Ein türkischer Literaturskandal in Deutschland?

Kritischer Kommentar zum Streit um Feridun Zaimoglus "Leyla" und Emine Sevgi Özdamars "Das Leben ist eine Karawanserei"

Von Norbert MecklenburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Mecklenburg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine sehr merkwürdige Debatte schwelt seit etwa zwei Monaten nach seinem Erscheinen um den Roman "Leyla" von Feridun Zaimoglu im Frühjahr 2006. Der Autor ist mit "Kanak Sprak" als literarischer Bürgerschreck aus einem türkischen Underground bekannt geworden und hat sich inzwischen mit mehreren Prosabüchern bei dem renommierten Verlag Kiepenheuer & Witsch profiliert. Jetzt kommt er ins Gerede, in den Verdacht, da sei etwas faul. Manche "Leyla"-Leser dürften den Roman "Das Leben ist eine Karawanserei" von Emine Sevgi Özdamar kennen, das bekannteste Buch der bekanntesten türkisch-deutschen Autorin. Sie mögen über sehr merkwürdige Parallelen zwischen beiden Büchern gestolpert sein.

Und je mehr sie suchen, desto mehr könnten sie finden. Wie umfangreich sind diese Parallelen, in welchem Verhältnis stehen sie zu den Nicht-Parallelen, und was für Schlüsse lassen sich daraus ziehen? Darüber geht die Debatte, die inzwischen nicht mehr schwelt, sondern in helle Flammen ausgebrochen ist. Kostproben dieser sonderbaren "Motivkonkurrenz" (Christoph Schröder in der FR vom 31. 5. 2006) sind zu lesen. Es wird gefragt, wem Zaimoglu, außer seiner Mutter, deren Leben er nach ihren Erzählungen erzählt, sonst noch etwas "abgelauscht" hat. Wer sich über der in der Tat frappierenden Anzahl von teilweise sehr unwahrscheinlichen Parallelen die Augen reibt, hat eine Wahl: das Unwahrscheinliche auf Wahrscheinliches zurückführen - oder an ein Wunder glauben.

Natürlich kann gleicher Stoff in verschiedenen Romanen gleiche Motive ergeben. Überzieht man dieses Argument jedoch, so landet man, wie etliche voreilige Debattenhelden, schnell bei den dümmsten Dummheiten: Alle Chinesen sehen gleich aus. Alle türkischen Kinder bringen als ihr erstes Wort 'Furz' bzw. 'Pups' hervor. Alle türkischen Mädchen sammeln Kämme ohne Zinken, werden für ihre erste Blutung von ihren Müttern geohrfeigt, pinkeln schon mal im Stehen, machen Kussübungen im Spiegel usw. Dies sind Beispiele aus der Liste der unzähligen unwahrscheinlichen Parallelen zwischen beiden Büchern. Mit "derselben Lebenswelt", "demselben Kulturkreis" (Jens-Christian Rabe in der SZ vom 10./11. 6. 2006) - dies ein Schlagwort der terrible simplificateurs, die uns einen 'Kampf der Kulturen' aufschwatzen -, mit einer 'türkischen Lebensart', ähnlichen 'Kindheitsmythen' oder einem kollektiven 'Volksmund' lassen sich die nicht wegreden, denn es gibt sie nur zwischen diesen beiden Texten und sonst nirgendwo.

