Vom Fremden im Eigenen

Nicola Zotz über romanische Spuren in der deutschen Liebeslyrik des 12./13. Jahrhunderts

Von Christian SchneiderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Schneider

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Mir ist geschehen wie einem kleinen Kind, / das sein schönes Bild in einem Spiegelglas sah / und nach seinem eigenen Schein griff, / so sehr, bis dass es den Spiegel ganz zerbrach": Heinrich von Morungen beginnt so sein berühmtes "Narzisslied", gedichtet an der Wende des 12. zum 13. Jahrhundert. Etwas Schönes ist da zerstört worden. Das Ich des Sängers, das hier spricht, vergleicht seine Hoffnung auf dauerhafte Freude, die ihm der schöne Anblick seiner Dame eingab, mit der enttäuschenden Erfahrung des Kindes, dem unter den Händen sein Spiegelbild zerbricht. Ein großartiges Bild für ein Glück, das ohne Leid nicht zu haben, sondern mit ihm vermischt ist.

Allein die Texte schon, die Nicola Zotz in ihrem Buch zur Rezeption der romanischen Liebeslyrik im klassischen deutschen Minnesang versammelt, sind es wert, gelesen und wiedergelesen zu werden - nicht zuletzt aufgrund der ebenso unprätentiösen wie präzisen Übersetzungen, in denen sie die romanischen Vorbilder der mittelhochdeutschen Lieder wiedergibt. In ihrer Dissertation, die nun auch als Buch erschienen ist, macht Zotz sie zum Gegenstand einer vergleichenden Deutung. Denn dass die Dichtung der Trobadors auf die Entwicklung auch der deutschsprachigen mittelalterlichen Lyrik entscheidend gewirkt hat, wusste man zwar schon im 19. Jahrhundert; kaum aber wurden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den deutschen Minneliedern und ihren romanischen Vorlagen einmal für eine Interpretation der Lieder fruchtbar gemacht. Meist beschränkte man sich darauf, sie schlicht zu konstatieren.

Zotz untersucht nun den allgemein festgestellten Einfluss der romanischen Trobador- und Trouvèrelyrik auf den Minnesang an einer Reihe konkreter Beispiele. Sie interessiert sich nicht für formale Kontrafakturen, also deutsche Lieder, die den Ton eines romanischen Lieds nachahmen, sondern vielmehr für die direkten inhaltlichen Bezugnahmen auf romanische Vorbilder und versucht, von diesen Bezugnahmen aus die Originalität und stilistische Individualität der deutschsprachigen Dichter und ihrer Œuvres zu beschreiben. Dabei setzt sie sich zum Ziel, jeweils die Intention hinter der Auswahl herauszuarbeiten, die die deutschen Minnesänger aus den romanischen Liedern trafen. Die Art der Übernahmen strukturiert auch den Aufbau der Arbeit: Zunächst geht es um Lieder, die eher frei, etwa in Stilistik und Motivik, durch romanische Vorbilder angeregt sind; dann um solche, die besonders markante Motive übernehmen. Es folgen Lieder, die aus ihrer Vorlage eine Strophe extrahieren, und schließlich Fälle, in denen ganze Lieder aus dem Romanischen übernommen werden. Diese Gliederung der Arbeit vom Kleineren zum Größeren wirkt in sich schlüssig, suggeriert aber gelegentlich auch eine Trennschärfe, die - wie Zotz selbst zugibt - nicht immer wirklich gegeben ist.

Innerhalb der einzelnen Kapitel wird dann jeweils ein deutsches Gedicht seinen romanischen Vorbildern gegenübergestellt, zunächst die Vorlage übersetzt und für sich kommentiert, dann die deutsche Umsetzung, bevor die Texte schließlich zueinander in Bezug gesetzt werden. Über die Länge der Arbeit wirkt dieses sehr systematische Vorgehen ein wenig monoton. Es ergibt sich daraus aber zugleich eine der größten Stärken des Buchs: Schritt für Schritt und Text für Text wird hier eine Kunst des Interpretierens vorgeführt, die nicht - wie sonst so oft - nur nacherzählend über die Texte hinweggeht, sondern sich in jedem einzelnen Fall intensiv auf die Texte einlässt. Stilistisch-formale wie inhaltliche Charakteristika der Lieder werden nicht nur konstatiert, sondern bis in Details der Formulierung und metrisch-rhythmischen Gestaltung hinein dem Verständnis erschlossen. Nur manchmal könnte das Buch in dieser Verbindung von präziser formaler und inhaltlicher Analyse noch zupackender sein. Etwa, wenn Zotz sich in ihrer Interpretation eines Lieds Ulrichs von Gutenburg, das Bilder aus einem Lied Blondels de Nesle aufgreift, mit der Feststellung begnügt: "Der Kontext der Bilder ist ihm [Ulrich von Gutenburg, C.S.] dabei ebenso wenig wichtig wie seinem Vorbild, so dass die Untersuchung der jeweils spezifischen Einbettung der Bilder in diesem Fall wenig ergiebig ist." Selbst wenn es zutreffen sollte, dass vom Autor aus gesehen der Bildkontext nachrangig ist, so entsteht doch durch die Integration der Bilder - vom Autor gewollt oder nicht - ein neuer und je spezifischer Sinn, den es aus rezeptionsästhetischer Sicht aufzufächern gilt.

