Langsam ging der Fußball am Himmel auf

Andreas von Seggern beleuchtet die literarische Seite des Spiels mit dem Ball

Von Eva-Christina GlaserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva-Christina Glaser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Literatur und Fußball - eine Verbindung, die auf den ersten Blick unpassend erscheint, die so furchtbar exotisch aber längst nicht mehr ist. Wo Marcel Reich-Ranicki noch von "zwei feindlichen Brüdern" sprach, lassen sich gerade in Zeiten der bevorstehenden Fußballweltmeisterschaft unzählige Beispiele nennen, durch welche die vermeintliche Feindschaft zweier ursprünglich so unterschiedlicher Milieus vergessen scheint. Längst sind wir über die von Günter Grass einstmals beschriebene Phase hinweg, in der sich der Fußball nur gemächlich am Himmel erhob. Dieser Tage leuchtet der Ball in Deutschland so hell, dass sich kaum jemand seinen Strahlen entziehen kann - auch und erst recht nicht der Literaturmarkt.

Dass wir es beim Spiel mit dem Ball ohnehin schon lange nicht mehr mit einem Sport fürs "niedere Volk" zu tun haben, sondern dass der Fußball längst auch Intellektuellen - und denen, die es sein wollen - eine beliebte Möglichkeit zur Zerstreuung liefert, steht außer Frage. Fußball ist heutzutage gesellschaftsfähig. Das zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass selbst das Goethe-Institut anlässlich der WM auf den Siegeszug des Fußballs aufgesprungen ist: Mit dem eigens herausgebrachten Gäste- und Sprachführer "Am Ball mit Goethe" sollen der Welt - wenn diese denn dann "Zu Gast bei Freunden" ist - neben geografischer und verkehrstechnischer Orientierung auch ein "fußballrelevanter Wortschatz" sowie ein kulturelles Programm rund um Deutschlands kapitalsten Dichter und Denker vermittelt werden. Zur Einstimmung auf das fußballerische Großereignis haben zudem bereits im Sommer vergangenen Jahres die großen deutschen Literaturhäuser zum Dichten aufgerufen. "Poesie in die Stadt" lautete das Motto einer Plakataktion, bei der namhafte Autoren wie Robert Gernhardt, Urs Widmer und Elfriede Jelinek ihre Gedanken zum Sport mit dem "runden Leder" in Verse packten.

Dominierend ist bei der Allianz von Fußball und Literatur jedoch selbstredend noch immer der Kommerz, und Werke wie Christoph Biermanns Bestseller "Fast alles über Fußball" (2005) oder das umstrittene "Fußball unser" (2005) der "Süddeutschen Zeitung" überhaupt als Literatur im engeren Sinne zu bezeichnen, könnte für Schöngeister leicht als Sakrileg betrachtet werden. Anders verhält es sich da schon mit Nick Hornbys Kultbuch "Fever Pitch - Ballfieber" (2002), Erich Loests vor kurzem neu aufgelegtem Werk "Der Mörder saß im Wembley-Stadion" (1967) oder Peter Handkes etwas in die Jahre gekommenem Buch mit dem widersinnigen Titel "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter" (1970), um nur wenige Beispiele zu nennen. Handelt es sich hier doch zumindest um mehr oder minder gelungene Romanformen und nicht bloß sinnlos-absurde Anhäufungen von Zahlen, Fakten und Anekdoten.

Doch wie steht es nun eigentlich wirklich mit der "echten", der "anspruchsvollen" Literatur und dem Fußballspiel, dessen rudimentäre Vorformen immerhin bis ins vorchristliche China zurückreichen und dem sogar William Shakespeare Tribut zollte, indem er fragte: "Bin ich so rund mit euch, als ihr mit mir, dass ihr mich wie 'nen Fußball schlagt und stoßt?". Anlässlich der Europameisterschaft vor zwei Jahren in Portugal haben sich etwa Michael Dobstadt und Nadja Nitsche einmal mit dem Reiz dieses Zusammenstoßes "zwischen hoch und niedrig, zwischen U und E", wie sie in der Paarung Literatur und Fußball zutage tritt, auseinandergesetzt. Das Ergebnis: "Fußball ist literaturfähig. [...] Da geht noch was."