Nehmen wir nur zwei von ungezählten Beispielen! Bei Özdamar wird der Euphrat gleich auf den ersten Seiten als "silberne Schlange" und später als "Fluss 'Verrückter Euphrat'" bezeichnet. In "Leyla" haargenau dieselben Metaphern: "Schlangenlinien", "Silberglanz", die Euphratwasser "sind verrückt". In der "Karawanserei" ist der Name 'Verrückter Euphrat' klar als Zitat aus mündlicher, regionaler Tradition markiert, aus der vielleicht die ganze dem Großvater zugeschriebene, archaisch rohe Geschichte stammt, die den Kontext bildet. Da könnte man nun schnell auf ein gemeinsames Reservoir von Sprichwörtern und Alltagswissen der Leute aus der Gegend von Malatya schließen, und ausschließen lässt sich diese Erklärung der Parallele nicht - abgesehen von Schlange und Silber, die Özdamars individuelle poetische Zugaben sind. Dagegen aber ließe sich halten, dass bei Zaimoglu diese Markierung gerade fehlt, dass vielmehr Leyla selbst - also der Autor - die Metapher der Verrücktheit des Flusswassers genial erfindet. Das gibt zu denken, aber lassen wir die Frage offen, bis die Tonbänder mit Frau Güler Zaimoglus Stimme sie klären!

Ein zweites Beispiel: In beiden Romanen haben die beiden Mädchen einen toten Bruder, und mit seiner Erwähnung verbindet sich beide Mal das Motiv der Spinne: bei Özdamar als abergläubische Metapher: der Bruder als Spinne - bei Zaimoglu als scheinbar beiläufige Metonymie. Bei dieser sehr auffälligen Parallele wird ganz richtig darauf hingewiesen, dass sie sich durch zweimaligen Zugriff auf gemeinsames kulturelles Wissen erklären ließe (Rabe). Aber dieser Hinweis ist typisch kurzschlüssig. Denn wer meint, immer wenn Türken von Toten reden, assoziieren sie Spinnen, unterschätzt sträflich den Reichtum dieses Wissens. Das Besondere und Erklärungsbedürftige an dieser Parallele ist eben, dass Zaimoglu unter den zahlreichen türkischen Sprüchen der Volkskultur über Tote - mit einer Aufzählung ließen sich viele Seiten füllen - just die eine bringt, die schon Özdamar aus dieser Fülle ausgewählt hat.

Eine offene literaturkritische Debatte ist also fällig, und zwar ruhig mit einem Schuss Polemik. Denn bisher ist sie empörend einseitig und parteiisch geführt worden, hat nachgerade Züge einer Kampagne gegen Emine Sevgi Özdamar angenommen. Es haben sich nahezu ausschließlich Stimmen zu Wort gemeldet, die sich wie ein Mann hinter Zaimoglu stellen. Einige tun das wohl schon deshalb, weil sie ein paar Wochen zuvor als Rezensenten den Roman in den denkbar höchsten Tönen etwas vorlaut gelobt hatten. Jetzt behaupten sie unbeirrbar immer noch eine "ungeheure poetische Kraft und Sprachmacht" zu spüren (Volker Weidermann in der FAZ vom 4. 6. 2006). Es sind übrigens bisher fast alles Männer, gelegentlich mit entsprechenden Phantasien. So wenn einer von ihnen Vermutungen über die Parallelen zwischen den beiden Romanen als den Verdacht verhöhnt, "dass sich hier ein brachialer Mann über den zarten Textkörper einer Frau hergemacht hat" (Jens Jessen in der ZEIT vom 8. 6. 2006). Muss ein als literarischer Grellschreiber und verbaler Klamaukclown aufgetretener Autor nur den Biedermann, vor allem den Biedersohn geben, und schon zerschmelzen die Herzen solcher Kritikerhelden, in denen gleichfalls das Muttersöhnchen steckt?

