Zu sich selbst verschieden sein

Varianten in der Editionswissenschaft

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Den Versuch einer Theorie zur "Variante" wird man dem Band über die Bedeutung der Varianten in den Editionswissenschaften nicht entnehmen können. Aber eine kritische Darstellung des Begriffs und seines Gebrauchs - etwa in Abgrenzung zum Begriff "Lesart" - findet man im Vorwort: "Editoren betrachten Varianten natürlich zuerst aus der Perspektive der jeweils spezifischen Überlieferung, legen dann das textkritische Potential der Variante frei und dokumentieren, wenn es die Überlieferung zuläßt, ihre Funktion für die Textgestaltung und den Schreibprozeß."

Der "normale" Leser hat mit der Variante, wie sie der Editor versteht, nichts zu tun. Vielleicht ist es sinnvoll, den Unterschied zwischen Variante und Lesart zu kennen, um die Erläuterungen im Anhang eines Buches zu verstehen. Aber genau damit steht man schon inmitten der Problematik, die Ausgangpunkt als auch Thema des Bands ist. Es "wird doch überwiegend Variante im Sinne von Entstehungsvariante und Lesart im Sinne von Überlieferungsvariante verstanden". Aber die Formulierung muss schon mit den Schwierigkeiten der ungenauen Begriffsbestimmung ringen und zusammenfassend konstatieren die Herausgeber zu dem Thema "Variante": " Vor diesem hier nur knapp skizzierten Hintergrund erscheint eine Bestandsaufnahme notwendig."

Und genau das liefern die Beiträge des vorliegenden Sammelbands. Sie bieten einen Überblick zu den verschiedenen Autoren, bewegen sich von der mittelalterlichen und antiken Literatur bis an die Gegenwart heran und versuchen dabei auch die altphilologischen und musikwissenschaftlichen Diskussionen zum Thema "Variante" einzubeziehen. Das Spektrum reicht von mittelalterlicher Literatur über Shakespeare, Goethe, Nietzsche bis hin zu Beckett und Erich Fried.

Für den Editor und den Editionswissenschaftler ist dies ein unentbehrlicher Band, bringt er doch mit der Vielzahl der Beiträge etwas Licht in die Problematik. Aber was nützt er nun dem Nicht-Editionswissenschaftler? Er bietet philologische Kommentare zum Thema "Variante" und liefert in metatheoretischer Hinsicht Ausführungen zu der Frage, was die Variante für die Literatur, den Autor, den Leser und seine Vorstellung von der Literatur eines Autors bedeuteten könnte.

Mit jedem Beitrag werden die unterschiedlichen Perspektiven und Auffassungen vom Edieren von Texten deutlicher und lassen sich dabei gleichzeitig an dem Beispiel "Variante" in ihrer Verschiedenheit unterscheiden. Fast unbeabsichtigt erscheint es, dass unter der Hand ein kleiner Ausschnitt eines "Handbuchs der Editionswissenschaft" entsteht, das im Detail beginnt und anhand praktischer Beispiele die Edition von Texten und die damit verbundenen Probleme verdeutlicht. Dass dies kein Zufall ist, kann man an den zu ähnlichen Themen herausgegebenen Bänden von Bodo Plachta sehen, man vergleiche dazu nur den Band "Autor - Autorisation - Authentizität" (Niemeyer 2004). Man darf auf die zusammenfassenden Ergebnisse dieser Veröffentlichungen zur Editionsgeschichte gespannt sein.


Titelbild

Christa Jansohn / Bodo Plachta (Hg.): Varianten - Variants - Variantes.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2005.
254 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3484295228

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