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Zu den sozialen Funktionen des Fußballs in der Moderne

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

"Er hätte vielleicht besser daran getan. Ball zu spielen:
da weiß man, was man wirft, da sieht man, was man fängt."
Fred Vargas: Die schöne Diva von Saint-Jacques

Für Dieter Keiner zum 66. Geburtstag

1. FC Deutschland 2004-2006

Die Fußball-Europameisterschaft 2004 ist für die meisten Deutschen, soweit sie sich dafür interessieren, dass 22 erwachsene Menschen einem Ball hinterher rennen, um ihn dann vor allem wieder weg zu ballern und sich von drei bis vier schwarz gekleideten Kerlen schikanieren lassen, eher mit trüben Erinnerungen beladen.

Dabei hat sie im Wesentlichen die Philosophie, mit der das damalige Trainergespann die deutsche Nationalmannschaft auf ihre Partien eingestellt hat, bestätigt. Denn Griechenland hat mit einer sehr ähnlichen Einstellung ein sehr erfolgreiches Turnier gespielt - wie hier nicht wesentlich weiter vertieft werden soll. Nur das Eine noch zu den Grundzügen: Hinten zu und vorne ein Tor machen reicht, um Europameister zu werden. Der entscheidende Unterschied zwischen den Deutschen und Griechen ist freilich, dass die Deutschen mit dieser Einstellung nicht einmal die Vorrunde überstanden haben. Erfolg gibt immer Recht, während Misserfolg die Entscheidungsträger automatisch ins Unrecht setzt und sie zum Rücktritt zwingt (Sportler und ihre Trainer wissen davon zu sprechen, jede Saison aufs Neue).

Rudi Völler ist also mittlerweile nach einer Stippvisite beim AS Rom wieder bei Bayer Leverkusen gelandet, ganz unerwartet hat die schwäbische Connection Klinsmann/Löw das Ruder übernommen. Und gleich ist alles ganz anders - zumindest zeitweise und bei Vernachlässigung gewisser Ausreißer. Die Deutschen spielen auf einmal einigermaßen erfolgreichen, gut gelaunten und (gelegentlich) gar ansehnlichen Fußball. Beinahe dieselben Spieler, die noch wenige Wochen zuvor verängstigt, unmotiviert und defensiv über den Platz schlichen, als würden sie zum Kicken gezwungen, strahlen selbst bei einer dämlichen Niederlage eine derart unverschämt gute (Spiel-)Laune aus, als ob sie zwischendurch den mentalen Austritt aus dem Kulturkreis der melancholischen Dichter, Denker und Klopper erklärt hätten. Aus der fußballdeutschen Asche scheint ein Phoenix erstanden, der zu den größten Hoffnungen Anlass gibt - aber schaun wir mal (wie uns das mittlerweile geflügelte kaiserliche Wort nahe legt).

Dass schon das, was wir bislang erlebt haben, ungewöhnlich ist, wenn nicht bedenklich, haben auch die so genannten politischen Verantwortlichen verstanden und die Fußballweltmeisterschaft 2006, die in Deutschland zu Gast sein wird, gleich zum Anlass genommen, den kollektiven Ausbruch aus der Miesmacherei zu erklären. Regierung, Unternehmer und Fußball-Funktionäre haben eine großformatige Variante des Goldbärli als Maskottchen präsentiert, platzieren Riesenfußballschuhe im Land und lassen sich zu Kampagnen herab, mit denen das deutsche Volk Hartz IV, 5 Millionen Arbeitslose, das Reißen von Defizitkriterien, die neuesten NPD-Wahlerfolge und den Krach mit den Amis hinter sich lassen soll.

FC Deutschland 2006 soll nun eine symbolische Dynamik entwickeln, die sich schließlich auch in Konsum, Mentalität, Wachstum und vor allem dem Weltmeistertitel auszahlen soll. Wenn das mal gut geht beziehungsweise reicht. Gut gelaunte Deutsche? Wer will das. Oder mit den Worten von Mainz 05-Trainer Jürgen Klopp: "Viel zu hoch gehängt." Dennoch bleibt da ein Satz vom sicherlich unverdächtigen Klaus Theweleit hängen, den er zwischendrin in seinem "Tor zur Welt" (2004) fallen lässt, ohne groß weiter darauf einzugehen (außer dass er die ganze Zeit darüber schreibt): "Wer mitbekommt, was sich im Fußball wann und wie verschiebt, ist über andere Gesellschaftsbereiche osmotisch informiert."

2. Gewaltverzicht, Affektkontrolle und die Funktion der Mimesis

In den gesammelten Schriften Norbert Elias' ist vor kurzem der gemeinsam mit Eric Dunning verfasste Band über "Sport und Spannung im Prozeß der Zivilisation" (2003) erschienen, eine durchaus doppeldeutige Studie, die in Teilen bereits aus den sechziger Jahren erschienen stammt. Doppeldeutig, weil Elias und Dunning in ihrer Studie zwei Argumentationslinien folgen, zum einen, welche Funktion und Position Sport und dabei insbesondere Fußball im Prozess der Zivilisation übernehmen, und zum anderen, wie nämlich das Spiel als soziales Phänomen zu beschreiben ist. Das ist gerade angesichts der feuilletonistischen Kurzschlüsse zwischen Gesellschaftsform beziehungsweise Kultur und Spielweise aufschlussreich, denn in der Tat steckt in dieser Übertragung Fußball-Gesellschaft ein Körnchen Wahrheit, fragt sich nur welches.

