Herzloser Noah

Geraldine McCaughrean erzählt von den Frauen, die in der biblischen Geschichte nicht vorkommen

Von Sarah WeissRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sarah Weiss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Ende der Welt ist schwere Arbeit, wenn man es überleben will. Als Noah seine Arche baute, tat er nur, was Gott ihm befahl. Doch Timna, die Tochter Noahs, erzählt uns, wie es wirklich war - das Ende der Welt. Sie erzählt von den Problemen und Schwierigkeiten, mit denen die "Auserwählten" zu kämpfen hatten - schonungslos ehrlich und zweifelnd.

Geraldine McCaughrean gewann mit diesem Roman den begehrten "Whitbread Award" für Kinderbücher 2004 - und der ist wohl verdient. Timnas Erzählung übt große Faszination aus - nicht nur auf Kinder, sondern auch auf den erwachsenen Leser. Dabei steht der Roman "Erwachsenenbüchern", die das gleiche Thema behandeln, wie "Boating for Beginners" von Janet Winterson oder "A History of the World in 10 1/2 Chapters" von Julian Barnes in nichts nach.

Timna ist zwar erst 14, aber dennoch versteht sie sehr viel von dem, was um sie herum vorgeht. Sie weiß genau, dass sie in der Bibel keine Rolle spielen wird; dass kommende Generationen sich nicht mehr an die Frauen auf der Arche, sondern nur an Noah und seine drei Söhne erinnern werden. Und das erklärt natürlich auch, weshalb der Leser bisher noch nichts von Timna gehört hat. Doch Timna beginnt zu zweifeln: ist es wirklich richtig, all die anderen Menschen ertrinken zu lassen? Gibt es denn kein Mitgefühl für unsere Mitmenschen? Sie und ihr jüngster Brüder Jafet retten einen kleinen Jungen und dessen neugeborene Schwester vor dem Ertrinken. Aber ihr Vater hat ihr eingebläut, dass alle anderen Menschen böse oder von Dämonen besessen sind - kann es sein, dass auch der kleine Kittim ein Damön ist, der ihr Schiff zum Kentern bringen will? Oder hat Gott vorher bestimmt, dass all dies passieren wird?

Diese "alternative" Geschichte der Arche Noah wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Hier kommen die zu Wort, die in der Bibel nicht einmal einen Namen erhalten haben; diejenigen, deren Stimme bislang keiner kannte. Timna erzählt den größten Teil der Geschichte; doch auch die Tiere, die Ehefrauen der Söhne Noahs und seine Frau kommen zu Wort. Jeder berichtet, was er auf der Arche erlebt - und so tun sich Abgründe auf. So manches Tierweibchen fragt sich, ob die Menschen nicht einen Partner für sie ausgewählt haben, der gar nicht zu seiner Rasse gehört. Die Löwen hoffen auf ein gutes Festmahl, wo doch die Beutetiere so nah sind. Und selbst Noahs Frau zweifelt manchmal, ob nicht die Strenge, mit der Noah seine von Gott erhaltenen Befehle umsetzt, ein wenig zu hart ist. Einfach war es nicht auf der Arche.

Am meisten grämt Timna, dass sie den anderen, ertrinkenden Menschen nicht helfen darf, sondern diese offenen Auges in den Tod schicken muss. Und so ist es keine Überraschung, dass sie sich abgrenzt, um unter anderen Voraussetzungen und unter Einbezug des Mitgefühls und der Liebe, die uns ja menschlich machen, einen eigenen Weg geht.

Schonungslos offen betrachten die "Außenseiter" der Bibel die Geschichte der Arche Noah - denn es war keineswegs einfach, die Flut zu überleben. Ganz schön hart und grausam möchte man sagen - aber die Hoffnung auf eine bessere Welt bleibt. Und die Menschlichkeit Timnas erhellt die triste Flut-Wirklichkeit.

Kritisch hinterfragt die Autorin die strikte (ja fast fanatische) Religionstreue Noahs und seiner Söhne. Ohne die von Gott erhaltenen Befehle zu problematisieren, führen sie alles aus, was Gott ihnen eingibt - koste es, was es wolle. Selbst den Tod der eigenen Schwester würden sie in Kauf nehmen. Dass sie selbst damit unmenschlich handeln, wird ihnen nicht bewusst. Gleichzeitig zeigt uns Geraldine McCaughrean, wie der biblische Mythos die raue "Wirklichkeit" verschleiert. Was bleibt in der Bibelgeschichte, sind die heroischen Männer, die Gottes Befehl erfüllen, um eine bessere Welt zu erschaffen. Opfer, Probleme, Tragödien bleiben außen vor.

Auch die patriarchalische Struktur der biblischen Gesellschaft wird hinterfragt. Gott befiehlt Noah; Noah seiner Familie. Die Macht liegt bei den Männern. Eigentlich aber sind es zumindest gegen Ende, die Frauen, die die Fäden in der Hand haben - wenn auch die Männer nicht viel davon mitbekommen.

Lediglich das letzte Kapitel hätte die Autorin sich sparen können - der Blick des allwissenden Erzählers auf die "neue Welt" - die zwei auf entgegen gesetzten Prinzipien beruhenden Zivilisationen, der uns wohl nahe legen soll, welches die bessere ist. Wir hätten es auch so verstanden! Dennoch ein unbedingt lesenswerter Roman für Kinder wie für Erwachsene.


Titelbild

Geraldine McCaughrean: Nicht das Ende der Welt. Ein Arche-Noah-Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Stephanie Menge.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
199 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3312009596

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