Könnte sich damit auch ein grober Schnitzer erklären lassen, den all diese Rezensenten begangen haben? Wenn sie mit geläufiger Reklamerhetorik "Leyla" als neues Wunderwerk priesen, bewunderten sie besonders, dass da ein Mann so überzeugend aus der Sicht und mit der Stimme einer Frau erzähle. Haben sie denn nicht bemerkt (oder nicht so weit gelesen, nämlich bis S. 111), welch üblen Schnitzer sich Zaimoglu gerade in diesem Punkt erlaubt hat? Als Beispiel sei nur eine Episode genannt, in der Leyla erzählt, wie ihr Bruder als Schüler von seiner Französischlehrerin verführt wird. Das kann sie in dieser Detailgenauigkeit weder von ihrem Bruder erfahren haben, noch könnte sie es in diesem Stil erzählen, denn Zaimoglu bietet uns hier literarischen Softporno. Nun gibt es aber eine einzige Passage, die in diesem peinlich voyeuristischen Abschnitt durch einen gewissen literarischen Glanz auffällt: die filmtrickartige Verfremdung einer Liebesszene. Sie ähnelt auf verblüffende Weise inhaltlich und strukturell einer Stelle in der "Karawanserei".

Wenige Rezensenten von "Leyla" sind unter so viel Berauschten nüchtern geblieben und haben, wie Fridtjof Küchemann (in "Literaturen" 3/2006), diesen schwerwiegenden Mangel, der die Glaubwürdigkeit der ganzen Erzählform in Zweifel bringt, klar benannt: dass die Erzählerin Leyla "manchmal von Dingen weiß, die sich ihrer Kenntnis eigentlich entziehen müssten". Diese Nüchternheit erlaubt es ihm, auch die übrigen Schwächen des Romans ungeschminkt anzusprechen: ein "blutarm" bloß demonstrierendes, nicht wirklich erzählendes Ausbreiten von anatolischen Details und Realien, die dennoch "seltsam ort- und zeitlos" wirken; eine ebenso hölzerne Aufreihung einer Fülle von Figuren, die "kaum ein Eigenleben entwickeln", vielmehr schiere "Funktions-Darsteller" bleiben; die Eintönigkeit der Erzählstimme, abgesehen von "ein wenig Wortgeklingel". Man muss dem Fazit nicht unbedingt zustimmen, hier biete Zaimoglu ein literarisches "Heimatmuseum", aber man wird durch diese dankenswerte Kritik geimpft gegen die hymnischen Lobesformeln der erweckten Zaimoglu-Gläubigen unter den Kritikern.

Die etwas Besonneneren unter ihnen räumen immerhin ein, dass die Parallelen erstaunlich, frappierend, auffällig, rätselhaft sind. Wie aber erklären sie das Rätsel? Denn das ist in diesem Fall gewiss nicht, wie der Autor augenzwinkernd gesagt hat, eine "kriminalistische Aufgabe" (in der FAS vom 4. 6. 2006), sondern eine schlichte und lösbare Lese-Aufgabe. Nur müssten sich die Schnellschiessenden Kritiker-Apologeten ihr unterziehen. Doch die meisten von ihnen entblöden sich nicht, das denkbar stumpfste Argument anzuführen: Nachdem sie zuerst eine Gemeinsamkeit als Frauengeschichten aus der Türkei herausgestrichen haben, heißt es nun plötzlich, beide Romane seien doch nach Handlung und Stil so verschieden, da müsse man doch neben den Parallelen die Unterschiede bedenken. Dieses Argument ist darum so stumpf, weil gerade das natürlich die Parallelen desto auffälliger machen muss. Je verschiedener zwei Texte, desto unwahrscheinlicher, also erklärungsbedürftiger sind zwischen ihnen beobachtbare Parallelen.

Das Auffällige, Frappierende, Stutzigmachende der Parallelen wird also nicht abgestritten, nicht einmal von Zaimoglu selbst. Ein Kritiker behauptet sogar, was seine Gesinnungsgenossen kategorisch leugnen: "Auf irgendeine Weise müssen diese beiden Bücher miteinander in Verbindung stehen" (Hubert Spiegel in der FAZ vom 10. 6. 2006). Aber das dient ihm dann - man reibt sich die Augen, wenn man das liest - nur dazu, den ultimativen Dreh von der Apologetik zur Kampagne zu finden: Er dreht den Spieß einfach um, auch wenn sich das kokett in Frageform kleidet: Mutter Zaimoglu, deren Leben der liebe Sohn verewigt hat - seine früheren Bücher mögen vor Allah Gnade finden! -, hat Schwestern, und eine wohnte einst in Berlin, in demselben Frauenwohnheim wie die junge Sevgi Özdamar, die darüber später in ihrem zweiten Roman wunderbar erzählt hat. Na, dann ist doch alles klar: "Hat also Frau Özdamar gestohlen, was sie damals aus dem Leben anderer Frauen gehört haben könnte?"

