Lebenswirklichkeit versus Medienrealität

Andrea Gnam untersucht die Rezeption von Bild-Medien in der Literatur

Von Helmut SturmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Sturm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Andrea Gnam ist eine jener Literaturwissenschafterinnen, die im deutschsprachigen Raum ihre Wissenschaft in Richtung Medien- und Kulturwissenschaft öffnen. In der 2004 erschienenen Studie "Sei meine Geliebte, Bild!" geht es um den Zugang, den Bild-Medien (Gemälde, Statuen, Fotografien und Film) "zu einer anderen, visuell geprägten Welt" eröffnen. Dabei wird nicht der Diskurs über Bilder in der europäischen Gegenwartsliteratur, wie er sich etwa bei Michael Frayn ("Das verschollene Bild"), Umberto Eco ("Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana") oder Ulrike Draesner ("Mitgift") und Aris Fioretos ("Die Wahrheit über Sascha Knisch") zeigt, verhandelt, vielmehr wird an exemplarischen Beispielen untersucht, wie die Wirkung von Bild-Medien in der Literatur seit dem 18. Jahrhundert gesehen wird.

In fünf Kapiteln beschreibt Andrea Gnam die "Unterscheidung zwischen Lebenswelt und Medienrealität", die von ihr als "Grenz-Phänomen" ausgewiesen wird. Während die Ästhetiker Ende des 18. Jahrhunderts noch versuchten, den sinnlichen Genuss und die damit verbundene Erregung durch ausgeklügelte Bewertungskriterien hintanzuhalten, öffnen sich die Romantiker der Erfahrung, dass in der Kunstbegegnung eine Erfahrung des Irrationalen möglich erscheint. In überzeugenden Deutungen des literarischen Diskurses über Bilder in den Romanen von Ludwig Tieck ("Franz Sternbalds Wanderungen") und E. T. A. Hoffmann ("Die Elexiere des Teufels") erfahren wir, dass etwa im "Sternbald" die "Erregungszustände einem spezifisch medialen Raum" zugeordnet werden und den "Elexieren" die Vorstellung zugrunde liegt, "dass ein toter Bildkörper stärker als dies ein lebendiger Mensch zu tun vermag, den Betrachter in seinem leiblichen Empfinden ansprechen kann". Im Verwechseln von Kunst- und Realwelt drohen Tod und Wahnsinn. Um dem zu entgehen, betreten die Romantiker - Andrea Gnam findet dafür eine schöne Formulierung Jean Pauls - "das ungeheure Reich des Unbewußten, dieses wahre innere Afrika". Dass in der Faszination des "medialen Raumes" die Gefahr einer falschen Grenzziehung zwischen Lebenswirklichkeit und Medienrealität liegt, kennt heute jeder, der einen 13-Jährigen über die Gefahren des Internets aufzuklären versucht. Andrea Gnams interessanter Ansatz kann ein Anstoß sein, die genannten Texte - etwa auch in der Schule - unter diesem Gesichtspunkt neu zu lesen.

Wie sehr die Medienreflexion in der Literatur mit der Theorie der Medien verknüpft, ja diese mitunter antizipatorisch voraus nimmt, kann Gnam am Beispiel von Gottfried Kellers Roman "Der grüne Heinrich" vorführen. Wird von den Romantikern das "dämonisierte Triebleben" entdeckt, geraten mit dem "realistischen Paradigma" die "Lebensumstände des Künstlers und seine materielle Situation" in den Blick. "In den Gedanken zum Verhältnis von Kunst und Leben, die im "Grünen Heinrich" geäußert werden, kommt "ein energetisches Potential zum Ausdruck", das mit seinen Polen "Abstraktion und Handgreiflichkeiten" weit ins 20. Jahrhundert voraus weist. Keller hat allerdings seine Überlegungen zu einer nicht-mimetischen, gegenstandslosen Kunst in der zweiten Fassung des Werks gestrichen.

Die Studie mit dem von René Clair geborgten Titel "Sei meine Geliebte, Bild!" erweckt den Eindruck eines Kontinuums und einer recht geradlinigen Entwicklung des literarischen Diskurses. Dieser Endruck wird verstärkt durch die Chronologie, die durch die Abfolge der Medien Gemälde, Fotografie und Film vorgegeben wird. Eine Einbeziehung weiterer Beispieltexte, etwa von Stifters "Nachsommer", hätte erweisen können, dass es auch in Bezug auf die Medienreflexion das Gleichzeitige des Ungleichzeitigen gibt. Eine gewisse Schwachstelle in der ansonsten höchst anregenden Studie ist demnach, dass keine Kriterien für die Auswahl an literarischen Texten, die ihre Basis bilden, genannt werden. Das zeigt sich besonders auch in den Abschnitten, die sich mit Fotografie und Film beschäftigen. Das aus dem Umgang mit der Porträtfotografie in Thomas Manns "Gladius die" abgeleitete Ende "der illusionistischen Kunst" und der aus "Peter Handkes "Versuch über die Jukebox" deduzierte "Schritt von der Lebenswelt ins Imaginäre" stellen ja nur Positionen dar, zu denen es sich durchaus Gegenstimmen finden ließe.

Jedenfalls gilt: Andrea Gnam hat mit ihrer Untersuchung ein höchst aktuelles Thema aufgegriffen, schließlich droht ja möglicherweise beim Verwechseln von Medienrealität und Lebenswirklichkeit immer noch, was laut ihrer Studie den romantischen Liebhabern an Alternativen blieb: Tod und Wahnsinn.


Titelbild

Andrea Gnam: Sei meine Geliebte, Bild! Die literarische Rezeption der Medien seit der Romantik.
Iudicium Verlag, München 2004.
148 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-10: 3891297726

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch