Literarischer Freispruch

Gottfried Benn rechtfertigt in "Doppelleben" seine Existenz als Arzt und Dichter

Von Jörg von BilavskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg von Bilavsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Belangloser Entwicklungsgang, belangloses Dasein als Arzt in Berlin." Im Jahr 1919 reichte Gottfried Benn ein Satz, um sein bisheriges Leben und Schaffen zu charakterisieren. Mehr wollte er in seinem biografischen Eintrag für Kurt Pinthus' expressionistische Lyrik-Anthologie "Menschheitsdämmerung" über sich nicht preisgeben. Das rationale Handeln und das schöpferische Denken bildeten für Benn von jeher zwei voneinander getrennte Lebenswelten: Hier der nach Objektivität und Empirie strebende Arzt, dort der nach Subjektivität und Genie dürstende Dichter.

Diese Dichotomie bildet das inhaltliche Rückgrat seiner beiden autobiografischen Schriften, die 1950 gemeinsam unter dem Titel "Doppelleben" erschienen sind. Doch mit den klassischen Autobiografien, in denen der Autor Privates und Berufliches als individuelle Entwicklungsgeschichte erzählerisch Revue passieren lässt, ist Benns Schrift nicht zu vergleichen. Benns "Selbsterlebensbeschreibung" (Jean Paul) ist eine künstlerisch inspirierte Selbstreflexion und rhetorisch raffinierte Selbstrechtfertigung.

Der geisteselitäre Dichter verteidigt darin seine nichtjüdische Abstammung, sein widersprüchliches Verhalten im "Dritten Reich" und sein ideologie- und moralfreies Kunstverständnis. Dieser Rechenschaftsbericht ist von außen angestoßen und nie von Benn geplant worden. Der in seiner "biologischen" Ehre verletzte Dichter reagiert mit dem bereits 1934 entstandenen Abschnitt "Lebensweg eines Intellektualisten" auf die Anfeindungen des "arischen" Schriftstellerkollegen Börris von Münchhausen, der ihn als "reinblütigen Juden" denunziert hatte. Mit dem zweiten Teil, welcher der Autobiografie seinen Titel gegeben hat, erfüllte er den Wunsch seines Verlegers Max Niedermeyer und des Publikums nach einer Fortsetzung der Lebensbeschreibung. Benn nutzte diese Aufforderung schließlich, um die braunen Flecken auf seiner Dichterweste aufzuhellen.

Den Leser von "Doppelleben" erwartet eine Einführung in die geschichtliche und geistige Existenz Benns. Nur Kursorisches erfährt er über seine Kindheit im ostelbischen Pfarrhaus zwischen Bauernjungen und Adelssprösslingen, sein kurzzeitiges Studium der Geisteswissenschaften und sein abgeschlossenes der Naturwissenschaften. Seine ärztliche Tätigkeit im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik findet ebenso selten Erwähnung wie Schilderungen über Freundschaften und die zahlreichen Liebesaffären.

Er konzentriert sich in dem "Lebensweg eines Intellektualisten" überwiegend auf die Verteidigung der expressionistischen Kunstanschauung und seiner radikalen Positionen in den Jahren 1933/34. In den Kapiteln "Rönne", "Pameelen" und "Das lyrische Ich" pocht er auf die "Eigengesetzlichkeit der Kunst" und stellt sie den historischen Ereignissen gegenüber, die keine absolute, dauerhafte Werte verkörpern. "Ich, der ich nach Herkunft und Lebensdauer durchaus der alten Epoche verpflichtet bin, muß das Bekenntnis ablegen, dass mich die Geschichte weder berauscht noch ängstigt, die weiße Rasse ist so groß gewesen, müsste sie zugrunde gehen, es käme unmittelbar aus ihr", schreibt er in "Doppelleben". Für ihn zählt der geistreinigende Impuls, den er sich von der nationalsozialistischen "Revolution" verspricht: "Intellektualismus heißt einfach: denken, und es gibt nichts, vor dem es halt zu machen hätte, mit der einen Einschränkung, die das Denken selber setzt und die sich auf schwache Denker bezieht."

