Verstehen, entfernt

Ein Kommentarband kon-textualisiert Paul Celans "Sprachgitter"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einem Gespräch mit Hugo Huppert verweist Paul Celan mit Nachdruck auf die schwere Zugänglichkeit, den Eindruck der Verrätselung zumal seiner späteren Gedichte, die gleichzeitig jedoch auch erahnen lässt, dass diesen Texten eine Verstörung des Autors eingeschrieben ist: "Ich stehe auf einer anderen Raum- und Zeitebene als mein Leser; er kann mich nur 'entfernt' verstehen, er kann mich nicht in den Griff bekommen, immer greift er nur die Gitterstäbe zwischen uns".

Weshalb erlauben Celans Texte nur ein 'entferntes' Verstehen, warum errichtet der Autor "Gitterstäbe", ein Sprach-Gitter zwischen sich und seinen Lesern? Ist Verstehen damit ad absurdum geführt, wie der nicht enden wollende Rekurs auf eine undurchdringliche 'Hermetik' der Gedichte Celans suggeriert? In fast schon erschreckender Weise wird bei der Interpretation dieser Texte nach wie vor der Umstand missachtet, dass sie sowohl von biografischen und historischen Realien als auch von Literatur verschiedenster Provenienz imprägniert sind. Denn nicht nur die individuelle Lebensgeschichte Celans, sondern auch seine Texte sind durchsetzt von den traumatischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, kulminierend im Massenmord an den europäischen Juden. Ohne diesen Kon-Text kann und darf Celan nicht gelesen werden.

Doch wie ist in der Lektüre und im Kommentar der Autonomie des Textes, der autonomen Textrealität gerecht zu werden und zugleich den präzisen Bezügen zu jenen historischen und intertextuellen Realien, auf die er sich bezieht? Auf diese zentrale Frage der Celan-Forschung hat jüngst erneut Jean Bollack eine ebenso einfache wie prägnante Antwort gegeben: Die so genannte Hermetik der Texte kann und muss zum einen in der Immanenz ihrer sprachlichen Bezüge und zum anderen in der Restitution verstanden werden, die der Kon-Text im sprachlichen Medium des Textes erfährt.

Diese Überlegungen greift ein Kommentarband zu Paul Celans 1959 erschienenem Gedichtzyklus "Sprachgitter" auf, der ebendiese Kon-Texte vermitteln will, indem er auf die für die Entstehung der Texte relevanten Personen, Daten, Orte und Texte verweist, ferner mit den dichterischen Verfahren Celans vertraut macht, "mit deren Hilfe die Kontexte in eine spezifische, Erinnerung, Sprachreflexion und Sprachschöpfung verbindende dichterische Wirklichkeit transformiert werden". Darüber hinaus gibt er Hinweise auf die besondere Komplexität von Strukturen, auf die thematische Vielschichtigkeit und auf den Beziehungsreichtum der Texte. Jürgen Lehmann, Herausgeber dieses Bands, verweist in seinem Vorwort auf die "Notwendigkeit der Kommentierung", die sich "nicht nur aus der besonderen Verfaßtheit der Texte, sondern auch aus einem spezifischen Profil des 20. Jahrhunderts [ergibt], eines Jahrhunderts, das in vielfältiger Weise von Brüchen und Katastrophen geprägt ist. Es sind Katastrophen, die das Bewußtsein einer historischen Kontinuität, einer kulturellen Identität von einem Tag zum anderen vernichten können, Katastrophen, die alle bislang geltenden Gesetzmäßigkeiten und Verbindlichkeiten in Sprache und Literatur dementieren". Celans Werk, darüber dürfte Konsens bestehen, artikuliert wie kaum ein zweites diese Vernichtungen, die sich gleichsam auch in die Texte eingeschrieben haben, sowohl in ihre sprachliche Struktur als auch in ihre inhaltliche Aussage, wobei beides kaum voneinander zu trennen ist. Nicht zuletzt aus diesem Grund sind sie hochgradig kommentierungsbedürftig.

Die Erfahrung der Vernichtung bestimmt Celans Schreibgegenwarten von den frühen Gedichtbänden an; sie führt zu einem bis dahin unbekannten In-Frage-Stellen der deutschen Sprache und Literatur. Exemplarisch lässt sich dies an seinem dritten Gedichtband "Sprachgitter" beobachten, der in viel höherem Maße als die beiden Vorläufer-Bände ("Mohn und Gedächtnis", "Von Schwelle zu Schwelle") aufgrund einer neuen, erstmals konsequent realisierten Sprach- und Dichtungskonzeption, wie sie in erster Linie im "Meridian" Gestalt annahm, zu Unverständnis, Irritationen und offener Ablehnung geführt hat. Ingeborg Bachmann hat Celans Par-Odie auf die schönen Daktylen, den betörenden Wohllaut und die berückenden 'traumhaften' Bilder der frühen Texte beobachtet und in ihrer letzten Frankfurter Poetik-Vorlesung vom 24. Februar 1960 treffend kommentiert: "Die Metaphern sind völlig verschwunden, die Worte haben jede Verkleidung, Verhüllung abgelegt, kein Wort fliegt mehr einem anderen zu, berauscht ein anderes. Nach einer schmerzlichen Wendung, einer äußerst harten Überprüfung der Bezüge von Wort und Welt, kommt es zu neuen Definitionen".

