An der Schwelle zwischen Realität und Fiktion

Pünktlich zum Jubiläum sind zwei Monografien zu Wolfgang Koeppen erschienen

Von Evelyne von BeymeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Evelyne von Beyme

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Noch heute ist der Name Wolfgang Koeppen vielen Literaturinteressierten eher unbekannt, wird seine außergewöhnliche literarische Leistung als Romancier an den Universitäten zu wenig gewürdigt.

Koeppens literarischer Ruhm gründet sich vor allem auf seine Anfang der 50er-Jahre erschienene Romantrilogie "Tauben im Gras" (1951), "Das Treibhaus" (1953) und "Tod in Rom" (1954). Insbesondere der Roman "Tauben im Gras" zeichnet sich durch eine simultane Kompositionstechnik aus, welche die Anwendung von Montage und innerem Monolog forcierte und mittels Einbau mythologischer Zitate sowie einer ungewöhnlichen Interpunktionsweise besonderes Aufsehen erregte. Fulminant war zugleich die zeitliche Reduktion der Handlung auf zwei Tage in einer Großstadt, die aus den parallel zueinander verhandelten Schicksalen verschiedener Figuren das Leben in der Nachkriegszeit reflektierte.

Wolfgang Koeppen kam am 23. Juni 1906 unehelich in Greifswald zur Welt und wuchs bei seiner Mutter und seinem Onkel Theodor Wille auf. Er verbrachte einen Großteil seiner Kindheit und Jugend im ehemaligen Ortelsburg in Masuren. Schon auf dem Gymnasium beginnt er mit dem Schreiben erster Essays und Erzählungen. Bis in die 20er-Jahre betätigte sich Koeppen in so unterschiedlichen Arbeiten wie Schiffskoch, Schauspieler, Platzanweiser im Kino oder Eismann. Anfang der 30er-Jahre bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten verfasst er Artikel für den "Berliner Börsen-Courier". Kurze Zeit später entsteht Koeppens erster Roman "Eine unglückliche Liebe", der auf ein positives Echo trifft. Neben seinem von den ideologisch beeinflussten Kritikern verfemten zweiten Roman "Die Mauer schwankt" (1935) beginnt Koeppen in dieser Zeit mit dem Schreiben erster Filmexposés und der Mitarbeit an Drehbüchern.

Auf seine Romantrilogie in der Nachkriegszeit folgt die Publikationsphase von Reisebüchern wie "Nach Russland und anderswohin" (1958), die bis in die 60er-Jahre anhält. Als Koeppen im Jahre 1962 den Georg-Büchner-Preis erhält, befindet er sich gerade in einer Schreibkrise. Es sollte zehn Jahre dauern, bis das nächste Buch von ihm erschien. Der über Jahre hinweg immer wieder angekündigte Roman lässt vergebens auf sich warten. Stattdessen erscheint 1976 der mit autobiografischen Elementen durchsetzte Roman "Jugend", der in kürzester Zeit zu einem Bestseller wird. Es sollte zugleich das letzte Buch sein, das Wolfgang Koeppen bis zu seinem Tod am 15. März 1996 publizierte.

Wie kein anderer Schriftsteller führte Wolfgang Koeppen die Literaturwissenschaftler und Kritiker mit seinen widersprüchlichen Angaben zur eigenen Person in die Irre, was nicht minder aus seiner eigentümlichen Lebensweise resultierte: "Und dann lebe ich auch etwas wie eine Romanfigur. Ich könnte es mir ja einfach machen, wenn ich andauernd mein Leben erzählen würde und aus meinem Leben Bücher entstehen ließe; bis zu einem gewissen Grad tut das ja jeder Schriftsteller [...]. Aber bei mir ist es so, dass wahrscheinlich mehr als bei anderen der normale Kontakt zum Leben, zur bürgerlichen Existenz, geschwächt ist", äußert Koeppen Anfang der 70er-Jahre in einem Interview. Über lange Zeit stellte sein renitentes Verhalten bezüglich seiner eigenen Vita die Germanisten vor die Schwierigkeit, überhaupt eine Biografie über ihn zu verfassen und autobiografische Elemente von fiktiven zu distinguieren.