Wie er bald feststellen muss, ist er nach 1933 fast nur noch von "schwachen Denkern" umgeben. Die starken sind größtenteils ins Ausland gegangen, wofür er sie in seiner Rundfunkrede "Antwort an die literarischen Emigranten" heftig angegriffen hat. Als "bürgerliche Neunzehntes-Jahrhundert-Gehirne" beschimpft er sie. Und klärt sie darüber auf, dass die "herrschaftliche Rasse" nur aus "furchtbaren und gewaltsamen Anfängen emporwachsen" könne. Mit solchen und ähnlich kompromisslosen Äußerungen schuf sich Benn Feinde fürs Leben, ohne zu bemerken, dass sich seine mächtigeren Feinde in jenen Reihen aufhielten, die er durch Reden und Artikel so vehement unterstützte. Die Nationalsozialisten legten mit der voranschreitenden Konsolidierung ihrer Macht schon bald keinen Wert mehr auf Benns Intellektuellen-PR. Die geistfeindliche Politik der Nazis bekam er spätestens 1938 in Form eines Publikationsverbotes und durch zahlreiche Hetzkampagnen zu spüren. Benn wählte die "aristokratische Form der Emigration" und verdingte sich bei der Reichswehr als Militärarzt.

Im zweiten Teil seiner Autobiografie versucht er mit aller Macht aus den "Schatten der Vergangenheit" herauszutreten, sein damaliges Verhalten plausibel zu machen und sie mit seiner nach wie vor elitären Geisteshaltung zu rechtfertigen. Dass Hitler auf legalem Wege zum Reichskanzler ernannt wurde und Parteiprogramme erfahrungsgemäß nur auf dem Papier Gültigkeit besaßen, reichte ihm auch 1950 noch als Begründung für sein Verbleiben in Deutschland: "Ich hatte persönlich, keine Veranlassung Berlin zu verlassen, ich lebte von meiner ärztlichen Praxis und hatte mit politischen Dingen nichts zu tun", heißt es in "Doppelleben" lapidar. Und gegenüber seinen späteren Kritikern äußert er sich hochmütig: "Immer alles gewusst zu haben, immer recht behalten zu haben, das alleine ist nicht groß. Sich irren und dennoch seinem Innern weiter Glauben schenken müssen: - das ist der Mensch."

Letztlich laufen all seine Reflexionen über die Zeitläufte darauf hinaus, das eigene Tun und Lassen mit der eigenen intellektuellen Sonderexistenz zu rechtfertigen. Benn zieht sich in seiner Autobiografie schrittweise vom politischen Leben in die "ästhetische Sphäre" zurück, die alles menschliche Schaffen überdauert: "Die Zeitalter enden mit Kunst und das Menschengeschlecht wird mit Kunst enden." Seinen eigenen Beitrag dazu hält er indes für recht bescheiden: "Ich blicke nicht in die Zukunft, meine Gedanken ergreifen und begreifen sich nur als eine regional begrenzte, phänotypische, höchstens drei Jahrzehnte repräsentative Zwangslage einer Generation. Nur keine Ausstrahlungen universalistischer Art!"

Entgegen seines eigenen Wollens hat er vielseitige Wirkung entfaltet. Seine Ansichten vom absoluten Kunst- und Künstlertum finden sich in keiner anderen Schrift so konzentriert, allerdings auch so stilisiert wie in "Doppelleben". Sie dienen, ebenso wie die spontaner formulierten Briefe an seinen Vertrauten Friedrich Wilhelm Oelze, bis heute all jenen Schriftstellern als Argumentationshilfe, die ihre Kunst als politik- und moralfrei verstanden wissen wollen und die auf der Suche nach einer reinen "Ausdruckswelt" und keiner literarisch vermummten "Ereigniswelt" sind.

"Doppelleben" sei all jenen empfohlen, die den konservativen Denker und Dichter Benn besser verstehen möchten. Diejenigen, die den widersprüchlichen Menschen hinter dem Literaten suchen, halten sich besser an die Biografien von Fritz Raddatz oder Gunnar Decker. Dort und in den vielen anderen bereits publizierten Briefwechseln mit Kollegen und Freunden kommt nicht nur der intellektuelle, sonder auch der höchst "alltägliche" Benn zum Vorschein.


Titelbild

Gottfried Benn: Doppelleben. Zwei Selbstdarstellungen.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2005.
199 Seiten, 13,50 EUR.
ISBN-10: 3608936203

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch