsky und Gustav Saxl eine meisterhafte Synthese der abendländischen Geschichte der Melancholie ("Saturn und Melancholie") vorgelegt hat.

Das opulent ausgestattete Buch mit Beiträgen von Yves Hersant, Alain Pasquier, Jean Starobinsky, Werner Spies und anderen bietet mit annähernd dreihundert Arbeiten - von der attischen Stele bis zu zeitgenössischen Werken, von den Meisterstichen Albrecht Dürers bis zur "Melancholia" Salvador Dalís - einen breit gefächerten Überblick der mannigfaltigen Erscheinungsbilder und belegt dabei die tiefe Prägung des europäischen Geniebegriffs durch die "Saturnische Krankheit".


Titelbild

Jean Clair (Hg.): Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst.
Hatje Cantz Verlag, Ostfilden-Ruit 2005.
512 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-10: 3775716475

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