Dieser Meinung ist auch Andreas von Seggern. In seinem kurzweiligen Essay "Ins Abseits dichten? Fußball literarisch" lässt er auf amüsant-unterhaltsame Weise die Höhen und Tiefen der in der deutschen Literaturlandschaft durchaus mannigfach auftretenden "ästhetischen Belege" des Ballsports "Paroli laufen" und schließt seine Betrachtungen mit der Erkenntnis ab, dass in der Tat diejenigen Autoren "im Abseits" stehen, "die weiterhin in distinguierter Entrücktheit ihre Ressentiments gegenüber dem als Proletensport diskreditierten Spiel pflegen".

Was von Seggerns Schrift für den Leser attraktiv macht, ist vor allem die Tatsache, dass der Autor sich nicht auf eine stupide Aneinanderreihung literarischer Fußball-Zitate beschränkt, sondern die Literaturbelege in den historischen Rahmen ihrer Entstehung einbettet. So werden von den Anfängen des modernen Fußballsports bis in die Gegenwart hinein die kausalen Zusammenhänge zwischen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und den Entwicklungen in der Welt des Fußballs deutlich. Im Zuge dessen erfahren wir etwa, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Konkurrenz des DFB zur deutsch-nationalen Turnbewegung gesinnungspatriotische Vereinsnamen wie Borussia, Germania und Alemannia hervorbrachte, wie der Erste Weltkrieg dem deutschen Fußball den Durchbruch zum Massenphänomen bescherte und weshalb im fußballerischen Sprachjargon noch heute von "Angriff", "Sturm" und "Verteidigung" die Rede ist.

Zu Wort kommen dabei nicht nur Fußball-Freunde wie Ödön von Horváth, Franz Kafka, Ror Wolf und Eckhard Henscheid, sondern auch Kritiker und Spötter, wobei jeweils ganz unterschiedliche Facetten des Ballsports in den Vordergrund rücken. Mal ist es die "ideologische Massenwirkung", die den "von Hitler wenig geschätzten Mannschaftssport" an den Pranger stellt, ein anderes Mal wird die "erzieherische Aufgabe" eben dieses Sports gerühmt. Hier wird die Kugelform des Spielgeräts zum Symbol stilisiert, dort erscheint der Fußball als "'mental map' des Ortes der eigenen Adoleszenz".

Ganz gleich aber, welche tiefere Bedeutung man dem "Gesamtkunstwerk" Fußball zumessen möchte, von Seggerns Essay zeigt in jedem Fall einmal mehr, dass der erinnerungskulturelle Wert der Literatur nicht hoch genug eingeschätzt werden kann - auch und sogar in einem scheinbar trivialen Bereich wie dem Fußball. Und da der Autor nach seiner ausgiebigen Beschäftigung mit der "ballorientierten Prosa" festzuhalten weiß, dass "gerade dem Bekenntnis zur bedingungslosen Leidenschaft für den weltweit populärsten Sport [...] stets die eindringlichsten literarischen Zeugnisse" entsprungen sind, gibt eine Zeit wie die unsrige, in welcher der Fußballmond verheißungsvoll über Deutschland prangt, am Ende vielleicht nicht nur ökonomisch, sondern auch literarisch Grund zur Hoffnung. Denn: Ein deutscher "Fußballroman von Rang" steht laut von Seggern noch aus.


Titelbild

Andreas von Seggern: Ins Abseits dichten? Fußball literarisch.
Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold.
Wallstein Verlag, Göttingen 2006.
30 Seiten, 9,50 EUR.
ISBN-10: 3835300342

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