Weiter herunterkommen - bis in die demagogische Verteilung von Konjunktiv und Indikativ - kann eine literaturkritische Argumentation nicht mehr. Die Frage einer möglichen Abhängigkeitsbeziehung des "Leyla"-Romans von Büchern Özdamars wird verschoben zu der Frage, woher Özdamar selbst ihren Erzählstoff habe, womöglich "gestohlen" habe. Infamer und zugleich lächerlicher kann ein Kritiker sich wohl kaum vergreifen. Aber es muss sehr nachdenklich stimmen, dass diesen Tantenklatsch aus Berlin dem Kritikerdetektiv Zaimoglu selbst gesteckt hat, der dabei mit seinem "schwarzen Notizbuch" als Beweismittel posierte. Fühlt sich der Autor derart in die Enge gedrängt, dass er zu solchen Mitteln greift? Oder fällt er nur in die alte Clownrolle zurück?

Was wird er noch verlauten lassen? Zuerst hatte er als seine Stoffquelle eine Vielzahl von türkischen Frauen angegeben, die er befragt habe. Dann hatte er als seine "einzige Quelle" Tonbandaufnahmen mit seiner Mutter über deren Leben angegeben, samt dem Angebot, diese zu publizieren (bitte nicht!). Und hartnäckig erklärt er, genau deshalb sei eine Beziehung zu Özdamars Roman ausgeschlossen. Dabei kann doch jeder sofort erkennen, dass sich das keineswegs ausschließt. Im Gegenteil: Wie reizvoll muss es für einen in diesem Genre noch völlig ungeübten Autor erscheinen, sich neben authentischen, aber vermutlich literarisch wenig glanzvollen Erzählungen solche aus dem gleichen Land anzusehen, die künstlerisch meisterhaft durchgestaltet sind?

Zaimoglu sagte, er habe die "Karawanserei" gar nicht gelesen, überhaupt "nicht eine Silbe" dieser Autorin, und in einem Atemzug damit sagte er, er lese überhaupt nur Krimis und Psychothriller. Sollte sich wenigstens diese zweite Aussage nicht, wie ich vermute, als falsch nachweisen lassen, so kann man dem Autor angesichts seiner Ankündigung, er werde dieses biografische Projekt weiterführen, nur den Rat geben, seine Lektüreinteressen ein wenig zu erweitern. Für die Kunst, als Mann aus dem Leben einer Frau zu erzählen, empfehle ich Uwe Johnsons "Jahrestage". Und für die Kunst, authentisches biografisches Material episch lebendig zu machen, "Das Leben meiner Mutter" von Oskar Maria Graf.

Es sollte aber nicht nur um einzelne Parallelstellen gehen, die man so oder so erklären kann - der ganze Roman müsste neu gewürdigt werden. Ließe sich aufgrund hinreichender Beweismasse wahrscheinlich machen, was bisher freilich noch nicht geschehen ist, nämlich dass Zaimoglos "Leyla" Anregungen aus Büchern Özdamars aufgenommen hat, dann ginge es vor allem um zwei Fragen. Erstens: Wie soll man das bewerten? Literarisch, versteht sich, nicht juristisch. Zweitens: Wie erklärt sich, dass namhafte Kritiker "Leyla" geradezu hymnisch gefeiert haben? Wobei man die nahe liegende Erklärung einmal zurückstellen sollte, dass Literaturkritik in den Medien sich manchmal nur als verlängerte Verlagsreklame betätigt und dass manche Kritiker nichts schneller vergessen als welches Buch sie eine Saison zuvor hochgejubelt haben.

