Bürgerliche Tüchtigkeit und frommer Eigensinn

Der Pietismus in Basel als Thema einer historischen Studie

Von Ruth AlbrechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ruth Albrecht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Stadt Basel wird mit Blick auf das 19. Jahrhundert gelegentlich mit dem Epitheton "fromm" versehen - diese Benennung bezieht sich in der Regel jedoch nur auf einen spezifischen Ausschnitt der Stadtgeschichte. Die Historikerin Erika Hebeisen beleuchtet Ereignisse aus den Jahren zwischen 1750 und 1830, die aufzeigen, auf welche Weise sich Pietismus und Bürgertum miteinander verschränkten, so dass ein besonderes Profil entstand, das sich für vergleichbare andere Städte bisher nicht nachweisen lässt.

Die von der Universität Basel angenommene Dissertation nimmt teilweise Quellen in den Blick, die sowohl von der historischen als auch von der kirchengeschichtlichen Forschung zwar beachtet, aber nur eindimensional ausgewertet wurden. Darüber hinaus bezieht diese Studie eine Fülle von Material ein, das in der Vergangenheit weder für theologische noch für stadtgeschichtliche Rekonstruktionen als relevant galt. Durch ihren multiperspektivischen Ansatz gelingt es der Verfasserin dieser Studie, leidenschaftliche Frömmigkeit als konstitutives Element für einflussreiche Figuren des Basler Bürgertums zu erweisen. Die Geschichte der pietistischen Bewegung im Basel des 18. und 19. Jahrhunderts verfolgt Hebeisen, indem sie als roten Faden zwei Familiengeschichten über mehrere Generationen nachgeht, wobei die sozialen, geschlechterspezifischen und kirchlichen Veränderungen einprägsam verdeutlicht werden. Weibliche und männliche Mitglieder der Fabrikantenfamilie Brenner und der Pfarrersfamilie Burckhardt erscheinen als Protagonistinnen und Protagonisten eines Pietismus, der als religiöser Impuls in sehr unterschiedlichen Verhaltensweisen Gestalt gewann.

Hebeisens Arbeit zeichnet sich dadurch aus, dass sie "gewöhnliche Fromme" in den Mittelpunkt rückt, denen keine überregionale Bekanntheit zukam. Die Verfasserin untersucht die "Vergesellschaftung der pietistischen Bewegung in Basel". Ihr geht es ausdrücklich nicht darum, pietistische Ideen zu analysieren, sondern um die Aneignung pietistischer Religiosität durch Frauen und Männer, die zur Bürgerschaft Basels gehörten oder sich zeitweise dort ansiedelten. Ihre Leitfrage lautet: "In welchen sozialen Beziehungen, unter welchen Lebensumständen und aufgrund welcher Ereignisse eigneten sich Männer und Frauen pietistische Religiosität praktisch an?"

Auch wenn eine gewisse Absonderung von der Umgebung zu den integralen Bestandteilen des pietistischen Selbstverständnisses gehörte, so darf diese Einschätzung nicht dazu führen, wie bisweilen in der älteren Forschung geschehen, diese Abspaltung historiografisch nachzuvollziehen. Hebeisen unterstreicht als Ausgangspunkt ihrer Forschungsperspektive, dass die pietistische Bewegung in die gesellschaftlichen Entwicklungen ihrer Zeit involviert war und insofern auch als Teil dieser Gesellschaft rekonstruiert werden muss. Die kirchengeschichtlich orientierte Pietismusforschung hat sich neben der Erläuterung der theologischen Grundideen vor allem den prominenten Vertretern zugewandt und anhand dieser beiden Größen gemeint, den Pietismus als Ganzes zu erfassen. Die Verfasserin dieser historischen Studie hebt darauf ab, dass es nicht ausreiche, "pietistische Religiosität (...) bloß als eine gegebene Weltsicht zu analysieren, vielmehr müssen auch die Prozesse ihrer soziokulturellen Herstellung untersucht werden."