Viel wichtiger aber sind die Ergebnisse, zu denen Zotz in ihrer Tour d'horizon der romanischen und deutschen Liebeslyrik des hohen Mittelalters kommt. Sie führt den Leser von Peire Vidal und Rudolf von Fenis, Gace Brulé und Reinmar über Folquet de Marseille, Friedrich von Hausen und Walther von der Vogelweide bis hin zu der Übernahme ganzer Lieder aus dem Romanischen bei Albrecht von Johansdorf und Heinrich von Morungen; und am Ende zu jenem Begriff, den Zotz schon in den Titel ihres Buchs gesetzt hat: intégration courtoise. Der Begriff variiert den der adaption courtoise, den der französische Mediävist Michel Huby in seiner klassischen Studie "L'adaption des Romans courtois en Allemagne" aus dem Jahr 1968 prägte. Huby beschrieb die Art und Weise, in der deutschsprachige Romanautoren des 12./13. Jahrhunderts wie Heinrich von Veldeke und Hartmann von Aue ihre französischen Vorlagen bearbeiteten, als adaption courtoise und wollte damit einen "mi-chemin entre la traduction et l'adaption libre modernes" bezeichnet wissen, einen Mittelweg zwischen wortwörtlicher Wiedergabe der romanischen Quelle und ihrer freien Nachdichtung. Was Huby seinerzeit mit dem Begriff der adaption courtoise für den höfischen Roman unternahm, will Zotz mit jenem der intégration courtoise für die Lyrik erreichen. Sie bezeichnet damit, was für den Umgang der Minnesänger mit ihren romanischen Vorlagen charakteristisch sei: "die Einbettung des Fremden und die Erschaffung einer Dichtungstradition, der die romanischen Insertionen nicht mehr anzumerken sind".

Zotz' komparatistischer Ansatz arbeitet hier viel mit der Begrifflichkeit vom Eigenen und Fremden. Ob diese Terminologie in ihrer scharfen Distinktivität sehr glücklich gewählt ist, sei einmal dahingestellt. Gemeint ist eine Lyrik, die im Umgang mit ihren romanischen Vorbildern oder Inspirationsquellen sehr viel freier ist als in der Epik: so frei, dass etwas Neues entsteht, das die romanischen Elemente bruchlos hineinnimmt.

Zu den bemerkenswertesten Rückschlüssen, die das Buch aus seinen Einzelinterpretationen für den deutschen Minnesang als Ganzes zieht, zählt dabei gewiss, dass das Sprechen der Trobadors und Trouvères offenbar in viel höherem Maße als im Minnesang ein theoretisches Sprechen über die richtige oder falsche Art zu lieben war. Dominieren hier eine Leichtigkeit und mitunter spitzfindige Kasuistik in der Argumentation, so dort, in den deutschen Liedern, eine stärkere Involviertheit und Introspektion des Dichters, ein Sprechen aus einer Innenperspektive heraus. Zotz erklärt sich das mit den unterschiedlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen höfischen Dichtens hier und dort. So sei in der Romania das System der Hohen Minne in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts schon voll etabliert gewesen, während die Minnesänger in Deutschland sich viel stärker Kritik an ihrem Verhalten ausgesetzt gesehen und daher stärker aus einer sich selbst rechtfertigenden Innenperspektive heraus gesprochen hätten. Vielleicht ist diese Erklärung durch eine stärker sozialgeschichtliche zu ergänzen: Die unterschiedliche Charakteristik der romanischen und der deutschen Liebeslyrik verweist auch auf eine unterschiedliche gesellschaftliche Funktionalisierung. Viel spricht dafür, dass die argumentative Leichtigkeit und spitzfindige Kasuistik, die sich für die romanische Lyrik feststellen lässt, die Liebeslyrik an den französischen Adelshöfen als Teil einer gesellig-gesellschaftlichen Unterhaltung ausweist, die sich im gemeinsamen, 'höfischen' Gespräch über die Liebe in Rede und Gegenrede delektiert. Hier würde es sich lohnen, Zotz' Ergebnisse zu den romanischen Liedern zu jener mitunter nicht weniger spitzzüngigen und kasuistisch daherkommenden Argumentation in Bezug zu setzen, wie sie im späten 12. Jahrhundert etwa der Franzose Andreas Capellanus in seinem Liebestraktat De amore entfaltet.

Nicola Zotz entwirft mit den Mitteln eines fundierten komparatistischen Ansatzes ein ebenso vielfältiges wie vielschichtiges Panorama der romanisch-deutschen Literaturbeziehungen an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert. Dabei steht ihr ein Stil zu Gebote, der schlank und unprätentiös ist und sich in angenehmer Weise über jedes modische Wissenschaftsrotwelsch hinaushebt. Aber ihr Buch kann auch ein wenig nachdenklich machen: Es lässt in einen Spiegel blicken, und man sieht darin einen Ausschnitt aus jener gemeinsamen romanisch-germanischen Blütezeit von Religion, Wissenschaft, Kunst und Kultur im 12./13. Jahrhundert. Eine solche kulturelle Einheit - und Vielfalt in der Einheit - hat Europa seitdem nie wieder erreicht. Auch deshalb hat die gegenwärtig forcierte Verdrängung des Mittelalters aus den Lehrplänen der Schulen und Universitäten etwas Selbstzerstörerisches. Sie stellt auch noch die letzten Reste jenes Bewusstseins einer einstmals vorhandenen kulturellen Einheit und Kontinuität an ihrer Wurzel in Frage. Dazu, das Bewusstsein solcher Kontinuität und Einheit zu bewahren und weiterzutragen, tragen Bücher wie das von Zotz auf das Beste bei.


Titelbild

Nicola Zotz: Intégration courtoise. Zur Rezeption okzitanischer und französischer Lyrik im klassischen deutschen Minnesang.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2005.
270 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-10: 3825315525

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