Was eine juristische Bewertung betrifft, so hat der Verlag nun ein Gutachten darüber erstellen lassen, ob Zaimoglu in seinem Roman "Leyla" Özdamars Roman "Das Leben ist eine Karawanserei" im juristischen Sinne plagiiert hat. Dieses Gutachten kann als eine vorbeugende Maßnahme gegen mögliche Plagiatsvorwürfe den Autor schützen - und das ist gut so - und andere vor Verdächtigungen gegen ihn warnen. Weniger gut ist, dass allein die Tatsache eines solchen Gutachtens auf ängstliche unter Zaimoglu-Skeptikern, wenn sie etwas publizieren wollten, lähmend wirken könnte. Was das Gutachten aber natürlich nicht kann, ist die literaturkritische Debatte und literaturwissenschaftliche Studien über beide Bücher abblocken. Und solange es nicht veröffentlicht wird, kann sich seine Klärungskraft nicht bewähren.

Bei einem Gutachten fragt man nach dem cui bono: Wem nützt es? Dieses Gutachten dürfte eindeutig zugunsten Zaimoglus in Auftrag gegeben und angefertigt worden sein. Hätte der Verlag etwas zugunsten von Özdamar tun wollen, er hätte gewiss besser ein literaturwissenschaftliches anstatt eines juristischen in Auftrag gegeben. Nun hat aber jeder Verleger, der Belletristik verkauft, eben zwei Seelen in seiner Brust: eine Literaturseele und eine Geldseele. Um zu ermessen, wie beide in diesem Falle wohl miteinander ringen, dafür muss man nur die Verkaufszahlen vergleichen: 14 Jahre "Karawanserei": 70.000, 4 Monate "Leyla": 25 .000.

Spekulieren wir noch einen Augenblick darüber, was ein solches Gutachten sonst noch leisten könnte! Was es natürlich nicht leisten kann: eine literaturwissenschaftliche Aussage oder eine literaturkritische Wertung juristisch zu widerlegen oder gar selber solche Aussagen zu machen. Böte es nur eine pauschale Zurückweisung des Belegmaterials für merkwürdige Parallelen zwischen beiden Büchern, dann könnte es jene nicht überzeugen, die inzwischen durch die Presse oder durch eigene Lektüre mitbekommen haben, dass es sich um eine sehr große Anzahl von Parallelen handelt. Böte es, um die Widerlegung wasserdicht zu machen, alle Parallelen, dann würde es dadurch vielleicht gerade selber ungewollt den Verdacht erzeugen, gegen den es kämpfen soll. Böte es aber nur eine Auswahl, dann könnte es sich seinerseits dem Verdacht aussetzen, dass genau die Parallelen weggelassen oder ungenau angesprochen sind, die schwerer zu 'widerlegen' sind als die ausgewählten. Wenn das Gutachten zu dem Schluss kommt, dass ein Plagiat im urheberrechtlichen Sinne nicht vorliegt, dann ist, solange keine Gegengutachten vorliegen, die juristische Seite der Sache vorläufig geklärt. Der literaturkritische und -wissenschaftliche Klärungsbedarf fängt damit aber vielleicht gerade erst an. Der Gutachter, vermutlich Jurist, Anwalt, wird versucht haben, mit seinem Gutachten korrekt im Rahmen seines juristischen Diskurses zu verbleiben. Hoffentlich ist ihm das gelungen, hoffentlich hat er es vermieden, in die Literaturwissenschaft hinüberzuwechseln. Aber vielleicht ist es doch eher gut, wenn das Gutachten unveröffentlicht bleibt.

