Statistiken der "Empfangskultur"

Frédéric Meynier-Heydenreich quält sich durch fünf Jahre deutsch-französischer Literaturkritik

Von Roman LuckscheiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roman Luckscheiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die wenigsten Arbeiten zu den deutsch-französischen Literaturbeziehungen beschäftigen sich mit der grenzüberschreitenden Rezeption der Gegenwartsliteratur. Im Zuge der Europäisierung scheint der Eindruck zu entstehen, nationale Komponenten spielten bei der Kulturproduktion keine Rolle mehr. Das mag im Vergleich zu den Perioden erhöhter ideologischer Auseinandersetzungen und nationaler Abgrenzung zwar nachvollziehbar sein, die wenigen Versuche, die dennoch von der Transferforschung unternommen werden, zeigen, dass die Fragestellung nach wie vor relevant ist.

In Frédéric Meynier-Heydenreichs Jenenser Dissertation stehen die Rezensionen in Tageszeitungen unter Beobachtung, die in Frankreich und Deutschland jeweils die Neuerscheinungen des Nachbarlands betreffen. Meynier-Heydenreich hat dazu ein Korpus aus mehreren Dutzend Beispielen aus der "Frankfurter Rundschau" und der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" einerseits und "Le Figaro" und "Le Monde" andererseits aus den Jahren 1995 bis 1999 zusammengestellt. Die Hälfte seiner Darstellung besteht aus bibliografischen Listen und statistischen Auswertungen, minutiös unterscheidend zwischen etablierten und nicht-etablierten Autoren, gruppierend nach der Frist zwischen dem Erscheinungsdatum des Originals und desjenigen der Übersetzung, etc. Ein Schaubild visualisiert die Konjunkturkurve der jeweiligen Literaturen im anderen Land und zeigt erstaunliche Parallelen in den Hochs (1997) und den Tiefs (1998) der Rezeption. Es folgen Tabellen, welche die "Differenziertheit der Fremd-Wahrnehmung" und die "Aktualitätsbezogenheit der Rezensionsarbeit" messen: Für "Le Monde" ergibt sich im letzten Punkt 1999 ein Wert von 40,7 %, für die Rundschau beispielsweise von 33,3 %. Das ist reichlich opak, doch gibt der erste Teil der Arbeit Hinweise zum Verständnis der Ergebnisse. Diese sind allerdings derart komplex, dass eine Wiedergabe hier ausufern würde. Nur soviel: Es sind klare methodische Prinzipien erkennbar, welche der "Vielfalt der Erscheinungen" in den "zeit-, kultur- und soziohistorischen Kategorien" gerecht werden sollen.

Der Schritt von der quantitativen zur qualitativen Auswertung der "Empfangskultur" führt zur exemplarischen Textanalyse von 49 Rezensionen. Bei den besprochenen Autoren handelt es sich um Emmanuel Bove, Michel Houellebecq, Günter Grass, Bernhard Schlink u. a. Für die französische Seite gibt Meynier-Heydenreich zusammenfassend zu erkennen, dass die Rezensionen deutscher Bücher oft "historisch verwurzelte Befürchtungsformulierungen oder stereotype Identitätszuweisungen" aufweisen, insgesamt gar von einem französischen "Unvermögen" zu sprechen sei, "mit bestimmten deutschen Erscheinungen umzugehen". Und noch gewagter: "Auf französischer Seite ist in der unsicheren Grundhaltung gegenüber Deutschem ein anzunehmender Mangel im Umgang mit Fremdem als kulturell gleichberechtigter Größe auszumachen."

Der Vergleich zwischen den deutschen Besprechungen von Houellebecqs "Elementarteilchen" in der FR und der F. A. Z. wiederum ergibt laut Meynier-Heydenreich, dass die F. A. Z. eine "frankreichkundigere Leserschaft" voraussetzt als die FR, in der ein "großes Kontextualisierungsangebot" den Roman einzuordnen hilft. Doch davon abgesehen können die Analysen über Detailbeobachtungen, die dem jeweils zugrundeligenden Text geschuldet sind, kaum hinausgelangen. Verallgemeinerungen, um die sich Meynier-Heydenreich bemüht, geraten zu erstaunlichen Pauschalurteilen: "In beiden Kritiken fällt die inhaltliche Bewertung positiv aus, was für die Frankfurter Allgemeine in Anbetracht vorangehender Rezensionsanalysen überrascht, handelt es sich doch bei diesem Roman auch um einen kulturkritischen Diskurs pessimistischer Prägung, dem die Zeitung in der Regel kritisch gegenübersteht."

In diesem Satz konzentriert sich die Hauptproblematik der gesamten Untersuchung: Sobald Rückschlüsse auf eine generelle Transferkultur in den einschlägigen Organen gezogen werden, bewegt sich der Autor auf dünnem Eis und transportiert selbst Klischees, deren Aufdeckung er sich doch gerade vorgenommen hat. Denn der peniblen Statisterei steht pure Spekulation gegenüber: "Die Beständigkeit der Frankfurter Allgemeinen, immer wieder auf literarische Erscheinungen wie die Werke von Emmanuel Bove negativ einzugehen, ist nicht anders zu deuten als mit dem Ziel, eine Einstellung öffentlich zu machen, die eine Abgrenzung gegenüber Literatur dieser Art aus dem Nachbarland als Grundlage hat."

Es ist nicht nur der unnötig komplizierte Stil, der hier irritiert, sondern die Fremdheit, mit der der Autor seinem Untersuchungsgegenstand letztlich begegnet. Offenbar hat er sich mit keinem Redaktionsmitglied bzw. keinem Rezensenten unterhalten, um etwas über die durchaus interessanten Kriterien der Selektion und Bewertung zu erfahren. Die umfangreiche Forschungsliteratur zur Literaturkritik wurde zudem völlig außer Acht gelassen (eine Forschungsbibliografie fehlt gar völlig). Entsprechende Recherchen, die sich des Gegenstands jenseits der Rezeptions- und Transferproblematik theoretisch und praktisch angenommen hätten, hätten erst die Präzision und Vielfalt erzeugen können, welche die endlosen Tabellen im Anhang nur vortäuschen. Allein der Abdruck der besprochenen Kritiken am Ende des Buchs sichert demselben einen nachhaltigen Dokumentationswert.


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Frédéric Meynier-Heydenreich: Die Literatur der Anderen. Fünf Jahre deutsch-französische Literaturkritik (1995-1999).
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
384 Seiten, 56,50 EUR.
ISBN-10: 3631520719

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