Bei diesem Perspektivwechsel werden die als Pietisten aktiven Männer und Frauen als Akteurinnen und Akteure wahrgenommen, die Traditionsgut übernehmen und es gleichzeitig durch den Akt ihrer Aneignung auch neu gestalten. Neben diesem "akteurzentrierten Konzept von Pietismus" zeichnet sich die Herangehensweise Hebeisens durch einen "geschlechtergeschichtlichen Zugriff" auf, der bei allen Analyseschritten reflektiert, wie die einzelnen Ergebnisse jeweils auf die Kategorie Geschlecht zu beziehen sind.

"In Bewegung: Religiosität praktizieren und produzieren" - unter diesem Motto verfolgt das zweite Kapitel der vorliegenden Studie den öffentlich ausgetragenen Konflikt um separatistische Formen pietistischer Orientierung. Von 1750 an reagierte die Basler Obrigkeit mit strafrechtlichen Maßnahmen auf religiös begründete Verhaltensweisen, die aus Sicht der reformierten kirchlichen Tradition und aus Sicht der politischen Ordnung als abweichend und damit als gefährlich betrachtet wurden. Das von Hebeisen herangezogene Quellenmaterial besteht vornehmlich aus Verhören und Berichten, die im Zuge der "Separatistenprozesse" entstanden. Die im Dezember 1750 an Jean Mainfait vollzogene Prangerstrafe ruft Solidaritätsbekundungen von Basler Pietisten und Pietistinnen hervor, als deren gemeinsame Kennzeichen u. a. die Distanzierung vom öffentlichen Gottesdienst, selbst vollzogene Beerdigungen ohne kirchliche Rituale und Orientierung an urchristlichen Idealen gelten können.

"Bei den demonstrativen Solidaritätsbekundungen für Mainfait hatten sich zwölf Pietistinnen und Pietisten um den Pranger versammelt. Sie traten erstmals in politischer Absicht auf. Sie demonstrierten für das Recht, ihre pietistische Religiosität zu praktizieren, und zwar auch öffentlich in dieser Stadt." Diese Personen stellen nur einen Teil der pietistischen Bewegung dar, der eine große soziale Bandbreite aufweist, allerdings mit geschlechtsspezifischen Unterschieden. Diejenigen Pietisten, die sich öffentlich exponiert hatten, wurden Verhören unterzogen, wobei hier mit Frauen anders verfahren wurde als mit Männern. Den beteiligten Frauen wurde die Möglichkeit nahegelegt, sich in ihre Familien zurückzuziehen und so aus den Konfliktfeldern zu verschwinden; die Männer hingegen erhielten Bestrafungen wie Gefangensetzung oder Verbannung. Hebeisen zeichnet nach, wie einige Mitglieder der Brenner-Familie ihre pietistische Religiosität aus der separatistischen Phase in gemäßigtere Formen überleiteten, die mit dem Lebenskonzept des Basler Bürgertums vereinbar waren. Hierbei spielen Gruppierungen wie die Herrnhuter sowie die Christentumsgesellschaft eine entscheidende Rolle.

Unter der Kapitelüberschrift "Zwischen Generationen: Religiosität formen und aneignen" entfaltet die Verfasserin das Verhaltens- und Glaubensspektrum von Mitgliedern der Familie Burckhardt, die den Pietismus nur in seiner gesellschaftlich gut integrierbaren Form kennen lernten. Die inzwischen vereinsartig ausgebauten Strukturen des pietistischen Milieus boten Männern und Frauen unterschiedliche Möglichkeiten des Engagements. Der lokale Zweig der Herrnhuter Brüdergemeine, die Basler Brüdersozietät, besaß für Frauen, und auch für weibliche Mitglieder der Familie Burckhardt, eine stärkere Anziehungskraft als die Christentumsgesellschaft. Diese bot den Männern die bessere Möglichkeit, bürgerlichen Einfluss und Frömmigkeit zu verknüpfen. Die Lebensverläufe der 16 Kinder der Pfarrersfamilie Burckhardt, die gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihre pietistische Prägung durch das Elternhaus erfuhren, belegen sowohl die jeweiligen persönlichen Eigenheiten als auch geschlechtertypische Erfahrungsmuster. "Grundsätzlich widersprachen sich aber pietistische und bürgerliche Erziehungsideale für Mädchen im jugendlichen Alter kaum. Sie teilten vielmehr zentrale Werte wie Demut, Hingabe, Geduld und Fürsorglichkeit. Im Gegensatz zu dieser harmonischen Überlagerung von Bürgerlichkeit, Weiblichkeit und pietistischer Religiosität scheint für die Burckhardt-Söhne das Zusammenspiel von Bürgerlichkeit, Männlichkeit und pietistischer Religiosität gerade während ihrer Jugend problematisch gewesen zu sein. Handlungsspielräume, die sie sich in der bürgerlichen Welt außerhalb der Familie eröffneten, stellten die pietistische Sozialisation in ihrer Kindheit in Frage." Bei einigen dieser Kinder bleibt die pietistische Orientierung lebenslang Merkmal der Biografiegestaltung, bei anderen, wie etwa Lukas Burckhardt, wird diese vertauscht gegen ein revolutionäres politisches Engagement. Diese unterschiedlichen Ausrichtungen stellen jedoch die "bürgerlichen Familienbande" nicht in Frage.

Kapitel IV resümiert die Ergebnisse dieser Studie unter dem Aspekt der Modernität der pietistischen Bewegung. Generell waren pietistische Praktiken, wie sie mit Blick auf den historisch spezifischen Kontext in der Region Basel während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gepflegt und ausgebildet wurden, keineswegs einfach vor-modern. Im Gegenteil: "Weil es den Basler Pietistinnen und Pietisten immer darum ging, ihren Status als Auserwählte unter Beweis zu stellen und ihre Zeitgenossinnen und Zeitgenossen von ihrer Weltsicht zu überzeugen, nutzten und entwickelten diese laufend zeitgenössische Kommunikationsformen und Vergesellschaftungsstrategien."

Erika Hebeisens Buch über die pietistische Bewegung in Basel führt klug und anschaulich in Geschehnisse des 18. und 19. Jahrhunderts ein, die nur als skurril gelten könnten, wenn sie nicht historisch entschlüsselt und gedeutet würden. Das gelingt der Verfasserin vor allem durch eine nachvollziehbare Auswertung des Quellenmaterials. Zum Programm Hebeisens gehört es, die Pietismusforschung "aus der kirchengeschichtlichen Umklammerung" zu lösen. Obzwar selber Kirchenhistorikerin, kann die Rezensenten diesem Anliegen grundsätzlich zustimmen; dennoch bleiben einige Facetten zu unbestimmt. Pietistische Frömmigkeit und Handlungsweisen orientieren sich in der Regel an religiösen Überzeugungen, die in einer Traditionskette weitergegeben und dabei auch verändert werden. Vor allem in Kapitel II dieser Studie begegnen oft die Begriffe "radikalpietistisch" und "separatistisch". Hier spiegelt sich eine gewisse Unschärfe, die Hebeisen mit ihrer Definition von radikal vorprogrammiert. Sie versteht unter diesem Terminus "nicht allein die praktische Distanz zur Kirche, sondern genereller die Intensität und Qualität der Übersetzung von pietistischer Religiosität in Praktiken".

Wenn die ideengeschichtliche und theologische Füllung des Phänomens Pietismus zu weit beiseite geschoben wird, dann kann nicht präzise genug markiert werden, was pietistische Frömmigkeit von anderen religiösen Orientierungen unterscheidet. Diese Bemerkungen sind jedoch nicht als ein Plädoyer für ein Zurück zur kirchengeschichtlichen Umklammerung zu verstehen, sondern als die Hoffnung auf ein gemeinsames Suchen und Weiterarbeiten.


Titelbild

Erika Hebelsen: Leidenschaftlich fromm. Die pietistische Bewegung in Basel 1750-1930.
Böhlau Verlag, Köln 2005.
334 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3412143057

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