Blick von außen

Eine amerikanische Literaturgeschichte der deutschen Romantik entpuppt sich als gewinnbringender Forschungsbeitrag

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Deutschland und mit ihm ganz Europa befinden sich in einer tiefen politischen Krise; die seit langer Zeit selbstverständliche gesellschaftliche Ordnung scheint von der Auflösung bedroht. Damit nicht genug: es kündigen sich auch grundstürzende, auf lange Sicht zwar aussichtsreiche, vorläufig für die Betroffenen aber auch schmerzhafte Umbrüche in der Wirtschaft an. Zu der politischen und der ökonomischen kommt eine kognitive und epistemologische Krise, die zu Transgressionen in den Modi des Denkens, der Organisation von Wissen und von dessen Institutionalisierung in den Wissenschaften führt. Die von einer jungen Generation Gebildeter reflektierte Grunderfahrung ist die des raschen Wandels und der Unsicherheit. Ein junger Jurist schreibt aus Weißenfels an seinen Freund in Dresden: "Es realisieren sich Dinge, die vor zehn Jahren noch ins philosophische Narrenhaus verwiesen wurden."

Dieser Satz aus einem Brief Friedrich von Hardenbergs - seine späteren Publikationen wird er mit 'Novalis' zeichnen - an Friedrich Schlegel stammt aus dem Jahr 1794 und verrät, dass ein derart umfassender historischer Wandel, selbst in der blutigsten Phase der Französischen Revolution, nicht nur als Albtraum, sondern auch als Traum und als Chance begriffen werden kann. Das gewaltige kreative und intellektuelle Potenzial, das sich hinter dem Epochennamen 'Romantik' verbirgt, wird in einer umfangreichen neuen literaturgeschichtlichen Darstellung jedenfalls vor allem als komplexes Gefüge von Reaktionen auf eine Ära der Krise verstanden. Mit einem elitären poetologischen und philosophischen Programm setzt die Gruppe der in Jena kurz vor der Jahrhundertwende versammelten Frühromantiker auf ihre Weise Prinzipien der Aufklärung fort und wirkt damit auf die poetische Praxis auch heute noch kanonischer Autoren auf Jahrzehnte hin ein, tritt in Wechselwirkung mit bildender Kunst und Musik, befruchtet politisches und wissenschaftliches Denken. Mit der Erfindung einer radikalen, dem Leben entfremdeten Künstlerfigur, mit der Konzeption von 'Volk' und 'Nation' reagieren die Romantiker auf die Krisendiagnosen der Zeit. Leben und Werk Kleists stehen exemplarisch für das Übermaß an Größe und Scheitern, das diese Epoche einem jungen Autor zu bieten hatte. Und die im 20. Jahrhundert in der deutschen Literatur vehement einsetzende produktive Romantik-Rezeption sucht wiederum nach Lösungsstrategien für die je eigenen Krisensituationen.

Die Signatur der 'Krise' und der Krisenbewältigungsstrategie ist für viele der insgesamt 16 Einzelbeiträge des Bandes leitend. Mit der Französischen Revolution als Ausgangspunkt, dem Verweis auf eine Kontinuität von Aufklärung und Frühromantik und der These von der Aktualität der Romantik bis heute bekennt sich der von Dennis F. Mahoney herausgegebene Band zu einem in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten vertraut gewordenen Romantik-Bild. Der achte von zehn Bänden einer noch im Erscheinen begriffenen Deutschen Literaturgeschichte will eher Lesebuch als Nachschlagewerk sein und wendet sich natürlich vorwiegend an ein englischsprachiges, meist wohl an ein studentisches Publikum, dem die durchgängige Lektüre der Quellen in der Originalsprache nicht zugemutet werden kann. 'Aktualität' kann in diesem Band die Erinnerung an den eigenen Deutschland-Besuch, an Rhein-Romantik und Heidelberg bedeuten; es kann ein Hinweis auf David Teagues "Sandmann"-Verfilmung sein, 2001 in New York gedreht, mit dem World Trade Center noch als Kulisse von Nathanaels Albtraum - oder, ebenfalls von E. T. A. Hoffmann ausgehend, ein Verweis auf David Lynchs epochalen Film "Blue Velvet". Film- und Fernsehkonsum spiegeln, darauf weist Ulrich Scheck hin, die heute nach wie vor vorhandenen und medial befriedigten Bedürfnisse nach dem Irrationalen und Übersinnlichen wider, die der romantische Autor allerdings in einem intellektuellen Abenteuer zu wecken und zu steuern verstand; aber noch eine Fernsehserie wie "X-Files"/"Akte X" ist von der Romantik inspiriert.

Die Verfasser der Beiträge sind meist erfahrene, einschlägig ausgewiesene britische und amerikanische Germanisten; die relativ wenigen jüngeren Autoren leben und arbeiten in Deutschland. Nach einigen einführenden, historisch-systematisch zu nennenden Beiträgen wenden sich vier Aufsätze literarischen Gattungen zu, weitere sind thematisch orientiert oder bieten Kontextualisiserungen (Geschichte/Volk; Politik; Naturwissenschaften; Gender; Musik; Bildende Künste). Abgeschlossen wird der Band durch Nicholas Sauls profunde Studie zur literarischen Rezeption der Romantik im 20. Jahrhundert.

