Ferne Väter, leidende Kinder

Tanja Dückers' neuer Roman "Der längste Tag des Jahres" ist ein Spiel mit An- und Abwesenheiten

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichten von Kindern, die sich ihr Leben lang an den familiären Strukturen abarbeiten, ist nicht neu und wurde schon oft erzählt. Und die Klage über die vaterlose Gesellschaft und die abwesenden Väter ebenfalls. Doch das interessiert im neuen Roman der Berliner Autorin Tanja Dückers nur am Rand. Denn sie fächert das Thema 'Väter' mit dem Augenblick auf, in dem die Geschwister - im Roman sind es fünf - jeweils individuell vom Tod des Vaters erfahren. So verschieden wie die Figuren sind auch die Reaktionen auf die meist per Telefon überbrachte Nachricht: Bennie kifft und streicht einen Schrank fertig, Anna wird von ihrer Familie umarmt, Sylvie führt den Tagesplan einfach weiter, David schläft mit einer jungen Frau und Thomas, der Jüngste, erkennt, dass er das Leben, die Vision eines anderen lebt, nämlich die des nun verstorbenen Vaters.

Dabei ist die Vater-Figur Paul Kadereit nicht übermächtig, sondern vor seinem Tod ganz einfach anwesend. Er umgibt sich jedoch mit einer Zoohandlung, spezialisiert auf Wüstentiere, und träumt von Gegenden, die er nicht bereist, weil er Angst hat vor der Erfüllung des Versprechens, das seiner Passion inhärent ist. Er lebt die Fiktion seines Traums, der eigentliche Traum ist ihm aber nicht umsetzbar.

Echsen, Geckos, Leguane und Warane werden zu Substituten, zu Fetischobjekten für den Verlorenen. So sitzt Paul Kadereit stundenlang vor den Terrarien - rotes Licht, trockene Hitze umgeben ihn - und ist nicht ansprechbar. Es gelingt niemandem, den so gesehen Abwesenden einzuholen, die Lücke in der Familienstruktur zu schließen.

Hinter diesem Spiel mit Nähe und Ferne, An- und Abwesenheit steht die Sehnsucht des Vaters nach dem 1942 im Nordafrika-Krieg gestorbenen eigenen Vater, dem Großvater also (Paul Kadereit war damals ein Jahr alt). Die der Familie eingeschriebene Melancholie überträgt sich auf die Enkel-Generation, eine erfüllte Vaterrolle scheint nicht möglich, nicht lebbar. Den jüngsten Sohn Thomas treibt es schon früh in die Wüstenregionen der Welt und er schafft es trotz seiner Weltflucht, seinem Sohn Sami Vater zu sein. Doch er begreift erst spät die Blockade, das Trauma der Familie, das auch ihn bestimmt, indem er dort lebt, wo sich sein Vater immer hingeträumt hat: Das ist nicht selbst gewählt, sondern Familienerbe, lautet seine schmerzhafte Erkenntnis.

In den Gedanken und Rückblicken der fünf Kinder ersteht dieser seltsam abwesende Vater, werden seine Tiere, die Bienen, der Laden, der Honigverkauf Fluchtorte vor dem Schmerz, der Leere, der Sehnsucht. Was machen die Kinder aus dieser Leerstelle?

David lebt sich als Schauspieler aus, Anne ist Therapeutin, Sylvia versucht schlicht zu funktionieren, was ihr zunächst nur allzu gut gelingt, Thomas ist noch auf der Flucht und Bennie hat mehrere Jobs, weil ihm das '9 to 5'-Dasein so verhasst ist.

Wenig bürgerliche Entwürfe bestimmen also den Alltag einiger der Kinder, auch wenn der Vater es gern anders hätte: Ein typisches Generationenverhältnis also, wie es sich oft entwickelt, wenn Familien mit abwesenden Personen leben müssen. Die Auseinandersetzung läuft subtiler, diffuser, auf eine eher leise Art.

In dieser vertrackten Konstellation spielen die Frauen eine eher untergeordnete Rolle. So bleibt die Figur der Mutter blass, während die beiden Töchter sehr unterschiedlich gezeichnet sind. Sylvia übernimmt die Blockierung des Vaters, indem sie schon früh an Asthma erkrankt und daher nicht reisen kann, Anne hingegen sucht ihre Loslösung in einer eigenen Familie und in ihrem Beruf als Therapeutin.

Aber es kommt nicht zu Loslösungen, jedenfalls erfahren wir nichts davon, weil die Geschwister nur für diesen einen Tag begleitet werden. Rückblenden machen die Desiderate innerhalb der Familie plastisch. Nur Thomas wird länger skizziert, sein innerer Erkenntnisprozess steht symptomatisch für die letzte Auseinandersetzung mit einer Figur, deren Tod eine Leere schafft, die im Grunde auch vorher schon da war. Sie wird dichter und löst sich gleichzeitig auf, weil nun endlich das manifest geworden ist, was auch vorher schon Realität war: ein nicht erreichbarer Vater.

Der Autorin ist damit eine gut und sicher erzählte Geschichte gelungen, nur die Ausführungen über Sun People, Land Art und anderes nehmen im letzten Drittel des Romans dann doch etwas zu viel Raum ein.


Titelbild

Tanja Dückers: Der längste Tag des Jahres. Roman.
Aufbau Verlag, Berlin 2006.
213 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3351030681

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