Elias/Dunning nun haben die Entstehung und Durchsetzung des Sports in den Industriegesellschaften in einem bestimmten Moment des Zivilisationsprozesses zu lokalisieren versucht. Dabei übernimmt der Sport, und das heißt gerade der Publikumssport, der von Profis ausgeführt und von Fans begleitet wird, eine zentrale Funktion im Affekthaushalt der Industriegesellschaften. Vergleicht man etwa eine Frühform der Sports, das Hurling, für das Elias/Dunning eine ausführliche Beschreibung zitieren, mit dem heutigen Fußballspiel, so ist die radikale Absenkung des ausagierten Gewaltpegels mehr als deutlich sichtbar: Ein Spiel wie Fußball habe sich "in Verbindung mit ähnlichen Trends in der Gesamtgesellschaft" entwickelt, "und zwar von einem relativ gewalttätigen und unkontrollierten zu einer weniger gewalttätigen und relativ stark kontrollierten Form und dementsprechend zu einer anderen Art der Spielmuster und der Gruppendynamik." Aber auch die Frühformen des Spiels waren Regel geleitet und grenzten die Gewalttätigkeit, die den Wettbewerbscharakter des Spiels notwendig begleitet, ein. So durften die Spieler unter anderem ihrem Gegenspieler nur einzeln entgegentreten, nur vor die Brust stoßen und der Ball durfte nur nach hinten abgegeben werden. Spiele dieser Art, die sich nahe liegend regional stark unterschieden, wurden auf Hochzeiten oder zu anderen besonderen Anlässen veranstaltet, und zwar in enger Abstimmung der lokalen grundbesitzenden Oberschicht, der Gentry, mit den lokalen Gemeinschaften. Sie dienten, folgt man Elias/Dunnung, "eine[r] kontrollierte[n] Form der Konfliktbewältigung" und halfen so, die Stabilität der lokalen Sozietäten zu sichern. Und das auffallender Weise in deutlichem Widerspruch zur und unter Unterlaufen des Herrschaftsanspruchs der Krone als sich selbst regulierendes System: "Die Selbstkontrolle der Menschen war weniger individuell, als von der dörflichen Gemeinde bestimmt."

Das hat sich im Prozess der Zivilisation - oder wenn man so will: der Modernisierung - deutlich geändert, wie Jürgen Habermas zusammengefasst hat: "Das moderne Zeitalter steht vor allem im Zeichen subjektiver Freiheit." Diese habe sich, fährt er in seinen Vorlesungen über den "philosophischen Diskurs in der Moderne" (1986) fort, "in der Gesellschaft als privatrechtlich gesicherter Spielraum für die rationale Verfolgung eigener Interessen, im Staat als prinzipiell gleichberechtigte Teilnahme an der politischen Willensbildung, im Privaten als sittliche Autonomie und Selbstverwirklichung, in der auf diese Privatsphäre bezogenen Öffentlichkeit schließlich als Bildungsprozeß, der sich über die Aneignung der reflexiv gewordenen Kultur vollzieht", verwirklicht. Die Ausweitung individueller Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten ist dadurch ermöglicht worden, dass die gesellschaftlichen Funktionssysteme Kompetenzen und Aufgaben an sich gezogen haben, die zuvor bei Institutionen und Gruppen lagen, die auf einer niedrigeren Ebene der gesellschaftlichen Organisation anzusiedeln sind. Der Integrationsgrad auf der Supraebene Gesellschaft nimmt dadurch zu, während er zugleich auf der der Individuen sinkt, was zu der paradoxen Situation führt, dass moderne Gesellschaften auf höchster Ebene einen immer stärkeren Integrationsgrad aufweisen, zugleich jedoch auf dem Niveau der Individuen brisanten Dissoziationstendenzen unterliegen. Die gesellschaftlichen Institutionen, die zuvor Positionen und Ressourcen verteilen - also Dorf, Familie, sozialer Konnex -, verlieren an Bedeutung. Die Selbstregulierung der Individuen, ihre Affektkontrolle, gewinnt an Bedeutung - wie Elias unter anderem in seinen großen Studien zum "Prozeß der Zivilisation" (1977) beschrieben hat.

Nun gibt es selbstverständlich keinen Fortschritt ohne Preis, der dafür zu zahlen wäre, und wir sind naive Romantiker genug, ihn immer wieder zu nennen und sogar den Versuch zu unternehmen, das Geschäft, das freilich weitgehend ohne unsere bewusste Teilhabe gemacht worden ist, gelegentlich wieder rückgängig machen zu wollen. Denn die gesellschaftliche Entwicklung ist eben nicht nur als Befreiung verstanden worden, sondern sie hat auch zu völlig neuen Zwangs-Erfahrungen geführt: Dieselben "Trennungen und Verselbständigungen, die, geschichtsphilosophisch betrachtet, der Emanzipation von uralten Abhängigkeiten den Weg bahnen, werden [...] zugleich als Abstraktion, als Entfremdung von der Totalität eines sittlichen Lebenszusammenhangs erfahren", schreibt Habermas. Die Zunahme gesellschaftlicher Großapparate, ihre zunehmende Durchorganisation und die Integration der Individuen in Funktionszusammenhänge lassen solche Verlustdiagnosen plausibel erscheinen. Individuelle Existenz wird als fragmentiert, wirkungs- und orientierungslos empfunden - andererseits sprechen nicht nur die vermeintlichen Trittbrettfahrer solcher Zivilisationsschmerzen gegen ihre Umsetzbarkeit: Heimatkünstler, Nationale und Nationalsozialisten lassen vor den Resultaten solcher Rücknahmen zurückschrecken. Die auf der Habenseite zu notierenden Ergebnisse dieses Modernisierungs- oder Zivilisationsprozesses sind nicht minder eindeutig: Im Vergleich reduzierte Gewaltpotentiale, hohe Diskursivität, hoher Legitimationszwang zeichnen gerade die Industriegesellschaften aus - was eben nicht bedeutet, dass sie im absoluten Sinne gewaltfrei, offen, legitimiert und diskursiv sind, und nicht nur an den Rändern ihrer Handlungsräume, in der Dritten Welt etwa oder gegenüber sozialen Gruppen, die deprivilegiert werden. Klaus Theweleit etwa, der kaum verdächtig ist, der gegenwärtigen Gesellschaft allzu nachsichtig zu begegnen, hat dies in seiner stupenden Fußballetude ausdrücklich betont: "Der allgemeine Aggressionspegel heutiger Schülergenerationen scheint mir [...] gesunken - abgesehen von Schulen in extremen Konfliktgebieten. [...] Ein entsprechender Rückgang offener Aggression fällt auch in Diskussionen zwischen Studenten auf. [...] Alles geht sehr diskursiv und nacheinander zu."

Elias/Dunning nun sehen die Entwicklung des Sports im Zusammenhang der abnehmenden Gewaltpotentiale und der zunehmenden Selbstregulierung der Individuen: "Im wesentlichen stand das Aufkommen des Sports als Form eines relativ gewaltlosen körperlichen Kampfes im Zusammenhang mit einer relativ seltenen Entwicklung innerhalb der Gesellschaft als ganzer: Kreisläufe der Gewalt flauten ab, und Interessens- und Glaubenskonflikte wurden auf eine Weise gelöst, die es den beiden wichtigsten Rivalen um die Regierungsmacht erlaubte, ihre Gegensätze ausschließlich durch gewaltlose Mittel und in Übereinstimmung mit vereinbarten Regeln beizulegen, die von beiden Seiten beachtet wurden." Ein System, in dem Machtwechsel zumeist von der Enthauptung der Repräsentanten der Vorgängerregierung begleitet werden, unterscheidet sich grundlegend von einem System, in dem der unterlegende Repräsentant lediglich von seinen Ämtern und seinem Führungsanspruch zurücktritt - zuletzt noch zu beobachten bei der Wahlniederlage Heide Simonis' oder Gerhard Schröders. Zwischen diesen beiden Entwicklungsstadien liegen Jahrhunderte, und in diesen Jahrhunderten verändert sich auch der Sport, und das analog.

Zwar kennt auch hochmittelalterliche Kultur die Zähmung der Gewalt im Sinne der Zivilisierung (und damit Stabilisierung) der Verhältnisse - und sie beschäftigt sich in ihrer Literatur mit größter Intensität damit. Wenn der adelige Ritter der Höfischen Klassik auf einen seinesgleichen stößt, dann unterwirft er ihn, aber er tötet ihn nicht. Stattdessen schickt er ihn an den Artushof, nicht nur damit er dort seinen Ruhm verkündet: Der Unterworfene wird zugleich in die zivilisierte Gesellschaft integriert, er wird zu einem Teil von ihr. Wenn Iwein zu Beginn des gleichnamigen Epos Hartmanns von Aue Askalon nicht nur besiegt, sondern auch tötet, vergeht er sich entscheidend an einem Grundaxiom der (literarischen) höfischen Gesellschaft. Er wird dafür büßen müssen. Im Vergleich dazu sind die realen Sportvergnügen der frühen Neuzeit derb, volkstümlich und nicht minder gewalttätig - sie sind freilich auch in einer stark gewandelten Gesellschaft und dort an einer anderen sozialen Position angesiedelt.

Vom "Sport" dieser Art mitsamt seinen Regeln ist der Weg zum heutigen Sport noch weit genug. Dabei hat er auch in seinen frühen Formen zugleich integrative Funktionen wie Ausgleichsaufgaben. Er ist immer auch das Pendant zur gesellschaftlichen Entwicklung, insbesondere was ihr Verhältnis zur Gewalt angeht. Für das England des 18. Jahrhunderts stellt er, Elias/Dunning folgend, "einen wesentlichen Bestandteil der Pazifizierung der englischen Oberklasse dar". Und das nicht nur, indem der Sport wie das gesellschaftliche Leben mehr und mehr pazifiziert wird, sondern auch weil der Sport gerade in den entwickelten Gesellschaften zwei zentrale Funktionen übernimmt: die der Kompensation und die des Komplementärs.

Die Komplementärfunktion besteht nun, so die Überlegung, ganz banal darin, dass in Gesellschaften, deren Individuen sich körperlich immer weniger betätigen, Sport die Aufgabe übernimmt, den persönlichen Bewegungshaushalt auszubalancieren. Die menschlichen Körper sind auf ein Minimum von Bewegung ausgerichtet, und Sport ermöglicht, dieses Minimum zu erreichen. Jeder Arzt und jede Krankenkasse wird das bestätigen.

Daneben hat Sport jedoch auch eine enorme Bedeutung für den "libidinösen, affektiven und emotionalen" Haushalt, eine Kompensationsfunktion. Denn die Gesellschaft legt nicht nur größten Wert auf die Pazifizierung der Einzelnen. Die Behauptung des staatlichen Gewaltmonopols ist für die offenen Gesellschaften und Demokratien ein zentrales Element. Gewährleistet wird dieses Monopol eben nicht nur durch die gesellschaftlichen Institutionen und Regularien, sondern eben auch durch die Affektkontrolle der Einzelnen. Die ist aber ohne Ausgleich nicht zu haben. "Soweit sich sehen läßt, entwickeln die meisten menschlichen Gesellschaften eine Reihe von Gegenmaßnahmen gegen belastende Anspannungen, die sie selbst erzeugen", schreiben Elias und Dunning.

In gewissem Maße erfüllen alle Vergnügungen und Beschäftigungen, die die Freizeit ausfüllen, diese Funktion. Sport als Massenspektakel geht jedoch darüber hinaus. Hier werden, so Elias/Dunning, Kampf und Gefahren, Siege und Niederlagen in einem aufschlussreichen Prozess nachempfunden. "Mimesis" nennen sie dieses Verfahren, das sie ohne weiteres samt seiner Elemente aus der Aristotelischen Poetik ableiten könnten. Ziel dieses seltsam ästhetisch erscheinenden Verfahrens ist es nun, Aggression und Agon zu simulieren, und zwar als Gegenentwurf zum eher spannungslosen und gewaltfreien Realitätskorsett, in dem sich die Individuen ansonsten bewegen: "Eine Gesellschaft, die ihren Mitgliedern und insbesondere ihren jüngeren Mitgliedern keine ausreichenden Möglichkeiten für die freudige Erregung eines Kampfes zur Verfügung gestellt, der körperliche Kraft und Geschicklichkeit erfordern kann, [...] ist möglicherweise nicht in der Lage, ausreichende komplementäre Korrektive für die monotonen Spannungen anzubieten, die von dem immer wiederkehrenden, gleichbleibenden Tätigkeiten des gesellschaftlichen Lebens erzeugt werden."