Um das Nachvollziehen des Koeppen'schen Wegs "zwischen Dichtung und Wahrheit" bzw. um eine Aufhellung von Lebens- und Werkgeschichte bemühten sich Hiltrud und Günter Häntzschel in ihrer kürzlich erschienenen Koeppen-Monografie "Ich wurde eine Romanfigur", die parallel zur Wolfgang-Koeppen-Ausstellung in München entstanden ist und erstmalig den gesamten Nachlass in ihre Untersuchung miteinbezieht. Sie übersteigt den Status eines bloßen Ausstellungskatalogs insofern, als in der Tat neue Erkenntnisse zur Werkgeschichte geliefert werden.

Erstmalig wird der 'frühe' Koeppen schärfer in den Blick genommen, d. h. seine ersten literarischen Arbeiten, an denen sich der Werdegang als Schriftsteller abzeichnet: so etwa der Aufsatz über "Mode und Expressionismus", den er bereits im Alter von 17 Jahren schrieb und der 1923 in der "Greifswalder Zeitung" abgedruckt wurde. Zusammen mit der nicht veröffentlichten Gedichtsammlung "Knospen / Staubblüten / Schrei", die Anfang der 20er-Jahre entstanden ist und dem Timbre und Gestus nach noch ganz im Zeichen des Expressionismus steht, eröffnen diese Arbeiten eine neue Perspektive auf die bekannten Werke.

Gelungen erscheint auch der Versuch von Hiltrud und Günter Häntzschel, den 'privaten' Koeppen zur Darstellung zu bringen. So erfährt der Leser nicht nur Näheres über seine Beziehung zur Mutter und seiner Tante Olga Köppen, sondern gleichermaßen über den Vater Dr. Reinhold Halben, einem Augenoptiker und Hobby-Ballonfahrer, den Koeppen nie kennen lernte, dafür aber in seinem Filmentwurf "Bei Betty" (um 1948) als Figur namentlich mit einbaute und auf fiktivem Wege bereits zu Beginn des Films ermorden ließ. Über den biografischen Hintergrund zu Dr. Reinhold Halben wie auch zu Koeppens Mutter Maria werden gleichsam autobiografische und biografische Elemente, die in den letzten Roman "Jugend" mit einflossen, stärker beleuchtet. Dies ist insofern von Relevanz, als "Jugend" oft als autobiografischer Roman gewertet wurde, obwohl aufgrund des namenlosen Ich weder die Namensidentität von Erzähler und Autor gegeben, noch das Werk in irgendeiner Hinsicht als autobiografisches gekennzeichnet ist, wie es auch das vorangestellte Goethe-Zitat andeutet: "Das Gedichtete behauptet sein Recht, wie das Geschehene." Häntzschels verweisen auf einen Titelblattentwurf zu "Jugend", in dem der Roman den Untertitel "Fragment einer Fiktion" trägt. Dokumente würden von Koeppen "literarisiert". Die "Präzision der Wahrnehmungen des erzählenden Ich" seien "nicht nur der Erinnerungskraft des Autors geschuldet", sondern Erinnerung werde in "Jugend" gleichermaßen auch simuliert, wie die Verfasser anhand der von Koeppen zitierten Quellen - etwa Reise- und Universitätsführer und deren Bildmaterial - nachweisen.

Der Irritation auf Seiten der Rezipienten vorbeugend, die insbesondere die im Text auftretenden Schnittstellen von Fiktion und Autobiografie auslösen könnten, begegnete Koeppen antizipierend in einem Brief an seinen Verleger Siegfried Unseld im April 1976, der in der Monografie "Ich wurde eine Romanfigur" mit abgedruckt ist. Darin äußert Koeppen: "Da wieder einmal ein Ich berichtet und Lebensdaten des erzählenden Ichs sich manchmal mit meinen berühren, werden Leser den Text für autobiographisch halten. Das stimmt aber nicht. Es ist mehr Dichtung als Wahrheit. Erinnerungen an eine fremde Jugend, eigentlich Kindheit, Alpträume von einem anderen. Ich habe diese Wohnungen nicht bewohnt, wuchs nicht in einem Milieu extremer Armut auf, aber ich hatte diese Empfindungen, oder sie kamen mir beim Schreiben."

Abgedruckt sind weiterhin einige der Entwürfe zu dem bekannten Eingangssatz "Meine Mutter fürchtete die Schlangen". In Zusammenhang mit "Jugend" verweisen die Verfasser auch auf die von Koeppen geplante Autobiografie. Die schon von Iris Denneler im Jahre 2003 in einem Aufsatz vertretene These, dass die Schreibkrise des Autors darauf beruhe, dass dieser Zeit seines Lebens an einer Art Lebens-Roman arbeitete, wird hier implizit über den Verweis auf zahlreiche Aussagen Koeppens bestätigt. Diesbezüglich machen Hiltrud und Günter Häntzschel darauf aufmerksam, dass Koeppen in der Zeit nach der Romantrilogie mehrere Projekte gleichzeitig bearbeitete, ohne dabei die einzelnen Texte streng voneinander abzugrenzen. Dabei käme es zu einer Vermischung von "Abschriften, Wiederaufnahmen und Variationen älterer Texte mit neuen Einfällen, die dann oft schon behandelte Motive durchscheinen lassen und die gleichwertig neben eigenen Erfahrungen, realen Erlebnissen, Erinnerungen, Träumen oder Assoziationen an literarische Vorbilder stehen".

Auch die Arbeit beim "Berliner Börsen-Courier", die unerwiderte Liebe zu der Schauspielerin Sybille Schloß sowie die Bekanntschaft mit Koeppens zukünftiger Frau Marion Ulrich kommen in dieser Lebens- und Werkgeschichte zum Tragen, die von zahlreichen Abbildungen bisher unveröffentlichter Dokumente, Bilder, Briefe und Manuskripte durchsetzt ist. Zu bemängeln wäre, dass die Fotos der Datierungen entbehren. Auch ist der Aussage zu widersprechen, es handle sich bei Koeppen um den "einzig deutschen Reiseschriftsteller", schließlich hat sich etwa auch Rolf Dieter Brinkmann mit "Rom, Blicke" (1979) als Reiseschriftsteller behauptet.

Nahezu zeitgleich zu "Ich wurde eine Romanfigur" haben Hiltrud und Günter Häntzschel in der Suhrkamp-Reihe "BasisBiographie" eine Monografie zu Wolfgang Koeppen veröffentlicht, die noch einmal in komprimierter Form einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand liefert. Anders als "Ich wurde eine Romanfigur" folgt diese Monografie weniger einer chronologischen, als vielmehr einer thematischen Gliederung, die der Einteilung in Leben, Werk und Wirkung Rechnung trägt. Auch finden sich in dieser Monografie manche Abbildungen, die in "Ich wurde eine Romanfigur" nicht enthalten sind. Nicht nur geht hier jeder Auseinandersetzung mit dem einzelnen Werk eine Zusammenfassung desselben voraus; ebenso wird in der Koeppen-"BasisBiographie" weit mehr der Diskurs mit der Forschung gesucht - so etwa in Bezug auf "Jugend". Kritisch reflektiert wird die Frage aufgeworfen, ob Koeppen das Buch tatsächlich selbst komplitiert habe oder "die Zusammenstellung seiner Texte durch andere lediglich im Nachhinein [von ihm] 'gebilligt'" wurde. Letzteres würde nach Ansicht der Verfasser seinem Verhalten entsprechen, unterlag doch Koeppen in diesen Jahren der Unfähigkeit, "seine Entwürfe und Typoskripte zu veröffentlichungsreifen Texten abzuschließen". Aufmerksam gemacht wird auf die umfangreichen Vorstufen zu "Jugend". Der These von einem sorgfältig komponierten Text wird widersprochen, da es nicht gelänge, "eine stringent durchdachte Struktur ausfindig zu machen."

Während "Ich wurde eine Romanfigur" mehr den empirischen Autor fokussiert, liefert die "BasisBiographie" einen sehr guten Überblick zu Koeppens Werk, der auch die weniger bekannten Prosawerke berücksichtigt und dementsprechend Beachtung verdient.


Titelbild

Günter Häntzschel / Hiltrud Häntzschel (Hg.): "Ich wurde eine Romanfigur". Wolfgang Koeppen 1906-1996.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
176 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 351841769X

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Titelbild

Günter Häntzschel / Hiltrud Häntzschel (Hg.): Wolfgang Koeppen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
160 Seiten, 7,90 EUR.
ISBN-10: 3518182129

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