Nun zur ersten Frage: Wenn es eine Beziehung zwischen beiden Romanen im Sinne einer bewussten Anlehnung Zaimoglus an Özdamar geben sollte - was freilich bisher nicht erwiesen ist -, wie wäre sie zu bewerten? Ein intertextuelles Spiel, wie es in der postmodernen Literatur gang und gäbe ist, liegt schon darum nicht vor, weil zu solch einem Spiel Signale an den Leser gehören, die zum Mitspielen animieren. Davon kann bei Zaimoglu aber keine Rede sein. Geht man einmal von der Hypothese aus - die allerdings noch zu erhärten oder auch zu entkräften wäre -, dass viele Stellen und Passagen in "Leyla" auf Anregungen aus der "Karawanserei" zurückgehen, und sieht man sich diese Parallelen genau an, dann ergibt sich eine klare Tendenz: Wörtliche Übereinstimmungen sind die Ausnahme, es finden sich fast immer kleine Abweichungen. Aber gerade darin ließe sich eine Strategie vermuten: Spuren verwischen!

Wie aber käme ein Autor, der längst schon ein eigenes Profil gewonnen bzw. dieses sorgfältig umgebaut hat, auf eine solche Strategie? Sicher eher aus Not als aus Übermut. Haben seine Bücher womöglich nicht mehr so recht Anklang gefunden? In welcher Richtung ließe sich das eigene Schreibprofil so umbauen, dass neuer Erfolg zu erwarten ist? Nun ist Zaimoglus Verlag zufällig gerade dabei, zu vermarkten, worüber die Deutschen seit einiger Zeit besonders gern etwas lesen: über Ehrenmorde, Zwangsheiraten, verprügelte Ehefrauen und Töchter in türkischen Familien. Das ist erstaunlicherweise wieder in Mode gekommen, nachdem einst eine Saliha Scheinhardt mit ihrem gut gemeinten Sozialkitsch ihre deutschen Leserinnen und Zuhörerinnen zu Tränen gerührt hatte. Geschichten von der "geschundenen Suleika" - wie die Literaturwissenschaftlerin und Kritikerin Karin Yesilada dieses Genre treffend charakterisiert hat.

Jetzt haben wir Necla Kelek, verlegt bei Kiepenheuer & Witsch! Sie schreibt engagierte Sachbücher über Aspekte unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit, vor denen viele gern die Augen verschließen. Egal wie man ihr Engagement journalistisch und literarisch beurteilt, augenblicklich scheint es jedenfalls ein brennendes Publikumsinteresse an schaurigen Geschichten aus türkischen Familien zu geben. Ist die Vermutung so abwegig, an den Trend werde sich ein Autor, der gerade sein Profil umbaut, womöglich gern anhängen? Mit einem trendgerechten Roman über ein armes türkisches Mädchen, dessen Vater ein "Prügler" ist? (Dieses Wort wenigstens stammt nicht von Özdamar, sondern von Kafka. Aber den hat Zaimoglu ja auch nicht gelesen.) Leichter gesagt als geschrieben: Wenn es einige Mühe gekostet haben sollte, vom alten Zaimoglu-Sound, der sich noch 2003 in einer "Othello"-Bearbeitung als "Jargon von Kotzsprech und Fackspuck" ausgetobt hatte (DIE ZEIT vom 3. 4. 2003), eine zartere Stimmlage einzuüben? Wenn man selbst keine durchgeprügelte Anatolierin ist, sondern ein Oberschulabsolvent aus Kiel? Wenn man für hinreichende eigene Türkei-Erinnerungen noch zu jung war? Wenn Interviews mit älteren weiblichen Familienmitgliedern nicht sehr farbig ausgefallen sind? Wenn da nicht genug abzulauschen war? Liegt da nicht die Verführung nahe, sich anderswo zu bedienen?