Der bevorzugte Ausgleich des Arbeiters, Angestellten und Beamten ist, so gesehen, also nicht der Schrebergarten und die Modelleisenbahn, sondern die Teilnahme am Wettkampf Fußball, im Stadion oder am Fernseher. Dort werden ihm Kämpfe vorgeführt, in denen er sich und mit denen er sich identifizieren kann, die ihm helfen, seinen Affekthaushalt zu bedienen, und die trotzdem, unter bestimmten Bedingungen, die Gewaltfreiheit des gesellschaftlichen Umgangs garantieren. Dabei bleibt es noch durchaus offen, inwieweit die eingeübten Denk-, Haltungs- und Verhaltensmuster auf das reale Leben übertragbar werden. Das Mimesis-Konzept eröffnet allerdings diese Option. Die Aggressionen im Stadion (und auch im Umfeld der Stadien) sind im Wesentlichen kontrolliert, und das aufgrund einer denkwürdigen Balance zwischen Aggression und Selbstkontrolle. Die Spieler müssen aggressiv sein, um den Wettkampfcharakter des Spiels einlösen zu können. Und die Zuschauer müssen diese Aggression teilweise mitagieren. Diese Aggression darf aber nie, weder bei Spielern noch Zuschauern, als real verstanden werden. Sie wird vom Spieler kontrolliert agiert, vom Zuschauer mimetisch erfahren, und nach mehr oder weniger neunzig Minuten verlassen beide wieder das Stadion, um zum nächst möglichen Zeitpunkt wieder zu kehren. Und gerade in dieser Wiederholbarkeit besteht der Sinn dieses Verfahrens. Das Nachempfinden realer Gefahren hat nämlich einen entscheidenden Vorteil: Die "Zuschauer eines Fußballspiels [können] die mimetische Erregung des auf dem Spielfeld hin und her wogenden Kampfes genießen, weil sie wissen, daß den Spielern und ihnen selbst kein Schaden zugefügt wird", schreiben Elias und Dunning.

Was uns also von den Besuchern der römischen Amphitheater unterscheidet, ist immerhin, dass wir unsere Spieler nur noch symbolisch den Löwen zum Fraß vorwerfen. Eine Befriedungsfunktion haben sie allerdings immer noch, wenngleich sie weniger der Stabilisierung streng obrigkeitsstaatlicher Systeme zugute kommt, sondern offenen und demokratischen Gesellschaftsformen (und lassen wir das "vergleichsweise" einmal beiseite).

3. "Wenn du den Ball hast, muß der andere die Panik haben" (Thierry Henry) - Figurationen

Elias/Dunning haben diesem Aspekt, der sich ohne größere Probleme in die Elias'schen Zivilisations-Studien integrieren lässt, allerdings noch einen weiteren hinzugefügt, der von der externen Funktion auf die interne Beschreibung des Spiels überleitet. Sie schließen damit nicht zuletzt freilich an Elias' Soziologie aus dem Jahr 1970 an, in der er sich bereits ausführlich mit der Beschreibung sozialer Gruppen beschäftigt hat. In der Sportstudie nehmen Elias/Dunning eine aufschlussreiche Modifizierung vor, die freilich eher eine Konkretisierung, denn eine Weiterentwicklung des Modells von 1970 ist. Hier heben sie nämlich zum einen hervor, dass Fußballspiele sich hervorragend dafür eignen, soziale Kleingruppen in ihren Funktionsweisen und Strukturen zu studieren. "Sportspiele im allgemeinen und Fußball im besonderen" könne "ein nützlicher Ausgangspunkt sein [...], um Modelle der Kleingruppendynamik zu konstruieren". Für die Beschreibung setzen sie ein gestaffeltes Begriffsinstrumentarium ein, das vom Individuum über Gruppe und Figuration hin zu Spielmuster reicht.

Was also geschieht in einem Fußballspiel soziologisch gesehen? "Man beobachtet kleine Gruppen von Individuen, die ihre Beziehungen zueinander bei fortlaufender gegenseitiger Abhängigkeit voneinander in Raum, Zeit und Bewußtsein, also fünfdimensional, ändern." Diese Figurationen sind nicht mehr oder weniger real als die Individuen, die sie bilden, und dennoch sind sie es, die das Spiel und seinen Verlauf bestimmen: "Wenn man ein Fußballspiel beobachtet, versteht man, daß es die fließenden Figurationen der Spieler selbst sind, von denen zu einem gegebenen Zeitpunkt die Entscheidungen und Bewegungen der einzelnen Spieler abhängen."

Das Spiel zeige also höchst anschaulich die Interdependenzen menschlicher Aktivitäten, individuelle Entscheidungen stünden mithin stets in einer doppelten Beziehung, nämlich zum entscheidenden Individuum selbst und zum sozialen Kontext, in dem es sich bewege. Mit einem Schritt zurück: Nicht also eine vorab angelegte Strategie entscheidet das Spiel, sondern ihre Anpassung an das reale Spiel durch die Aktoren. Jede Mannschaft gehe mit einer Strategie in ein Spiel: "Während das Spiel nun voranschreitet, bringt es häufig Konstellationen hervor, die von keiner Seite beabsichtigt oder vorhergesehen worden sind", wissen Elias und Dunning. Das Konzept, das sich in der Auswahl der Spieler, in ihrer Ausbildung, im Training, in der Anlage des Spiels und der Aufstellung ausdrückt, wird also in jedem Spiel einer konkreten Erfolgsprüfung unterzogen.

