Barbarisches Genie

Gunnar Deckers neue Benn-Biografie

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sich über Jahre hinweg in das Leben und das Werk eines Unbekannten einzuarbeiten, um daraus, sagen wir, ein Buch zu kreieren, ist eine unglaubliche Leistung - einerseits. Der Versuch, in die Haut eines anderen zu kriechen, um ihn endlich wirklich zu begreifen, ist und bleibt andererseits ein denkbar unhöflicher Vorgang. Was gehen uns die Freuden und Leiden, Liebe und Hass, Freundlichkeiten und Vergehen, die biografischen Prägungen, die Kämpfe und Siege von Autorinnen und Autoren überhaupt an? Können wir es uns erlauben, in das Leben eines Autors, einer Autorin einzudringen, weil sie den Fehler gemacht haben, uns literarische Texte zum Fraß vorzuwerfen? Sind sie uns damit völlig ausgeliefert? Spätestens nach ihrem Tod, auf Gedeih und Verderb? Eigentlich nicht, faktisch aber dann doch.

Freilich, selbst wenn wir zu der Einsicht kämen, dass selbst Autoren eine Privatsphäre verdient haben, wird das an der biografischen Praxis nichts ändern. Und das auch zu Recht, denn für Literaturhistoriker bleibt die Autorbiografie ein zentrales Element ihrer heuristischen Arbeit. Sie ist als regulatives Element für die Interpretation ebenso unverzichtbar wie das Verständnis von der Literatur, der Kultur, der Gesellschaft der Lebenszeit eines Autors. Ohne einen angemessenen historischen Hintergrund ist nichts und niemand verstehbar. Und dazu gehört eben auch die Biografie eines Autors. Sie mögen uns das verzeihen.

Freilich ist damit nicht jene Küchenpsychologie gemeint, mit der jede Eigenschaft auf frühkindliche Störungen, den Hass auf die Geschwister (ewige Konkurrenten!), zu frühes Abstillen oder einen autoritären Vater zurückgeführt wird. Natürlich hat die Herkunft aus einem protestantischen Pfarrerhaushalt, um damit gleich auf den hier zu besprechenden Band von Gunnar Decker und seinen Gegenstand zu kommen, Gottfried Benn geprägt. Selbstverständlich schleppt Benn das Verhältnis zum Vater, der ja für jeden Sohn der unhintergehbare Repräsentant der Macht und des Wortes oder auch nur das symbolisch aufgeladene Alter Ego sein muss, sein ganzes Leben über mit sich herum. Keine Frage, dass die medizinische Ausbildung Benns Denken und Sprechen, ja schließlich sein Schreiben mitbestimmt. Aber was heißt das jetzt genau? Denn immerhin ist Gottfried Benn eben nur deshalb Gottfried Benn, weil die Bedingungen, unter denen er seine Existenz bewältigt, nur für ihn gelten, wie er auch allein daraus das macht, was sich dann am Ende sein Leben nennen wird.

Anders gesagt: Können wir aus seiner Literatur auf ihn selbst schließen? Recht besehen eigentlich nicht. Denn dass beziehungsweise ob dieser Gottfried Benn voller "zurückgestautem Haß", "auch Selbsthaß" ist, wie Decker angesichts einiger Verse aus dem Gedicht "Der Arzt" schreibt, lässt sich bestenfalls als Vermutung äußern. Gewissheit wird es darüber nie geben, kann es auch nicht, denn methodisch gesehen ist der Durchgriff vom Text auf den Autor nur unter der Prämisse möglich, im Text, zumal im lyrischen Text, einen direkten subjektiven Ausdruck, wenn nicht ein Abbild des Subjekts zu vermuten. Das funktioniert jedoch nicht einmal für die hohe Zeit der subjektiven Literatur in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Selbst da, wo Autoren "ich" sagen und sich selbst meinen, stehen Inszenierung, Rolle, Experiment und uneigentliches Sprechen ganz furchtbar im Weg herum - freilich wie in jedem anderen Text auch. Denn Texte bewegen sich immer auf einer anderen Ebene als das gelebte Leben (Sie erinnern sich? Das alte Problem von der Landkarte und dem Landstrich, den sie repräsentiert.) Wo aber die Mittel fehlen, die Verbindung zwischen Person und Text eindeutig zu definieren, bleiben Vermutungen, böswillig formuliert, Unterstellungen oder gar das Gespür des Interpreten, in der Art von: "Wenn Benn so schreibt, dann spürt man, in diesem Moment trägt er keine Maske, dies ist sein ureigenstes Bekenntnis ...". Benn ohne Maske? Wenn das mal keine Maske ist.

Nun ließe sich mit solchen methodischen Vorbehalten das gesamte biografische Genre in die literaturwissenschaftliche Klamottenkiste werfen (Strukturalisten neigen gelegentlich dazu) - das ist aber keineswegs gerechtfertigt. Denn wie viele großartige Kollegen kann man auch Gunnar Decker für seine Benn-Biografie nur loben. Und man kann kräftig mit ihm streiten.

