Ausverkauf eines Sports

Harald Irnberger untersucht die Produktion fußballerischer Kultur

Von Heiko GrunenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heiko Grunenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Harald Irnberger liefert in seinem 2005 erschienenen Buch "Die Mannschaft ohne Eigenschaften" eine spannende Analyse des Fußballgeschehens unter den Bedingungen der Globalisierung.

Dabei zeichnet sich seine Untersuchung durch fußballerischen Sachverstand aus, ohne dezidiert statistisch, wissenschaftlich oder schulmeisterlich aufzutreten. Hinzu kommt ein interdisziplinärer Blick, mit dem es der Autor vermag, scheinbar weit auseinander liegende Zusammenhänge miteinander zu verbinden und dadurch eine 'Ballstaffette' an Gedankengängen anzustoßen. Fußball löst nicht die Politik ab, Fußball ist hier Politik.

Gerahmt durch die konzeptuelle Übertragung von Robert Musils Romantitel "Der Mann ohne Eigenschaften" auf die "Mannschaft ohne Eigenschaften" führt Irnberger die Lesenden durch insgesamt 14 Kapitel über den globalisierten Fußball. Jedem Kapitel wird ein richtungsweisendes Musil-Zitat vorangestellt und äquivalent zu Musils Thesen zum Eigenschaftsverlust des Individuums auf die Betrachtung moderner Fußballmannschaften übertragen. Diese, so Irnbergers Leitidee, verlören zur Zeit vollends ihre Eigenschaften - ausgelöst durch die Zunahme weltweiter Kapital- und Informationsströme. Die Vereins- und Nationalmannschaften entbehrten ihre eigenen Spielweisen: Kreativität werde stattdessen mehr und mehr zugunsten von Kraft und Disziplin wegtrainiert.

Jedes Kapitel ist als eigenständige Fallstudie derartiger Wandlungstendenzen zu lesen: etwa am Beispiel von Real Madrid im Spiegel der letzten hundert Jahre, der deutsche langweilige Ordnungsfußball, die multikulturelle Grande Nation, Korruption in der Ehrenwerten Gesellschaft, der bajuwarische Popanz oder der Anachronismus der Nationalmannschaften.

Durch alle Kapitel ziehen sich einige Kern-Dichotomien: Das sind die Konzepte von Cesar Luis Menotti zu linkem und rechten Fußball, die bereits in Irnbergers Buch "Ball und Gegner laufen lassen" (2001), einer essayähnlichen Biografie des argentinischen Trainers und Theoretikers, ausführlicher dargestellt worden sind. Daraus sind die Kategorien Kreativität versus Zielorientierung und vor allem Franz Beckenbauer versus Günter Netzer, also auch Borussia Mönchengladbach versus FC Bayern München gewissermaßen als Zusammenprall zweier Weltbilder, abgeleitet. Diese Weltbilder - Fußball entweder als Ausdruck von Freiheit oder von Anpassung - verkörpern nach Irnberger die gegensätzlichen Akteure wie kaum jemand anders. Zu finden ist die Spannung allerdings überall im Fußball - und überall im Text.

Die in Irnbergers Buch zu Franz Beckenbauer ("Beckenbauer. Ein Bayer zwischen Wahn und Wirklichkeit", 2000) bereits ausgeführte Bespiegelung wird auch hier wieder ausgiebig aufgenommen. Zwar sind die Betrachtungen gut recherchiert, psychologisch kenntnisreich interpretiert und schonungslos offen formuliert, insbesondere hinsichtlich der Schattenseiten des so genannten Kaisers. Dennoch beißt sich der Autor immer wieder wütend an Beckenbauer fest, bis man den Eindruck gewinnt, es ginge doch eher um eine alte Privatfehde.