Emine Sevgi Özdamars autobiografische Romane waren da die erste Adresse. Sie gelten heute international als die mit weitem Abstand herausragenden Erzählwerke unter den Büchern von deutschen Autoren türkischer Herkunft. Mit Recht, denn sie ragen heraus durch ihre einzigartige Verbindung von autobiografischer Authentizität und erzählendem Inszenieren, von zeitgeschichtlichem Ernst und komischer Verfremdung - ein gestisches, körperliches, sinnliches, theatralisches Schreiben, das von den besten Traditionen der literarischen Moderne gelernt hat.

Wenn Bücher dieses künstlerischen Formats und dieser sprachlichen Intensität für ein Schreibprojekt ausgeschlachtet werden, das der Not des Stoffmangels und der Verführung durch ein marktgängiges Thema entsprungen sein mag, dann kann das nicht so gut ausgehen, wie es uns einige Kritiker weismachen wollen. Dem zähflüssigen, faden, konturlosen Gesamtduktus dieser "Leyla", an der literarisch nichts Aufregendes ist als der orientalische Name, könnten noch so viele Aufpfropfungen aus fremden Büchern keinen Blütenglanz geben. Natürlich können sie auch nicht - das mag empörte Özdamar-Leser beruhigen - der "Karawanserei" und der "Brücke vom goldenen Horn" in irgendeiner Weise schaden. Literarische Kultur beruht nicht auf Büchern, die sich schnell verkaufen, sondern auf solchen, die über lange Zeit wiedergelesen werden. Özdamars Romane gehören dazu, "Leyla" wohl eher nicht.

Dieses Buch verkörpert das, was kritische Literaturtheorie Pseudorealismus nennt. Es kommt deshalb vermutlich gut an bei einem gesunden Mittelstand von Lesern, zu denen sowohl solche zu rechnen sind, denen als notorischen Gutmenschen eine wohlmeinende, aber wenig kunstvolle Geschichte eines armen Mädchens aus der Türkei zur sozialen Erbauung dient, als auch solchen, die durch die Lektüre bestätigt finden, dass man die Türken mit ihren prügelnden Männermonstern doch lieber aus dem christlichen Abendland heraushalten sollte. Pseudorealismus in der Literatur bedient Klischees. "Die Bilder in den Köpfen produzieren Bilder in den Texten und umgekehrt. Ein Absicherungs- und Bestätigungsmuster verdrängt das Überraschende, das Unbekannte. Das vermeintlich so Fremde ist in Folge dessen nichts anderes als das, was schon längst bekannt ist." Das schreibt Zafer Senocak in dem bisher besten, wenn auch nur indirekten Beitrag zu dem Streit unter dem Titel "Authentische Türkinnen" (in der taz vom 10. 6. 2006). Mit Recht zeigt er sich befremdet über forsche Behauptungen einer "Verallgemeinerbarkeit türkischer Migrantenschicksale" (so zu lesen in der taz vom 2. 6.), über "die Gewissheit jener, die glauben, sie wüssten nach der Lektüre der Romane türkischer Autoren Bescheid über die türkische Frau aus der anatolischen Provinz". Ein literarischer Autor kann dieses Spiel, die Konstruktion von Türken durch Reproduktion von Klischees, Stereotypen, Vorurteilen, mitmachen, dann schreibt er Pseudorealismus, oder er kann sich bemühen, es zu "unterlaufen, Denk- und Deutungsmuster aufzubrechen, festgefahrene Sichtweisen zu konterkarieren, Widersprüche aufzudecken, mit Zwischentönen zu arbeiten und so die Vielschichtigkeit des Lebens zu erspüren". Diesen Kriterien genügt "Leyla" leider nicht.