Tun wir das doch mal: Das Verhältnis zu Brecht könnte man etwa anders einschätzen, zumindest von Seiten des Antipoden, denn Brecht hat Benn durchaus wahrgenommen, mehr noch: Er hat Benn für seine "Morgue"-Gedichte zwar als "Pfaffen mit umgekehrten Vorzeichen" tituliert, was angesichts des unterschiedlichen Lyrik-Konzepts kaum anders zu erwarten gewesen ist. Brecht hat Benn allerdings anscheinend zugleich geschätzt: Beide Autoren kannten sich spätestens seit 1922 persönlich, wahrscheinlich aus Berlin. Brecht schickte Benn 1927 ein Widmungsexemplar der "Hauspostille" und hat sogar 1929 begonnen, eine "Verteidigung des Lyrikers Gottfried Benn" zu schreiben. Und das, obwohl Egon Erwin Kisch und Johannes R. Becher Benn heftig attackierten. Erst nach 1933 revidierte Brecht seine Position. Er sah in Benns NS-Apologetik die Haltung "gescheiterte[r] Existenzen", die mit "Stahlruten in der Hand" ihrem Dasein Halt zu geben und anderen Beine zu machen versuchten. In diesem Zusammenhang folgt dann auch der bekannte Kommentar Brechts: "Dieser Schleim legt Wert darauf, mindestens eine halbe Million Jahre alt zu sein."

Trotzdem hat Brecht nach 1945 in einer seiner zahllosen Gedichtnotizen auch jene berühmten Benn-Verse geschrieben, die von der Wirkung der "Verse[] / Des todessüchtigen Benn / [...] auf Arbeitergesichtern" sprechen (in der neuen Brecht-Ausgabe übrigens nur unter dem ungewohnten Titel: "Zwei mal zwei ist vier" zu finden). Von Benns Seite mag das anders aussehen, wenn man Decker folgen darf. Aber auch dem kann man mindestens ein Gedicht entgegenhalten, aus dem sich schließen lässt, dass er Brecht wahrgenommen hat. Oder erinnert das von Decker selbst abgedruckte Benn-Gedicht "Was schlimm ist" nicht fatal an Brecht? Die Vorliebe für Kriminalromane, fürs Profane und die Frauen haben beide immerhin geteilt.

Oder ein anderes Thema: Ohne Zweifel bemerkenswert ist Deckers Basis-These zu Benn, die sich auch im Untertitel seiner Biografie findet: Das Wesen des Autors changiere zwischen "Genie und Barbar". Lassen wir das Genie ein wenig beiseite, Benn mag es gegönnt sein (und seine Vorliebe für Schlager und Krimis ehrt ihn immerhin). Die Barbaren-These aber hat es in sich, wird hier doch eine negative Sicht Benns auf seine Gesellschaft und ihre Entwicklung erkennbar. Das ist gespeist - und Decker weist nachdrücklich darauf hin - von der medizinischen Ausbildung Benns. Zugleich aber spielen die persönlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen Benns, wie auch die Brüche und Extremerfahrungen der Gesellschaft, in der er lebt, hier eine zentrale Rolle. Und dazu gehören die enormen gesellschaftlichen Veränderungen vom 19. zum 20. Jahrhundert und deren extremster Ausdruck, der Große Krieg. Die Konjunktur des Nietzscheanischen Barbaren im frühen 20. Jahrhundert weist aber auf große Erschütterungen hin, die zu einer optimistischen Weltauffassung kaum Anlass bietet. Was Oswald Spengler im "Untergang des Abendlandes" aufgreift, findet sich anschließend bei so unterschiedlichen Autoren wie Bertolt Brecht, Walter Benjamin, Carl Schmitt, Ernst Jünger, Alfred Döblin - oder eben bei Gottfried Benn. Damit lässt sich Benn in einen weitaus größeren und widersprüchlicheren Denkzusammenhang stellen, als es auch Decker tut. Auch das ist nicht wirklich neu - aber immer noch ungewohnt, oder?

Soll das Kritik an Decker sein? Nein. Dass seine Biografie Anlass für solche Diskussionen, Gegenreden oder Fortschreibungen bietet, macht ja die Qualität seiner Arbeit aus. Naturgemäß muss er zwischen biografischen und literarischen Quellen wechseln, immerhin schreibt er die Biografie eines Autors. Nahe liegend ist deshalb die Biografie in großen Teilen ein Kommentar zum Werk - und ein brauchbarer immerhin. Und Hand aufs Herz und mit Verve gegen die methodischen Mäkeleien zu Beginn: Wir haben kaum mehr als Texte, die uns Aufschluss über Leben und Werk von Autorinnen und Autoren geben, unabhängig davon, ob es sich um literarische Dokumente, Briefe, Essays, autobiografische Zeugnisse oder Texte anderer handelt. Mit diesem Material ist immer zu arbeiten, und wenn überhaupt hier mit Biografen zu diskutieren ist, dann wegen Argumentationen, die nicht plausibel sind, oder wegen der Verletzung der Intimsphäre, die auch Autoren für sich beanspruchen dürfen (selbst wenn sie sie selbst offen legen). Das eine ist eine Frage der handwerklichen Sauberkeit, das andere eine des guten Geschmacks. Nur das Erste lässt sich kritisieren, und wer gegen das Zweite nicht verstoßen will, sollte keine Biografien schreiben oder etwa lesen.


Titelbild

Gunnar Decker: Gottfried Benn. Genie und Barbar. Biographie.
Aufbau Verlag, Berlin 2006.
544 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-10: 3351026323

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch