Ungefähr 718 Worte vorab (und 75 sehr vorab)

Vorrede zur CD-Rom "Marietta"

Von Matthias PolityckiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Politycki

Einen Roman im Internet zu schreiben, das war bis vor einigen Monaten so ziemlich das Letzte, das ich mir vorstellen konnte - ein Widerspruch in sich -, und bevor sich ein gewisser Gerald Giesecke und damit "Aspekte" mit eben jener Idee bei mir meldete, wußte ich noch nicht mal, dass es so was überhaupt gibt. Aber: So was gibt's bekanntlich, bei "Aspekte" sogar schon zum dritten Mal, und überrascht bin ich allenfalls noch darüber, dass ich inzwischen nicht etwa nur einen ISDN-Anschluß habe (um die neu entstandenen Roman-Abschnitte immer gleich ans ZDF zu mailen), sondern auch all die Hard- und Software, "die man dafür eben so braucht", und dass er/sie/es den Anschein erweckt, als würde er/sie/es funktionieren.

Den Anschein, wohlgemerkt! Wenn man bedenkt, dass mit der Umstellung auf ISDN ja nicht nur ein Adapter, ein aufgerüsteter Arbeitsspeicher, eine neue Generation an Telefon- und Faxgeräten (weil an der alten beispielsweise eine "R- Taste" fehlt) angeschafft und, nicht zuletzt, ja auch "gelernt" werden muss, so ist der Aufwand für einen, der gewohnheitsmäßig mit grüner Tinte schreibt, schon beträchtlich.

Warum tue ich das eigentlich?

Bestimmt nicht, weil ich auf meine Tinte hiermit verzichten wollte - ich schreibe weiterhin erst mal jedes Wort auf Papier (und ich glaube auch weiterhin, dass man es den meisten Texten ablesen kann, ob sie manuell oder digital "erstellt" wurden). Was die Angelegenheit nicht gerade vereinfacht: Fürs Polieren nämlich braucht' s bei mir Jahre, in denen Charaktere, Szenen, vor allem aber Wortwahl & Satzbau mancherlei Wandlungen erfahren. Hier, in der Primärniederschrift, kann es um nichts als den bloßen Plot gehen; schiefe Metaphern, Inkonsequenzen der Handlungsführung, grammatikalische Fehler sind dabei vorprogrammiert - und bedürfen der Mitleser, um eliminiert zu werden. Per e-mails wird das halbwegs regelmäßig dokumentiert, wo doch das Gelingen jener Primärniederschrift meiner Meinung nach nicht unwesentlich davon abhängt, dass man sie gerade nicht durch Abtipp-Phasen unterbricht. Die zweite Schwierigkeit besteht darin, dass ich - auch für "Marietta" - all meine Ideen auf (kleinen, mittleren, größeren) Zetteln, die gerade zur Hand sind, notiere: und dass also jetzt, im Oktober '97, eine grobe Handlungsstruktur und viele einzelne Notate - Sätze, Handlungssequenzen, eigenartige Wörter, Zeitungsausrisse etc. - vorliegen, aber eben: auf Papier. Meine Bemühungen um "Marietta" müssen also zunächst einmal darin bestehen, diesen Haufen an Papierschnipseln zu sichten und entsprechenden Handlungsabschnitten des Romans zuzuordnen.

Das braucht Zeit.

Während ich also bei meinen Grabungsarbeiten hoffentlich laufend Neues entdecke, wird sich am Bildschirm kaum etwas tun - außer: Sie tun es selbst! Sorry, aber an diesem Kriechstart läßt sich halt nichts ändern.

Und die dritte Schwierigkeit: liegt weder in der (schwer zu vermittelnden) notiztechnischen Vorgeschichte des Projekts noch in dessen kreativitätsabträglicher Direktumsetzung am Bildschirm, sondern in der Tatsache, dass ein Internet-Roman - zu Recht - aus mehr als Text, sprich: aus mehr als meiner bloßen Fantasie bestehen muss. Sondern auch zum Beispiel aus Bildern, bewegten wie unbewegten; und was läge da näher, als die weibliche Hauptfigur des Romans, Marietta, zu casten und "ins Netz zu stellen".

Dies geschah.

Ich meine: das Casten geschah, und unabhängig davon, welche der Marietta- Darstellerinnen in Ihrer Gunst das Rennen machen wird, haben sie's alle zusammen - die elf Schauspielerinnen, wie sie uns (dem ZDF-Team und mir) jede eine leibhaftige Marietta "gaben" - haben sie's alle zusammen geschafft, dass mir die Figur wieder völlig abhanden gekommen ist: so viele neue Aspekte haben sie ihr noch beigegeben, bevor ein einziges Wort über sie geschrieben ist!

Gab es das eigentlich schon mal: dass ein Autor seiner Hauptfigur begegnet, ehe er eine Zeile des dazugehörigen Romans geschrieben hat? Ich frage nicht nach Situationen, in denen der Autor irgendjemanden auf irgendwelche Weise dermaßen inspirierend fand, dass er daraufhin, um diese Person (als Kristallisationspunkt seiner Fantasie) herum, einen Roman wachsen ließ. Nein, in meinem Fall hatte ich Figur (wie Romankonzept) ja bereits, zumindest in groben Zügen, und nun - durch die elffache Visualisierung derselben, habe ich, wenn ich ehrlich bin, viel mehr und auch viel weniger als zuvor: alles ist wieder offen.

Was ja vielleicht kein ganz schlechter Auftakt ist für ein Projekt, das von dieser Offenheit lebt. Und wenn's dann doch zu offen für mich wird, d. h. wenn mir durch Ihre Rückfragen, Anregungen, Beckmessereien nicht nur die Figur der Marietta, sondern auch der ganze Rest ins Rutschen gerät, so dass ich mit meinem Roman auf der Strecke bleibe: dann gäb's ja immer noch Ihren Marietta-Roman, der im Zusammenspiel aller "user" in einem Parallel-Forum gleichzeitig entstehen soll. Und dann könnte ich ja, in guter alter "Weiberroman"-Manier, ein paar Kommas streichen, ein paar Kommas dazu setzen! Einverstanden?