Dennoch lassen sich diese Muster und der Spielprozess, zu dem es gehöre, in der Retrospektive als "eindeutig strukturiert" erkennen. Allerdings sind diese Strukturen selbst deutlich flexibler geworden, wie eben auch die Spieler selbst: "Die Flexibilität des Einzelnen und seine Fähigkeit, in den schnell wechselnden Situationen die richtige Entscheidung zu treffen, dominiert über die formalen Vorgaben", schreiben Christoph Biermann und Ulrich Fuchs in ihrem Buch "Der Ball ist rund, damit das Spiel die Richtung ändern kann. Wie moderner Fußball funktioniert" (2004). Nur, indem die Spieler die Muster der Figurationen erkennen und auswerten und dies dann wiederum in eigene Aktion umsetzen, haben sie die Chance, das Spiel in ihrem Sinne zu beeinflussen. Ob sie dabei das Spiel "lesen" oder "fühlen", was sie zu tun haben, ist dabei nachrangig.

Das aber, so versteht man Elias/Dunning wohl richtig, ist nicht ein Ergebnis der modernen Spielkultur am Ende des 20. Jahrhunderts, sondern grundsätzlich der Grundfigur des Spiels von Beginn an eingeschrieben. Es sind immer Individuen, die in Figurationen agieren, unabhängig in welcher Gesellschaft auf welcher Entwicklungsstufe wir uns befinden. Aber wie sie dies tun, mit welchen Instrumentarien sie dabei vorgehen, und wie sehr dabei der Intellekt eingesetzt werden muss, das ist abhängig von der Gesellschaft, in der sie agieren. Darin liegt der Unterschied der Spielweisen etwa der siebziger Jahre, in denen die Heroen des deutschen Fußballs agierten, und der Gegenwart, die an solchen Führungsspielern offensichtlich so arm ist.

Der Charakter der Muster und Figurationen ändert sich mit der Gesellschaft. Die Veränderungen sind jedoch komplex. Aus der zuvor formulierten These, dass die Bedeutung des Individuums in der modernen Gesellschaft zugenommen habe, und zwar insbesondere für seine Integration in die Gesellschaft, ließe sich ja schließen, dass gerade die besonderen, herausragenden Einzelspieler wären, die für den Spielfluss, die Spielmuster und Figurationen entscheidend würden. Die Netzer, Beckenbauer, Overath, und wie sie alle heißen, sind aber anscheinend rar geworden. Das Spiel wird offensichtlich immer weniger von Einzelfiguren allein bestimmbar (wenngleich oft immer noch entscheidbar) - das tun stattdessen leistungsfähige, bedingt arbeitsteilig organisierte Kollektive. Das als Widerspruch zu empfinden, würde bedeuten, die oben skizzierte Modernitäts-These allzu kurzschlüssig zu verstehen. Denn es ist gerade die zugleich dialektische und komplexe Anforderung an das Individuum gestellt, sich zum einen in große Funktionszusammenhänge einzufügen und dort adäquat zu agieren, zum anderen ist diese Integrationsleistung, die eng verbunden ist mit der Ausbildung des individuellen Profils und damit seines Standortes in der Gesellschaft, eine genuine Leistung des Individuums. Hinzu kommt, dass die großen Funktionszusammenhänge heute begonnen haben, ihre Funktionsweisen zu ändern: An die Stelle klarer und hierarchisch organisierter Systeme, die nach Über- und Unterordnung geregelt sind, sind vernetzte Systeme entstanden, die die Integration individueller Leistungen zu komplexeren Ergebnissen und Produkten den Individuen und den Figurationen, in denen sie agieren, überlassen: In den achtziger Jahren vollzog sich "in deutschen Industriebetrieben, Handwerksbetrieben und kommunalen Verwaltungen die Umstellung der Arbeitsorganisation von Vorarbeiter- und Vorschriftsstrukturen zu mehr Teamarbeit und kooperativen Arbeitsgruppen; insgesamt zu einer Angestellten-Kultur mit Betonung gesteigerter Eigenverantwortung avancierter Angestellter", schreibt Theweleit. Damit verbunden ist eine deutlich gesteigerte Flexibilität in den individuellen Leistungsvermögen und in ganzen Lebensläufen.

Umso überraschender eigentlich - wenn an dieser Stelle nochmals ein Schritt zurück an den Beginn gemacht werdend darf -, dass die Krise des deutschen Fußballs nicht an der Schwelle zu den achtziger Jahren virulent wurde, sondern erst zur Jahrtausendwende ausbrach: Die Weltmeisterschaft 1998, die Europameisterschaft 2000, die Europameisterschaft 2004 sind die Daten, an denen sich diese Krise festmachen lässt (und die Weltmeisterschaft 2002 ist möglicherweise nur der Beweis dafür, dass man auch mit einem alten System weit kommen kann, wenn man Glück hat: Helden und Klopper können immer noch erfolgreich sein. Das ist wie das Aufeinanderprallen von Siegfried und dem Burgundenhof in Worms: Wenn zivilisierte Gruppen und aggressive Individuen aufeinander treffen, dann ist der aggressive Einzelne im ersten Moment im Vorteil, auf mittlere Sicht jedoch, wird er sich einfügen, und wenn nicht, gibt es immer noch einen Hagen, der das Richtige zu tun weiß). Die Begründung dafür wird von Theweleit bei den Führungspersonen gesucht und bei einem sehr langlebigen und lange erfolgreichen Denkmuster, dem nämlich, dass sich über hartnäckige Arbeit am Ende doch der Erfolg einstellen wird ("kämpfen" ist die Losung dafür - und in der Tat, ganz ohne das gehts wohl nicht, aber wenn mit, dann auf hohem technischen Niveau).

