Noch ein Groß-Lexikon des 19. Jahrhunderts

Herder Konversationslexikon digital

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warum braucht man noch ein digitales Lexikon von immensem Umfang? Sind nicht Meyers oder Pierer (vgl. literaturkritik.de 10/2005) völlig ausreichend? Die Berliner Fachleute für Digitalisierung haben dem Leser ein in der Reihe der großen Nachschlagwerke fehlendes Objekt zur Verfügung gestellt.

1801 gründete Bartholomä Herder (1777-1839) den gleichnamigen Verlag. Dieser gehörte im 19. Jahrhundert zu den renommiertesten Verlagsunternehmen für Nachschlagewerke. Zu den meist verbreiteten Lexika gehörten der "Pierer", der "Meyer", der "Brockhaus" und ebenso der hier vorgelegte "Herder" in fünf Bänden. Herders Conversationslexion war dabei vor allem als Konkurrenz zu dem kleinen Brockhaus konzipiert worden. Der fünfbändige Herder war dabei etwas umfangreicher, aber vor allem war es der Tenor der Beiträge, der den Unterschied ausmachte.

In Deutschland hatte man Anfang der Fünfzigerjahre des 19. Jahrhunderts eine Revolution hinter sich gebracht. Das Land war erschüttert und aufgewühlt, alte Grenzen hatten sich verschoben, Regeln hatten sich geändert. Nachdem die revolutionären Wogen geglättet waren, konnte man in ruhigere Gewässer steuern. Den ideologischen Hintergrund für die neue Restauration in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lieferte unter anderem dieses hier vorliegende und eher konservativ ausgerichtete Lexikon. Es stellte den Wissenspool für ein bildungsbürgerlich orientiertes Publikum bereit. Dabei füllte der Herder Verlag mit den konservativen Positionen im Nachschlagwerk eine Lücke - und stand damit in deutlichem Gegensatz zu den innovativeren und fortschrittlich-aufklärerischen Positionen der Lexika aus dem Meyer Verlag.

Die ideologischen und gesellschaftspolitischen Differenzen kann man leicht nachvollziehen, etwa indem man sich die Unterschiede anschaut, die in z. B. in den Artikeln zum Thema "Frauen" oder zur "Bildung" verzeichnet sind.

Im "Herder" heißt es: "Bildung bezeichnet im allgemeinen die Gestaltung eines Dinges nach bestimmten Umrissen; in geistiger Beziehung das Wissen, Empfinden, Wollen und Handeln eines Menschen, gemessen mit dem Maßstabe, den das Ideal eines Zeitalters in die Hand gibt. Die wahre Bildung müßte den Menschen in der vollen u. harmonischen Entfaltung aller seiner geistigen und gemüthlichen Kräfte darstellen u. wird daher nur annähernd auf dem christl. Wege erreicht. Neben dieser allgemein menschlichen B. geht die besondere, die Berufsbildung einher; unsere Zeit fehlt gewöhnlich dadurch, daß sie den Menschen zu spät für seinen Beruf heranbilden will und denselben zu lange nach andern Richtungen hin zu denken, zu fühlen und zu begehren veranlaßt, so daß er seinen Beruf als eine 'verfluchte Schuldigkeit' oder als 'Philisterei' anschaut u. je eher je lieber von demselben loskommen möchte. - Häufig versteht man auch unter B. die Kenntniß und Geübtheit der Formen, in welcher sich das vornehmere Leben bewegt."

Im Vergleich dazu schreibt das "Damen Conversations Lexikon":

"Bildung, im Allgemeinen, ist die Harmonie zwischen Geist und Gefühl im Worte, wie in der That. Gewöhnlich nimmt man Lebensart schon für Bildung, die doch nur ein Theil von dieser ist, die Beachtung nämlich des jederzeit Schicklichen und Nothwendigen. Auch Ausbildung ist nur ein Bestandtheil derselben; die Vervollkommnung seiner Kräfte in Bezug auf den gewählten Stand. Eine allgemeingiltige Bildung ist denkbar. Es ist gewöhnlich nichtssagend, wenn man Diesen oder Jenen einen gebildeten Menschen nennt. Mit der allgemeinen Bildung reichen wir im Leben nicht aus, wenn wir mit dem, was uns als moralischen Wesen überhaupt zukommt, nicht zugleich jene verbinden, die ich Ausbildung für den Beruf nannte. Auch das Weib hat sich für seinen Beruf zu bilden, womit schon gesagt ist, daß hier zwar allgemeine Grundsätze einer guten Erziehung, aber keine zum häuslichen Glücke hinreichende Bildung Statt finden könne. Denn, bildet sich das Mädchen für seinen Beruf, so ist das für die Ehe, oder, noch eigentlicher, für den bestimmten Gatten. Hieraus aber geht hervor, daß, bei der so großen Verschiedenheit männlicher Charaktere, auch die Ausbildung der Frauen verschieden sein müsse und daß von einer allgemeingiltigen schwerlich die Rede sein könne. Denn macht nicht der Gelehrte andere Forderungen an seine Gattin als der Gewerbsmann, andere der Soldat als der Landwirth? Kann es hierin also eine allgemeine Bildung geben? In diesem Sinne nicht, aber in einem andern. Es gehörte in das Gebiet der Unmöglichkeiten, alle denkbaren Charaktere des männlichen Geschlechtes und die aus ihnen hervorgehenden Wünsche und Forderungen aufzustellen, um denselben immer die einzeln entsprechende Ausbildung der Gattin gegenüber zu halten. Es genügt hierin Folgendes: Es kommt nicht darauf an, daß die Bildung der Gattin eine ausgedehnte sei, sondern vielmehr darauf, wie sie ihre Ausbildung der ihres Gatten anzupassen verstehe, damit sich jede Schärfe seines Geistes glätte am Polirsteine ihres Gemüthes; sonst ist ihre Erziehung nur eine Nebenstimme. Kenntniß des Mannes ist das wichtigste Gesetz der Ehe für Frauen. Ihr Gefühl mag sie hierin leiten. Im Gefühle liegt der Gesammtwerth des Weibes; gäbe es eine allgemeine Bildung der Gattinnen, so wäre es die des Gefühls. Sich also daraus eine wissenschaftliche Beschäftigung und Pflicht zu machen, sein Gefühl zu erziehen, d. h. zu läutern und zu veredeln, dasselbe von allen Schlacken der Kindheiteindrücke, dem Eigendünkel und besonders der Empfindelei, zu reinigen, mit Ansichten vom Leben, wie es ist, zu stärken, ist der Brennpunkt weiblicher Bildung; dahin müssen sich alle Strahlen der Naturgaben richten, wenn die Gattin die Flamme der Liebe als ein heiliges Feuer im Tempel ihrer häuslichen Seligkeit für immer erhalten will."

Und schon stellt sich die Frage, welches der Nachschlagwerke die konservativere Position vertritt. Dabei wird deutlich, dass auch die Informationen eines Nachschlagwerks immer nur relative Informationen sind, die im ideologischen und gesellschaftspolitischen Kontext zu betrachten sind und die auch immer die Meinung und den gesellschaftspolitischen Hintergrund der Herausgeber und Verleger widerspiegeln, die für das Werk verantwortlich sind. Dies unterscheidet die Informationsquellen des 19. Jahrhunderts nicht von denen des 21. Jahrhundert. Insofern sollte man sogar die angeblich konservative Ausrichtung eines Nachschlagewerks immer kritisch hinterfragen und überprüfen.

Zusammenfassend ist "Herders Conversations-Lexikon" für den Forschungsgegenstand 19. Jahrhundert ein unverzichtbares Werkzeug. Literatur-, Geschichts- und Kulturwissenschaftler werden hier ebenso fündig wie der Wissenschaftshistoriker. Bei der Informationsrecherche ist es immer sinnvoll, die verschiedenen "Schichten" von Informationen zu durchleuchten und diese dann miteinander zu vergleichen. Mit "Herders Conversations-Lexikon" im Neusatz und als Faksimile liegt wieder ein "digitaler Stein" im Informationsmosaik 19. Jahrhundert vor. Eine lohnenswerte Anschaffung.


Titelbild

Herders Conversations-Lexikon 1. Auflage 1854-1857. Neusatz und Faksimile. CD-ROM.
Directmedia Publishing, Berlin 2006.
90,00 EUR.
ISBN-10: 3898535339

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