Irnbergers Analysewerkzeuge sind vielfältig. Neben international vergleichender sprachwissenschaftlicher Beobachtungen sowie soziologischer und ökonomischer Perspektiven findet sich immer wieder die Parallelisierung von Fußball und Kunst, besonders der Literatur - aber auch der stetige Vergleich von Fußball und Politik. Implizit beherrschend ist mitunter die Fokussierung auf mediale Entwicklungen, denen bedeutender Einfluss zugeschrieben wird. In den Mittelpunkt der Ausführungen rückt so der deutsche Umgang mit dem Thema Fußball: Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass die Kunstfußballer wie Netzer oder Schuster aus dem Land gingen und von den Medien weitgehend ignoriert wurden, während die kleingeistigen, biederen Fußball-Arbeiter zu Weltstars hochstilisiert wurden?, lautet eine der Leitfragen Irnbergers. Dieser Blick hinterfragt die sportliche Normalität von Kampf und Krampf sachlich und fasst diesen Zustand als veränderbar auf. Das hat den Autor davor bewahrt, mystifizierend in die Vergangenheit zu blicken: Es war zwar nicht alles besser, aber eine ganze Menge anders, so der Tenor des Buchs.

Der Autor bezieht Stellung als wörtlich "linker" Schriftsteller, was er sehr demonstrativ und stolz vor sich her trägt. Aus dieser Warte scheut er sich nicht, überaus wortgewandt, polemisch, aber auch belustigend zu formulieren. Mal sind es die brutalen Neureichen der widerlichsten Sorte, die sich als Präsidenten oder gar Klubeigentümer verdingten, mal Personen aus der DFB-Führungsriege, die besser als Figuren einer Schnaps-Werbung taugten denn als Leitung eines Großverbands. Zudem seien viele Rezipienten konsumsüchtige, also schlichte Gemüter, wettert Irnberger, und Otto Rehhagel sei als Karl Moik des Fußballs ein Botschafter des schlechten Geschmacks.

Die ständige Betonung des eigenen politischen Standpunkts mag sicherlich auf einige abschreckend wirken, zumal sie in diesem Ausmaß nicht nötig ist, denn viele Anmerkungen Irnbergers könnten andere politische Lager ebenfalls uneingeschränkt teilen und lassen sich nur mit Mühe dem Schema Menottis unterordnen. Hinsichtlich der links-rechts Einteilung des Fußballs schränkt der Autor dann auch ein, es ginge nicht um ein im engeren Sinne politisch zu verstehendes Raster. Vielmehr macht Irnberger überall Feinde aus, die den seiner Meinung nach genuin liebreizenden Charakter der kulturellen Äußerung Fußball verhunzen: Club- und Verbandspräsidenten, Funktionäre, Kleingeister, Jugendtrainer, Mitspieler, Sponsoren, Politiker.

Der Stil Irnbergers ist zwar nicht von wissenschaftlicher Formalität, fußt aber durchaus wissenschaftlich beseelt auf essayistischer Logik. Die Wortwahl ist gelegentlich distinguiert bis gestelzt, weshalb es oft hilfreich ist, ein Fremdwörterbuch in Reichweite zu haben.

Irnbergers Buch richtet sich an fortgeschrittene Fußballsachverständige mit Liebe zum Detail. Ein gewisses Quantum an Vorkenntnissen sowie Interesse an weitreichenden Zusammenhängen sollte man also haben, denn Irnberger bleibt nicht immer Fußball-immanent. Seine Analysen bewegen sich stets in der Schnittmenge der genannten Disziplinen, die als unabhängige Variablen die abhängige Variable Fußball produzieren. Dies macht die reizvolle Perspektive des Autors aus: der Blick des gebildeten Menschen auf das oft als Proletensport wahrgenommene Spiel Fußball. Seine heliospektive Draufsicht nimmt dennoch die "oberen" gesellschaftlichen Akteure ins Visier. Fußball wird zugleich nicht per se als herabschauenswürdig verstanden, sondern als diffizile Kulturleistung.

So geriert sich Irnberger zwar annähernd kulturelitär, aber nicht plump gegen den Sport gerichtet; um so mehr jedoch gegen sein Beiwerk. Andererseits wird der Eindruck vermieden, Fußball sei an sich irgendetwas außergewöhnlich Wichtiges. Die Gleichbehandlung gegenüber anderen Kunstformen gepaart mit einer skeptischen Grundeinstellung macht dieses Buch so lesenswert.


Titelbild

Harald Irnberger: Die Mannschaft ohne Eigenschaften. Fussball im Netz der Globalisierung.
Otto Müller Verlag, Salzburg 2005.
488 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-10: 3701311099

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