Da war aber noch eine Frage. Wie werden sich die Kritiker herausreden, die da vorschnell gejubelt haben? Ach, irgendwie werden sie schon. Und wenn sie nur trotzig noch eins draufsetzen und aus einem ästhetischen Fehlurteil ein Machtspiel machen, das neue Zuweisungen erteilt: Dann wird Özdamar gnädig als "Pionierin" anerkannt, mit dem herablassenden Nebenton: ausgelaufenes Modell, und das neue Modell als der "Vollender" (Hubert Spiegel) gepriesen. Und der in die Enge geratene Autor selbst, was wird er sagen, wenn sich die Sache unter Lesern, Literaturfreunden und Wissenschaftlern allmählich doch weiter herumgesprochen hat? Chuzpe hat er ja, auch wenn er neuerdings gern Kreide speist. Den ganz Dummen wird er sagen, er habe Özdamars "Karawanserei" überhaupt nicht gelesen, Ehrenwort, Allah sei sein Zeuge. Vor seinen Fans, falls es noch welche gibt, mag er sich brüsten, er habe Özdamar-Stroh zu Zaimoglu-Gold gesponnen. Und diejenigen, die den Vorgang eher umgekehrt bewerten, könnte er einmal mit der Enthüllung verblüffen, seine getreuen Übernahmen aus dem berühmten Roman seien als diskrete Huldigungen an die Kollegin gemeint.

Vielleicht aber erinnert sich Zaimoglu bald an ein altes anatolisches Märchen, das vor hundert Jahren eine Großmutter ihrem kleinen Feridun erzählt hatte: Es war einmal, es war keinmal ein kleiner, etwas komisch aussehender Junge. Der hatte eine große Schwester, eine Abla, wie die Türken sagen. Sie war sehr schön und hatte schönen Schmuck. Der Junge wollte so gern auch so schön aussehen. Da nahm er einmal heimlich ihren Schmuck, behängte sich damit und lief unter die Leute. Einige bewunderten ihn zuerst, aber nach und nach lachten alle.


Titelbild

Emine Sevgi Özdamar: Das Leben ist eine Karawanserei - hat zwei Türen - aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1994.
384 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 3462023195

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Feridun Zaimoglu: Leyla. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006.
525 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3462036963

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Leserbriefe

Mehmet Osmanoglu: Ich habe alle in Norbert Mecklenburgs Artikel erwähnten Streitschriften gelesen. Am meisten hat mir dieser, von Mecklenburg geschriebener gefallen. Das Märchen als Schlusssatz fand ich einfach köstlich. Der Autor von ...

Osmanoglu Osman: ...Einigen scheint die unbequeme Art von Zaimoglu nicht zu gefallen. Und gerade das aber, gefällt vielen Leuten. Wir stehen hinter Zaimoglu, weil er sich nicht verbiegen lässt, wie die Keleks, Özdamars und Co., die ...

Ayse Malatyali: Monika Maron schrieb in der FAZ (12.06.06) folgendes: "Und jetzt entnehme ich in der Zeitung, daß Emine Sevgi Özdamar, inzwischen eine bekannte Schriftstellerin, ihre ganze Poesie und Lebenserfahrung, ihr Talent und ihre ...

Thomas Huber: Ich kenne und liebe die Bücher von Emine Sevgi Özdamar. Nachdem ich den sogenannten "Türkenkrieg" in den Feuilletons verfolgt habe, habe ich jetzt auch Herrn Zaimoglus Roman "Leyla" gelesen. Bei der ...

Maria de la Torre: Thema: "sich Unerlebtes wünschen" oder Zaimoglu vs. Özdamar Ich kenne Özdamars Bücher sehr gut und sie haben mich immer verzaubert. Ich weiß nicht, ob Zaimoglu ihrem Stil und ihren Geschichten ...

Sönke Lundt: Der letzte Satz in Mecklenburgs "kritischer Auseinandersetzung" mit Zaimoglus Roman entlarvt den Verfasser dieser Zeilen dann doch als jemanden, der ganz offensichtlich eine - wie auch immer privat geartete - Antipathie gegen Zamoglu ...




LESERBRIEF SCHREIBEN
DIESEN BEITRAG WEITEREMPFEHLEN
DRUCKVERSION
NEWSLETTER BESTELLEN