Die Essays sind teils einführenden, teils allerdings auch sehr anspruchsvollen, die Forschungsinteressen ihrer Verfasser widerspiegelnden Charakters; sie ergänzen sich gegenseitig, überschneiden sich wohl auch thematisch und gehen mitunter ein Thema oder einen Text aus unterschiedlichen Perspektiven an. Das macht die Lektüre des gesamten Bands aber nicht minder reizvoll. Hervorzuheben ist Richard Littlejohns' knapper, aber präziser Abriss zur Frühromantik, mit einer Informationsdichte, die der Leser in Einführungen mit ähnlicher Zielsetzung kaum je geboten bekommt. Der Band versucht Klischees vorzubeugen: Geduldig erklärt Klaus Peter, dass eine Entscheidung zwischen 'revolutionär' und 'antirevolutionär' für das politische Denken der Romantiker so wenig plausibel ist wie die noch heiklere zwischen 'konservativ' und 'progressiv'. Wenngleich der Schwerpunkt schon aus Gründen ihrer Anregerfunktion bei der Jenaer Romantik liegt, so wird doch das alte Vorurteil von der reaktionären Wendung der späteren Romantik nicht weiter gepflegt.

Zwei Überlegungen sind anzuschließen: Welche Antworten steuert der Band auf die Frage bei, wie im beginnenden 21. Jahrhundert Literaturgeschichte zu schreiben sei? Und: Was bietet der Band dem deutschen Leser? Anders gefragt: Welchen Mehrwert erbringt die Lektüre ausgerechnet dieser für ein englischsprachiges Publikum verfassten Darstellung für einen deutschen Muttersprachler?

Für das zuerst genannte Problem hat der Band zumindest keine ganz offensichtliche Lösung parat, jedenfalls keine theoretisch reflektierte. Vielmehr zerfällt er zunächst einmal, vergleichbar weniger mit den Literaturgeschichten etwa Gert Uedings oder Gerhard Schulz' als mit dem von Helmut Schanze 1994 herausgegebenen Romantik-Handbuch, in thematisch aufgefächerte Einzelbeiträge. Auch Dennis F. Mahoneys fachkundige Einleitung verzichtet darauf, Literaturgeschichte als Diachronie, als Abfolge zu (be)schreiben. Es ergeben sich aus der relativen Heterogenität problematische wie auch vorteilhafte Effekte, je nach Leserinteresse und -kompetenz. Mehr als ein Beitrag besitzt eher den Charakter eines Aufsatzes denn einer einführenden Darstellung. Martha B. Helfers glänzende Einführung in die vor allem amerikanischen Gender Studies referiert Thesen zur Infragestellung des 'Weiblichen' als eines Ursprungs romantischer Poesie, zu den eben nicht immer weiblichen, sondern auch männlichen 'Musen' in den romantischen Texten. Das sind Thesen, die die deutsche Romantikforschung bisher kaum zur Kenntnis genommen hat. Helfers Text ist lediglich ein herausragendes Beispiel für die Forschungsnähe mancher Beiträge. Die erbrachten Kontextualisierungen gehen, was nicht immer bereits an den Überschriften abzulesen ist, über das von einer traditionellen Literaturgeschichte zu Erwartende dann doch hinaus und greifen kulturanthropologische oder komparatistische Fragestellungen auf, so Bernadette Malinowskis Beitrag zur romantischen Lyrik, der sich ganz wesentlich mit romantischen Melancholie-Konzepten befasst, oder Arnd Bohms Untersuchung zu Goethes Verhältnis zu den deutschen und zu den englischen Romantikern.

Die zweite der oben gestellten Fragen lässt sich leichter beantworten: Die deutsche Romantik aus der Außenperspektive kennenzulernen ist unbedingt ein Gewinn. In den Aufsätzen mit Einführungscharakter ist vielfach spürbar, dass dem Leser nicht zuviel an Vorwissen zugemutet wird - doch wird damit keinem Spezialproblem der Auslandsgermanistik begegnet. Auch der deutsche Studierende bringt häufig kaum Vorkenntnisse mit, wenn er sich auf die Romantik einlässt. Auch ihm können einige Artikel von Mahoneys Buch zur einführenden Lektüre von größerem Nutzen sein als manches für den deutschen Leser verfasste, aber hochambitionierte und dickleibige Buch.

Nur auf den ersten Blick befremdlich ist die Zusammensetzung der recht umfänglichen Bibliografie, die in den Anmerkungsapparaten mancher Beiträge noch weiter aufgeschlüsselt und ausgewertet wird, enthält sie doch zu einem Gutteil englischsprachige Fachliteratur; auch damit erweitert (oder verändert) das Buch den Horizont des deutschen Lesers.

Gewöhnungsbedürftig ist der durchgängige Ehrgeiz, die außerhalb Deutschlands übliche Zuordnung Goethes zur Romantik zu begründen und auch in zwei eigenständigen Kapiteln durchzuhalten. Die Lektüre des Bandes wie auch ein Blick in das Register, in dem kein Name häufiger vorkommt als der Goethes, lassen aber vermuten, dass dem Weimarer allzusehr gehuldigt wird, was umso merkwürdiger anmutet, als der Weimarer Klassik wie auch dem Sturm und Drang jeweils ein eigener Band zugedacht ist.

Die genannten Einschränkungen gelten vorwiegend für denjenigen Leser, der dieser Literaturgeschichte erste und orientierende Informationen entnehmen will; sie schmälern den wissenschaftlichen Gesamtwert des Bands keineswegs: Er ist als die zur Zeit aktuellste Bestandaufnahme des Wissens über die deutschsprachige Romantik unbedingt lesenswert.


Titelbild

Dennis Mahoney (Hg.): The Literature of German Romanticism. Camden House History of German Literature Vol. 8.
Camden House, New York 2003.
432 Seiten, 80,50 EUR.
ISBN-10: 1571132368

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