Vor allem am letzten Text des Bands, dem bereits von Peter Szondi ausführlich gewürdigten Langgedicht "Engführung", lässt sich erkennen, wie das gewohnte Verfahren der Literatur, Erklärungen, Deutungen und Abbilder zu produzieren, verworfen wird: "Lies nicht mehr - schau! / Schau nicht mehr - geh!" heißt es gleich zu Beginn programmatisch, womit sich die poetologische Grundfrage verknüpft, welche Art des Erinnerns angemessen sei, wenn es um derartige Handlungen des Menschen geht, die Menschlichkeit widerrufen.

Mit dem Rekurs auf die Deportation und Vernichtung der Juden - "Verbracht ins / Gelände / mit der untrüglichen Spur" wird der 'reinen' Kunst, der 'l'art pour l'art' eine deutliche Absage erteilt. Da Dichtung für Celan weder Mimesis und Repräsentation noch ebenjene 'reine' Kunst ist, bleibt nur die Option einer behutsamen Aufnahme der Spur des Schrecklichen und eines fühlenden Mitvollzugs: "Zum / Aug geh, zum feuchten". "Engführung" verdeutlicht Celans neue Vorstellung einer über die historischen Realien nicht verfügenden Redeweise, die ein Übersetzen des Unfasslichen in den eigenen Verstehenshorizont, und damit die Ent-Eignung dieses 'Anderen' ausschließt. Vielmehr ist an mehreren Stellen zu beobachten, wie sich Traumata in Schrift verwandelt, verbunden mit dem Postulat einer neuen, einer 'graueren Sprache', "poetologisch", wie Jürgen Lehmann bemerkt, "als eine mit dieser Konzeption verbundene grundlegende Reflexion über Formen und Funktionen einer zwischen Schweigen und Sprechen angesiedelten, im Bild des Sprachgitters vorgestellten Dichtung, thematisch als eine Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte". Das In-Einander-Verschränkt-Sein von Wort und Wunde, Körper und Sprache ist Celans Antwort auf die Vernichtung des europäischen Judentums, die für ihn eine geschichtliche Zäsur markiert, die kulturelle, literarische und sprachliche Kontinuität grundsätzlich negiert. Die einzelnen Beiträger des Kommentarbands weisen völlig zurecht darauf hin, dass "Sprachgitter" in der deutschsprachigen Literatur nach 1945 den ersten Versuch markiert, diese Zäsur konsequent literarisch zu gestalten.

Celans Versuche, das eigentlich nicht Sagbare doch zur Sprache zu bringen, sind nach Meinung Lehmanns als "dreifache Bilanzierung" lesbar: als Auseinandersetzung mit den Belastungen, die die deutsche Sprache während der nationalsozialistischen Terrorherrschaft erfahren musste, als kritische Musterung auch der bisherigen eigenen Versuche (etwa in der "Todesfuge"), der historischen Last der Shoah in den Texten eine Struktur und sinnliche wahrnehmbare Gestalt zu verleihen und schließlich auch als Bezug auf die zum Verstummen gebrachten "Stimmen" der ermordeten Juden. Hierauf basierend konzipiert Celan in "Sprachgitter" die Dichtung als eine - wie es in der Rede zur Entgegennahme des Bremer Literaturpreises heißt - "Erscheinungsform der Sprache", die das Verstummen überwindet, die das Schweigen hör- und sichtbar sowie die Verwundungen und Traumata als Ein-Schrift in die Textur der Gedichte lesbar macht. Jürgen Lehmann unterstreicht, dass "[d]er Übergang von einer notwendig zum Verstummen gebrachten Sprache zu einem wieder Hörbaren, zu einem spezifischen, individuellen Lautlichen, zur Stimme [...] die zentrale Form des Totengedenkens in Sprachgitter [ist]". Es darf als großes Verdienst dieses Kommentarbands gewertet werden, zwei zentrale Probleme der Celan-Forschung nicht aus den Augen verloren zu haben: das Problem der vermeintlichen Unverständlichkeit wird weder statuiert noch banalisiert, sondern problematisiert und diskutiert; auch das von Jean Bollack konstatierte Prinzip der semantischen Neubesetzung des Wortmaterials in den Texten Celans wird nicht nur nicht übergangen, sondern sowohl in der brillanten Einführung Jürgen Lehmanns als auch in den Einzelkommentierungen kenntnisreich ergründet und entfaltet. Die Vorzüglichkeit des vorliegenden Kommentarbands provoziert fast zwangsläufig den Ruf nach möglichst rasch zu realisierenden Folgepublikationen, damit die Entfernung zum 'Verstehen', wenn auch nicht zum 'Begreifen' oder 'Ergreifen', ein wenig geringer wird.


Titelbild

Jürgen Lehmann (Hg.): Kommentar zu Paul Celans "Sprachgitter".
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2005.
558 Seiten, 56,00 EUR.
ISBN-10: 382535136X

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