Damit ändert sich insgesamt das Profil gerade der herausragenden Aktoren auf dem Fußballfeld. "Die gute oder schlechte Leistung eines Spielers hängt [...] nicht mehr allein von seiner körperlichen Verfassung ab; seine Aufgaben sind komplexer geworden. Seine Leistung bestimmt sich auch dadurch, wie gut oder schlecht sich seine Wahrnehmung in die der ganzen Mannschaft fügt; wie weit sein Denken und Fühlen 'im Netz' mit dem der übrigen Mannschaft übereinstimmt", schreibt Theweleit. Hinzuzufügen wäre noch: Und inwieweit er die Aktionen der gegnerischen Mannschaft in sein Denken und Fühlen und eben auch Agieren zu berücksichtigen weiß. Spieler müssen also komplexer denken und agieren, zumal dann, wenn die entscheidenden Faktoren, nämlich Zeit und Raum, im Zuge der Spielentwicklung immer knappere Güter werden. Nach Biermann/Fuchs wird das Spielfeld heute durch die agierenden Mannschaften auf bis zu 25 Prozent der bespielbaren Fläche reduziert. Dort tummeln sich dann "selten weniger als 16 der 22 Akteure".

Das führt zu dem Zwang, dass Einzelspieler sich mehr und mehr in die Figuration des Spiels integrieren müssen, sie müssen lernen, das Spiel als Abfolge sich schnell verändernder Figurationen und Muster zu erkennen und adäquat darauf zu reagieren. Sie durchstoßen damit letztlich auch ihre individuellen Grenzen - indem sie nämlich auf externe Ressourcen zugreifen, die ihnen von Mit- und Gegenspielern zur Verfügung gestellt werden. Das Spiel löst sich für sie in eine Abfolge schnell aufeinander folgender Muster auf, in dem alle erforderlichen Informationen abgebildet sind. Wenn man eine Beschreibung der Spielweise Zinedine Zidanes, die Klaus Theweleit geliefert hat, aufschlüsselt, dann lassen sich die folgenden Eigenschaften erkennen: Zidane entzieht sich, er taucht auf, wo man ihn nicht vermutet, er ist immer anspielbar, er nimmt vorweg, wo sich der Ball befinden wird, er schafft sich freien Raum, er täuscht Aktionen an, er spielt ohne Sichtkontakt ab, er hat die Positionen und Laufwege seiner Mitspieler und von Gegenspielern vor Augen, er agiert schnell (und verschafft damit seinen Mitspielern Raum und Zeit), er agiert effektiv und ohne überflüssige Bewegungen, die nur der Selbstdarstellung dienen würden. Schaut man sich diese Eigenschaften genauer an, dann lassen sie sich auf drei Zentren beziehen: Auf den Spieler selbst, auf seine Mitspieler und auf die Gegenspieler seiner Mannschaft. Er muss sich selbst schützen, seine Aktionen ermöglichen, gegenüber seinem direkten Gegenspieler verdecken und möglichst effektiv machen, sich selbst in Position bringen und die darauf folgenden Positionen und Aktionen vorwegnehmen. Er muss die Aktionen seiner Gegenspieler erkennen, sie versuchen zu steuern und wenn möglich in die falsche Richtung - sei es, was seine eigenen Aktionen angeht oder auch die seiner Mitspieler. Das Ganze geschieht in einem figurativen Kontext mit seinen Mitspielern, deren Positionen und Aktionen er nicht nur erkennen und vorwegnehmen muss. Er wird sie auch zu steuern versuchen, und sei es in dem Sinn, dass er Optionen eröffnet oder verschließt. Das alles geschieht nicht nur in sehr kurzen Zeitintervallen, er geschieht vor allen Dingen andauernd (zumindest 90plus Minuten lang).

Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" veröffentlichte im Vorfeld der Europameisterschaft 2004 ein Interview mit Thierry Henry, der zu diesem Zeitpunkt als einer der weltweit besten Stürmer galt. Zumindest sprachen die elf Tore, die er für die französische Nationalmannschaft im Jahr zuvor geschossen hatte, und die dreißig Tore für seinen Verein Arsenal London aus der abgelaufenen Saison für eine solch hohe Einschätzung. Nicht weniger aufschlussreich aber auch das Gespräch, in dem er über die adäquate Art, dieses Spiel zu spielen, spricht.

Er bestätigt dabei im Wesentlichen alle bisherigen Lektüreeindrücke: Das Spiel, betont er, sei heute so schnell geworden, dass die Weiterentwicklung der eigenen Technik vor allem ein Ziel habe: Zeit gewinnen: "Ihn [den Ball] annehmen, mitnehmen, nicht dreimal berühren, wenn du ihn nur einmal berühren mußt. So gewinnst du Zeit, erst so wirst du wirklich schnell." Das Problem ist für ihn nicht der Gegenspieler - ganz im Gegenteil. Sobald er den Ball habe, habe der andere ein Problem, und je besser die eigene Technik und das eigene Verständnis vom Spiel, desto größer die Probleme der Gegenseite (et vice versa). Das ist implementiert in eine Sichtweise des Spiels - die immer auch agiert werden muss -, die verblüffend der Sicht entspricht, die wir von Elias/Dunning und Theweleit entlehnen können. Hinzu kommt, dass Henry offensichtlich die Isolation des Einzelspielers aus dem Spielmuster zu vermeiden sucht und immer das potentielle Anspiel zu ermöglichen sucht. Ich darf diese Passage im Zusammenhang zitieren: "Wenn wir auf unserer rechten Seite angegriffen werden und ich stehe auf der linken, dann werde ich allein sein, isoliert, wenn wir den Ball gewonnen haben. Also verlagere ich mich, sorge dafür, daß ich gut stehe für den Gegenangriff. Wenn der Ball dann kommt, sehe ich das ganze Spiel schon vor mir. Ich sehe die Laufwege, die Paßwege, die Ballannahme, den möglichen Abschluß, alles. Im modernen Spiel geht alles so schnell, zu schnell. Also mußt du dem Spiel im Kopf voraus sein. Du mußt Zeit gewinnen, dann gewinnst du das Spiel."

Das setzt aber eine Denkweise voraus, die in der Tat nicht allein den modernen und hochkompetenten Fußballspieler auszeichnet, sondern als Soll auch das moderne Individuum bestimmt: seinen eigenen Raum bestimmen und strukturieren zu sollen. Dafür gehen wir einen kleinen Umweg.

Das einzige, was dem Spieler Henry Respekt einflößt, ist das Spiel selbst: "Ich habe großen Respekt vor dem Fußballspiel." Die Genauigkeit, mit der auch und gerade auf engstem Raum und in kürzester Zeit agiert werden müsse, und das mit einem Spielgerät, das grundsätzlich in seiner Flugbahn nicht eindeutig determiniert ist. Dass der Ball rund ist, damit das Spiel die Richtung ändern könne, wie Christoph Biermann und Ulrich Fuchs einen Ausspruch von Francis Picabia modifiziert haben, ist nicht nur ein titelgerechter Kalauer, sondern für jeden, der mit einem Ball umgeht ist, das grundlegende Problem: Er ändert die Richtung. Damit wird nicht zuletzt auch auf die Grenze des Spiels und seiner theoretisch unendlichen Formbarkeit sichtbar, der Spieler selbst: "Der Körper des Spielers ist in jedem Fall die entscheidende Grenze. Und dieser ist menschlich-fleischlich wie der des Zuschauers; nur eben talentierter und austrainierter", betont Theweleit. Dieser Körper ist jedoch nicht nur von seinen motorischen Fertigkeiten und Ausbaupotentialen bestimmt. Auch seine intellektuellen bestimmen nicht zuletzt die Kompetenz der Spieler.

Und damit sind wir an dem Punkt, der den gewöhnlichen Fußballer vom außergewöhnlichen unterscheidet, beide aber auch miteinander verbindet. Beide haben in jedem Fall die Fähigkeit, das Spiel als Muster zu sehen und diese Muster für die eigenen Aktionen umzusetzen. Das Spiel zu erlernen und als Spieler Erfahrung zu sammeln besteht vor allem darin, diese spezifische Kompetenz zu erwerben. Jürgen Klopp aber sagt zum kleinen Unterschied, in diesem Fall zwischen erster und zweiter Liga: "Aber was, wenn man den Ball hat? Da werden dramatische Unterschiede deutlich." Nur wenige erreichen jene "spezielle Arroganz, die nur die ganz großen Spieler ausstrahlen", wie Henry zum Schluss seines Gespräche betont (ohne sich davon auch nur auszunehmen, aber das darf er wohl). "Die großen Spieler nehmen den Ball, bringen ihn unter Kontrolle, studieren die Möglichkeiten. Und dabei sind sie ganz entspannt." Sie befinden sich in diesem Moment und, wenn man so sagen darf, in dieser Phase ihrer Karriere, in einem eigenen, spieladäquaten Kosmos, der es ihnen erlaubt, das Spiel so zu gestalten und ihm eine Qualität zu geben, die es ohne sie nicht erreichen würde. Es ist kein Zufall, wenn Henry in diesem Interview nicht nur wiederholt von der Schönheit des Spiels spricht. Er geht noch darüber hinaus und spricht davon - und das gleich zu Anfang -, dass er "Fußball als Kunst erleben" wolle.

Das ist aus zwei Gründen sehr aufschlussreich. Dass ein Akteur auf hohem Niveau sein Spiel, seine Profession nicht nur als leicht gewordene Arbeit, sondern als fast schon metaphysische Handlungsform versteht, hängt mit der hohen Qualität seiner Tätigkeit zusammen, die eben nicht nur körperliche und repetetive Teile, sondern auch intellektuelle umfasst. Dieses Denken in Mustern ist notwendig abstrakt und sieht in einem gewissen Maße von der Leiblichkeit der Co-Aktoren und der Materialität des Spiels ab. Schönheit ist eine Qualität der Abstraktion und der Komplexität, der Leichtigkeit und der unerwarteten Varianz des Spiels in seiner Entfaltung, mithin also des hohen Niveaus. Dass dies also als schön, ästhetisch, mithin als Kunst erfahren wird, will nichts anderes als seine qualitative Auszeichnung. Das ist legitim und vor allem konsensfähig.

Hinzu kommt aber noch ein Aspekt, der bereits von Elias/Dunning angeführt worden ist und der hier von der, sagen wir, produktionsästhetischen Seite gefasst wird: Das Spiel darf nie langweilig werden, es muss kreative, überraschende Momente haben. Elias/Dunning haben dieses Moment vor allem in Hinblick darauf angeführt, dass das mimetische Miterleben, die Dramatik und Spannung des Spiels Langeweile nicht zulassen dürfe, weil damit seine gesellschaftliche kompensatorische Funktion nicht erfüllt werden können. Insofern lebt das Spiel von der Überraschung, die eben nicht von der grundlegenden Überlegenheit der einen Gruppe über die andere ausgehe, sondern von der grundsätzlichen Balance der Kräfte und deren individuelle Überwindung und der Varianz der Spielmuster und Figurationen. Gewährleistet wird das nicht zuletzt durch die Spielregeln. Aber das Spiel kann sich auch in ihrem engen Rahmen entwickeln.

Insofern haben wir mit den großen Spielern à la Zidane und Henry zwar in der Tat die Helden, die Hauptfiguren, die Macher des Spiels vor uns, ihre Qualifikation ist aber eine andere als die der Helden der Vorzeit, sagen wir der Cruyff, Overath und Beckenbauer. Auch diese Spieler haben, glaubt man den Gewährsleuten Theweleit und Biermann/Fuchs, das Spiel zu ihrer Zeit modernisiert. Sie taten das aber in einem Moment, in dem die Figuration deutlich stärker determiniert war als heute, da die Arbeitsteilung und Hierarchisierung stärker war. Erst die flexiblen und relativ gleichgewichtigen Gruppen der Gegenwart, die über Auswahl, Training und Ausbildung auf Selbständigkeit und Integration ausgerichtet werden, haben die Chance, Figuren wie Zidane und Henry hervorzubringen. Und sie benötigen sie auch. Denn der Ball ist nicht nur rund, das Spiel ist nicht nur neunzig Minuten, es ist auch schneller, athletischer und besser geworden. Es passt zu unserer Zeit.

