Heilige Schriften - revisited

Rüdiger Nutt-Kofoth sammelt Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Karl Lachmann, ursprünglich Altphilologe und heute Übervater der germanistischen Editoren, empörte sich 1840 in einer Selbstanzeige seiner Lessing-Ausgabe über das Unverständnis der Kritiker, die ihm Pedanterie vorwarfen, und selbst des Verlegers Brockhaus, dem das Projekt wohl zu unkommerziell erschien und der seiner Kundschaft lieber die ebenfalls von ihm angebotene, aber preiswertere Auswahlausgabe empfahl.

Derartige Klagen dürften in den seither vergangenen 176 Jahren häufiger laut geworden sein. Zugleich nimmt der heutige Leser aber wahr, welche Chancen die Verwissenschaftlichung von Editionen mit sich brachte: Einigermaßen unabhängig von den Moden und ökonomischen Zwängen des literarischen Felds, hingegen den Standards des wissenschaftlichen Felds verpflichtet, gelang es in einer Vielzahl von Experimenten - wenn man oft vielbändige Werkausgaben aus der Sicht der Nachwelt so nennen darf - das Instrumentarium der kritischen Präsentation oft komplizierter Texte und ihrer Überlieferungen immer wieder zu verfeinern. Der schwer greifbare 'Autorwille' wurde dabei zunehmend in der editorischen Mottenkiste abgelegt.

Immer präziser reflektieren Herausgeber darauf, welcher Text und welche Varianten dem Leser mitzuteilen seien und wie die Form dieser Mitteilung Transparenz mit Texttreue vereinbaren könne. Von diesem Weg, der im Wesentlichen mit Lachmann beginnt und der in den letzten Jahrzehnten unverkennbar ein eigenständiges Forschungsparadigma begründet hat, berichtet Nutt-Kofoths Dokumentenband.

Der Band versammelt 35 Texte aus der Zeit zwischen 1750 und 1970; sie alle begründen, erläutern oder kritisieren den editorischen Umgang mit Texten deutschsprachiger Autoren. Es handelt sich um Einleitungen, im 20. Jahrhundert dann auch zunehmend um wissenschaftliche Aufsätze und Arbeitsprogramme. Fokussiert wird also die Editionsgeschichte neuerer literarischer Texte als die einer wissenschaftlichen Tätigkeit. Karl Lachmann ist mit seiner Lessing-Edition der Prototyp und Begründer eines solchen kritischen Edierens, die Schlusszäsur 1970 bezeichnet den Beginn einer (mittlerweile bereits wieder vergangenen) Blütezeit; aus der jüngeren Vergangenheit hätte der Herausgeber nicht so leicht und überzeugend die innovativen und einflussreichen Beiträge auswählen können, wie das für die Zeit davor möglich war.

Die naturgemäß oft sehr ins editorische Detail gehenden Texte vermitteln dem geduldigen Leser nach und nach einen Überblick über die wichtigen Stationen der Editionsphilologie, da sie sich noch nicht als 'Editionswissenschaft' bezeichnete. Allerdings ist dabei Rüdiger Nutt-Kofoths kenntnisreiche Einleitung vor allem dem weniger versierten Leser eine große Hilfe. Hinter dem oft recht nüchternen Fachchinesisch mancher Beiträge verbirgt sich ein immer skrupulöseres Nachdenken über Textkonstitution und, schon seit Lachmann, Apparatgestaltung, die vor allem der Komplexität der handschriftlichen Überlieferung gerecht werden soll - immer weniger einem als mythisch begriffenen, nicht mehr einlösbaren Autorwillen.

An die Stelle des Aufblicks zum Dichter und seinem Erbe tritt ein genauer werdender Blick 'nach unten', nämlich auf die Handschrift; die bedingungslose Klassikerverehrung wird im 20. Jahrhundert zunehmend durch nüchterne und kompromisslose Arbeit am Text ersetzt. Diese Entwicklung setzt recht langsam ein: es muss gelernt werden, zwischen Entstehungs- und Überlieferungsvariante zu unterscheiden. Das Wissen über die oft verschleierte, auch dem Autor unbekannt gebliebene Druckgeschichte muss erst erworben werden; immer kompliziertere Überlieferungssituationen werden editorisch in Angriff genommen: Beißners Hölderlin-Ausgabe und Zellers Meyer-Ausgabe markieren den vorläufigen Endpunkt der Sammlung. Erstaunlich ist, wie 'modern' zum Teil die Editions-Veteranen dachten: Karl Goedeke spekulierte in den 1860er Jahren etwa schon über die Bedeutung der Photographie zur Sicherung der Überlieferung.

Im 20. Jahrhundert wird die 'endgültige' Fassung eines Textes zugunsten der Berücksichtigung früherer Textstufen verworfen und damit zugunsten einer Beleuchtung des Arbeitsprozesses des Autors, der seinen publizierten Text also nicht einer creatio ex nihilo verdankt. Das literarische Genie wird also nicht zuletzt durch seine Editoren entzaubert. Aufwertung und Selbstkritik ist es, wenn der Heine-Herausgeber Manfred Windfuhr in den 1950er Jahren den Editor auch als Interpreten zu etablieren sucht - er wird (etwa neben dem Verleger oder dem Kritiker) als Medium, als Zwischeninstanz zwischen Autor und Leser erkennbar und ist eben nicht mehr willfähriger Erfüllungsgehilfe des Autors. Der Durchgang durch die Historie zeigt aber auch, dass zwar der Autor-Schöpfer aus dem Blickfeld rückt, die 'Heiligkeit' seiner Texte sich aber vielleicht nun an der zunehmenden Skrupulosität bemisst, mit der der Editor und der von ihm dazu eingeladene Leser diesen Texten begegnet, vor allem den aufgrund ihrer Materialität ja schlicht vom Verfall bedrohten Handschriften, die in möglichst haltbare Medien gerettet werden sollen.

Vergleichsweise stiefmütterlich wird die noch wenig professionalisierte Frühphase vor Lachmann behandelt. Schon die frühen Wieland- und Goethe-Ausgaben stellten die Weichen für die künftigen Klassiker-Editionen, romantische Editionen (Novalis, Kleist, Lenz) sind ausgesprochen folgenreich bis heute und auch die einst erfolgreichen und als Korrektiv der Leistungen und Fehlleistungen der 'Profis' bedeutsamen Arbeiten von schon zu Lebzeiten verpönten Außenseitern wie Heinrich Düntzer hätten in der Anthologie mehr Beachtung finden können.

Es ist kein Nachteil, dass der Band vorwiegend an den Spezialisten adressiert ist. Zwangsläufig handelt es sich vielfach um Texte, die ohne Fachwissen nur schwer zum Sprechen gebracht werden können. Mitunter wäre ein Stellenkommentar angezeigt gewesen, denn wer der von Georg Witkowski in einer Festrede adressierte Julius Wahle war, dürfte nur in den inneren Zirkeln der Goethe-Forschung noch zum Grundwissen gehören. Dennoch: Der Anspruch, Bausteine auf dem Weg zu einer Geschichte der Edition zu liefern, wird vollauf eingelöst. Textauswahl und -präsentation erfolgen sorgfältig, biografische Hinweise zu den Verfassern - nicht immer sind es Zelebritäten - sind ausgesprochen nützlich.


Titelbild

Rüdiger Nutt-Kofoth (Hg.): Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2005.
357 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-10: 3484297018

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