Der große Hirte das Kapital

Wolfgang Hilbig über das Leben als Provisorium

Von Eva LeipprandRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Leipprand

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Diszipliniert und zu dicht geschlossenen Pulks vereint, vereint für eine Minute, einheitliche enthirnte Stirnen hinter den Frontscheiben, Leiber, mit dem todgefüllten Arsch auf einer Kraft sitzend, die nicht die ihre war, einem Lenkrad verwachsen, das ihre Fäuste beherrschte, so stoben sie vorwärts, wie vom Peitschenschlag eines großen Herdenführers in Bewegung gesetzt. Und dieser große Hirte war das Kapital..." Man möchte immerfort zitieren aus Wolfgang Hilbigs neuem Roman. Der Irrsinn auf unseren Straßen, durch unangepasste Ost-Augen gesehen und expressionistisch überhöht wie auf einem Gemälde von Otto Dix. Bahnhöfe, im Osten provinziell und überfüllt, im Westen das "Trommelfeuer der Leuchtreklamen". Im Leipziger Bahnhof der Schmutz auf dem Glas des Kuppeldachs, die magischen Sonnenstrahlen um das halbrunde Ausfahrtstor, und der Geruch, "der in alten Bahnhöfen seit hundert Jahren aufsteigt, [...] Waggons, die lange auf freien Strecken, auf ablegenen vergessenen Strecken geruht haben, in Steppen, in Wäldern, auf den alten, merkwürdig riechenden Gleisen." Die Stille im Grenzbahnhof, in Erwartung der DDR- Kontrolle vor "sibirischer Lager-Architektur" und "orangegelben Blechbehältern", wo hinein die Grenzer die verbotenen Westzeitungen entsorgten - alles inzwischen längst Geschichte geworden und literaturfähig in hohem Maße, wie Hilbigs mächtig dahinfließender Sprachstrom zeigt. Ein Ahnung steigt auf, welche Bilderschätze da noch zu heben sind aus den Grenzgängen übers Niemandsland.

C. allerdings, Hilbigs Protagonist, als Namenskürzel schon häufiger aufgetaucht im Werk des 1941 in Meuselwitz bei Leipzig geborenen und tief aus der eigenen Biographie schöpfenden Schriftstellers, dessen Stasi-Roman "Ich" (1993) als Klassiker der Wendeliteratur gilt, C. also, ehemals Heizer im DDR- Industriekombinat, dann Schriftsteller, vor einigen Jahren mit Ein-Jahres-Visum nach Westen gekommen und dort hängengeblieben, sieht die literarischen Stoffe wohl, ist aber hilflos in einer Schreibkrise versunken. Er fühlt sich weder Ost noch West zugehörig, er ist getrennt von allem, sein Leben ist ein Provisorium wie sein Arbeiten, wie soll er da Personen entwerfen, er muss ja erst einmal sich selbst "wieder zu einer Person machen". Seines Überlebensmittels Schreiben beraubt, flüchtet er in den Alkohol, zeitweise wird das Trinken eine "Ganztagsbeschäfti- gung". Seine "Eigenschaft als Schriftsteller" scheint ihm abhanden gekommen, und wenn er nach ihrer Herkunft sucht, verliert sich alles hinter einer Mauer, wie in einem "schattenhaften Wald, in dem es dunkel wird".

Die Jetztzeit des Romans ist der September 1989. C.s Freundin Hedda ist verschwunden, hat ihn wohl endgültig, seiner Liebesunfähigkeit wegen, verlassen. C. verordnet sich Nüchternheit und zwingt sich, in den "schattenhaften Wald" seiner Erinnerung einzudringen, auf der Suche nach dem Ursprung seines Schriftstellerdaseins, seines Daseins überhaupt.

Auf Gedeih und Verderb wird der Leser in den Bann dieses Gehirnstroms gezogen. An äußerer Handlung hingegen passiert nicht viel. C. ist sein eigener Gegenstand. Er ist ständig unterwegs, von Nürnberg nach Leipzig, nach Berlin, Orte wie München und Hanau, auch Wien und Paris tauchen auf, die Entziehungsstation in Haar, hin und her zwischen Orten und Jahren. Über das Netz, das sich aus den Gleisen der Bahnlinien spinnt zwischen Ost und West, dringt C. mehr und mehr in die Vergangenheit ein, die Erinnerungspunkte verbinden und vertiefen sich. Wenn C. mit dem Zug eine Brücke überquert und drunten die Straßenbahn nach Leuna fahren sieht, ins Chemiewerk, wo er jahrelang gearbeitet hat, dann fährt ihn die Straßenbahn hinein in die Erinnerung. Das ist meisterhaft gemacht, ein Bild-Werk von zwingender Dichte, eine Gedankenlandschaft meist unter "feinflüssigem Dauerregen" und voller Eisenbahnpoesie, wo ein Bild jederzeit aufgeladen werden kann mit allgemeiner Bedeutung, um dann wieder hart in C.s Alltag aufzuschlagen oder in seinen Whiskyträumen zu ertrinken.

Das Provisorium, das ist zunächst das Stipendienjahr im Westen, für das er ein DDR-Visum erhalten hat. Dann erscheint C.s ganzes Leben provisorisch, im Osten voll Hoffnung auf die Freiheit im Westen, im Westen voll Sehnsucht nach dem Osten, ein Leben auf Bahnhöfen zugebracht, unterwegs, im Schwebezustand. C. kann sich nicht entscheiden zwischen Mona in Leipzig und Hedda in Nürnbeg, und verliert sie beide. Das Schriftstellerleben ist wie ein Teufelspakt, der auch die Liebe zu einem Provisorium macht. Ein Provisorium ist die DDR als Ganzes, und wenn C. auf seinen unausgepackten Kisten sitzt, beschriftet Holocaust & Gulag, dann sitzt da irgendwie ganz Deutschland und weiß nicht, wohin. C. fühlt sich wie ein Lügner, ein Fälscher, er verachtet sich für sein "zertretenes Sächsisch", sein Zorn, woher immer er auch kommt, richtet sich mit Macht gegen sich selbst, und wenn ihn abgrundtiefe Scham und die schwarze Galle des Selbsthasses überschwemmen, kann er sich nur noch betrunken ertragen. Die deutsch-deutsche Grenze löst sich auf am Ende, nicht aber seine Obsession. Sein Rätsel gründet tiefer.

So düster sie ist, die schwarzgallige Flut dieses Romans, sie schimmert doch im Glanz von Hilbigs Sprache, und wie kleine Feuerwerke sprühen dazwischen böse Satiren auf die westdeutsche Konsumreligion. Im Schlussbild leuchtet in den magischen Strahlen des Leipziger Bahnhofs das Siegeszeichen: AEG, eine Epiphanie. Und immer wieder verdichtet sich der Sprachstrom zu atemberaubenden Urszenen, schraubt sie hoch zu mythologischer Größe. Wer hätte der deutschen Sprache noch so viel Kraft zugetraut.

Titelbild

Wolfgang Hilbig: Das Provisorium.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
240 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3100336232

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