4. Coda: Von Mainz 05 lernen heißt modernisieren lernen?

Das haben wir bereits zitiert, die Antwort, die Jürgen Klopp, für die Bundesliga das, was Klinsmann/Löw für die Nationalmannschaft ist, auf die folgende Frage gab: "Mit Mainz sei der Ruck durch die Liga gegangen, der dem Land noch fehle". - "Viel zu hoch gehängt." Aber nach dem Jammertal von Wirtschaftsmisere, Miesmacherei, Standortkritik, Jobabbau und Konsumboykott, insgesamt als Reformstau apostrophiert, machen Fußballmannschaften, die sich aus all dem lösen und mit sichtlichem Spaß ihrer Arbeit nachgehen, Lust auf mehr, nicht nur im Fußball. Und da wir den iconic turn hinter uns haben und sowieso in symbolischen Zeiten leben, ist nicht ganz auszuschließen, dass das Ganze wohl Wirkung zeigen wird.

Sowieso liegt die eigentliche soziologische Verrechenbarkeit von Fußballspiel und sozialem Leben, die Jürgen Kaube in einer Besprechung von Theweleits Fußballbüchlein so harsch abgelehnt hat, auf einer anderen Linie, die der Individualisierung der Lebenswelt, die sich in Beliebigkeit, Segmentierung und Dissoziation bemerkbar macht.

Elias/Dunning haben Sportgruppen als Exempel für die Analyse von sozialen Kleingruppen verstanden. Demnach wären sämtliche Faktoren und Elemente, die bei der Analyse des Spiels beschrieben werden können, auch dort wieder zu finden. Dies lässt sich etwa über die Polaritäten nachvollziehen, die Elias/Dunning im Spiel aufgefunden haben: "1. die [...] Polarität zwischen den beiden gegnerischen Mannschaften; 2 die Polarität von Angriff und Verteidigung; 3. die Polarität zwischen Kooperation und Spannung zwischen den beiden Mannschaften; 4. die Polarität zwischen Kooperation und Konkurrenzspannung innerhalb jeder Mannschaft." Dem ist wohl zuzustimmen. Viele dieser Polaritäten gehören auch zum Grundgefüge anderer sozialer Gruppen, deren Zweck nicht das Spiel, sondern zum Beispiel das Design, die Produktion und der Verkauf eines Produktes ist. Treffen solche Gruppen auf andere, etwa beim Gespräch zwischen Verkäufer- und Käufergruppen, dann erweitern sich sogar die Übertragungsmöglichkeiten und damit auch die Möglichkeiten, aus der Analyse etwas über das Funktionieren sozialer Gruppen zu lernen. Verkaufsgespräche sind in der Tat dynamische Aktionen, die von den Rahmenbedingungen, der Rollenverteilung der Mitspieler, der flexiblen Handhabung von Regeln, einer Strategie und deren Modifikation bestimmt werden, die nicht zuletzt von der Kompetenz der Spieler abhängt, dem Spiel überraschende, intelligente und erfolgreiche Wendungen zu geben. Nur an Zuschauern hapert es in diesen Wettkämpfen meist - und Wettkämpfe sind es auch meist nicht.

Zu klären ist auch, inwieweit die Analyse des Fußballspiels und seiner Entwicklung Aussagekraft für die Entwicklung der gesellschaftlichen Praxis hat und inwieweit Analogien von Habitus und Handlung von Spiel-Akteuren mit denen in der Realität bestehen. Dass sie dabei eine deutlich differente Ausrichtung haben - in den meisten Büros liegen keine Bälle herum, die getreten werden müssen, und Lebensläufe lassen sich zwar an Siegen oder Niederlagen ausrichten (aber die Tore, wo stehen die? Und wer pfeift nach 90 Minuten ab?) - tut dem keinen Abbruch. Die akzeptierten Übertragungsleistungen, die dafür notwendig sind, sind ja relativ gering. Nicht zuletzt deshalb hat ein Oliver Bierhoff vor seiner Nationalmannschaftsmanagerkarriere bereits eine Karriere als Motivationsredner antreten können: Was denn aus dem Sport für die eigene - und jetzt fällts dann doch - Karriere zu lernen wäre, wenns nicht gleich das Leben sein soll.

Wer kein Starspieler ist, wird darauf nur antworten können: verlieren, und das mit Anstand. Aber das klingt deutlich schwärzer, als es gemeint ist. Denn auch hier unten kann das Spiel eine Menge Spaß machen, sieht doch Theweleit heute schon "Jugendmannschaften auf dem Feld denken. Das konnte man noch vor zwanzig Jahren nicht." Das ist wohl erstaunlich und zumal - möglicherweise - die wahre Revolution seitdem, wenn nicht seit '68: Systeme sind intelligent geworden und mit ihnen ihre Akteuren.

Ach ja, das eine noch, abschließend: "Entscheidend is aufm Platz." Und bleibt es wohl auch.

Anmerkung der Redaktion: Der hier leicht modifiziert publizierte Text ist zuerst erschienen in: "Leben - Texte - Kontexte. Festschrift für Dieter Keiner zum 66. Geburtstag". Hrsg. von Ulla Bracht. Frankfurt am Main et al. 2006, S. 292-308. Gekürzt erschien der Artikel bereits unter dem Titel "Ballsport als soziale Figur" in: Merkur 59 (2005) H. 12, Nr. 680, S. 1154-1163. Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.