Genozid und Zickenterror

Christian Jungersens Thriller "Ausnahme" spielt mobbende Menschenrechtlerinnen gegeneinander aus

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer "Indien ist ein Land der Extreme." googelt, erhält 189 Treffer. Wer "Dänemark ist ein Land der Extreme." googelt, findet nichts. Im Grunde ist das nachvollziehbar. Problematisch aber ist, dass sich 181 Treffer der "Indien"-Anfrage auf das Bollywood-Kino beziehen: Tanz- und Gesangseinlagen, farbenprächtige Schleier, postmoderner Pop-Kitsch, bei dem sich westliche Kritiker verwundert fragen: "Huch, wo kommt das denn jetzt alles her?". Doch genau in dieser Disziplin - abgedrehte mediale Sub-Genres - steht Dänemark Indien in nichts nach: Lars von Triers "Geister"-Serie ließ den drögen Klinik-Alltag in Kopenhagen zur wahnwitzigen Tour de Force abdriften. In "Nightwatch" gerät ein als Nachtwächter jobbender Student in einen Strudel aus Angst und Paranoia. Und auch im Kultfilm "In China essen sie Hunde" steht ein braver Bankangestellter im Mittelpunkt, dessen Leben zur Groteske verkommt. Keine Frage also: im Subgenre "alltägliche Angestellte im Angesicht des Irrsinns" ist Dänemark Marktführer. Grund genug also, dem braven Land endlich ein wenig Potential fürs Abseitige zuzusprechen. Statt immer nur die armen Inder zu bemühen. Die psychologischen Implikationen sind an dieser Stelle erst mal nebensächlich - viel wichtiger ist das Wissen: ein Roman voller normaler Dänen, die einem normalen Job nachgehen? Das wird zwangsläufig als Inferno enden! Und entsprechend verlockend klingt es denn auch, das Setup aus Christian Jungersens Thriller "Ausnahme": vier Frauen zwischen Mitte 20 und Anfang 40 arbeiten gemeinsam im (fiktiven) Dänischen Zentrum für Information über Völkermord. Sie horten Archivmaterial, schreiben Essays, besuchen Konferenzen und helfen Akademikern bei Buchprojekten. Und in den Mittagspausen sinnieren sie über Holocaust und Ostvertreibung, über Kenia, Korea und Kambodscha, über den neuen Freund und die Pläne für den Wochenendausflug. Dann erhält eine von ihnen, die resolute Literaturwissenschaftlerin Iben, eine anonyme Morddrohung per E-Mail. Kurz darauf bekommen auch Projektleiterin Malene und Sekretärin Camilla Post. Nur Anne-Lise, die missmutige Bibliothekarin, bleibt verschont. So lange jedenfalls, bis ihr eine mit Blut gefüllte Aktenablage auf den Kopf fällt...

"Ausnahme" gönnt sich über 600 Seiten, um seine Geschichte zu erzählen. Genug Platz also für sinistre Nebenfiguren, leise Verdachtsmomente, überraschende Enthüllungen. Und genug Zeit, um die Spannungsschraube quälend langsam zuzudrehen. Deshalb wird erst nach 100, 200 Seiten Schritttempo klar, dass Jungersens Vehikel unter einem Konstruktionsfehler leidet. Dass die Geschichte nicht bewusst behäbig beginnt, sondern einfach viel zu langsam erzählt wird. Bis der Tritt aufs narrative Gaspedal ein wenig Wirkung zeigen kann, vergeht über die Hälfte des Romans. Abwechselnd aus den Perspektiven der vier Frauen geschildert, verharrt "Ausnahme" in einem schmucklosen, anstrengenden Präsens. Und staubtrockenen Dialogen:

"Camilla ist nett, phänomenal in ihrer Arbeit und immer für einen Spaß zu haben", denkt Iben. "Malene ist schon immer diejenige gewesen, die [sie] am wenigsten leiden konnte. Unter anderem, weil Malene von Anfang an zu Anne-Lise am gemeinsten war", denkt Camilla. "Es ist so offensichtlich, dass Iben Anne-Lise verdächtigt, eine multiple Persönlichkeit zu sein - das heißt, psychisch sehr krank", denkt Anne-Lise. "Iben hat ihren Job durch mich gekriegt. Ich habe ihr die Türen in die Menschenrechtsszene geöffnet, und nun schätzt Paul sie mehr als mich. Wenn es ihr gelingt, mir auch Gunnar zu nehmen, dann hat sie ALLES", denkt Malene. "Ach, Mädels!", denkt da der Leser, "Entkrampft euch mal!".

Der ungelenke Stil - überdeutliche Aussagesätze, schmucklose Psychologisierungen - strengt an. Aber er passt recht gut zur Atmosphäre im Büro, und zur doch recht simplen Gedankenwelt der Angestellten: alle sind subjektiv und misstrauisch, und ganz langsam steigern sie sich von kleinen Sticheleien bis hin zum offenen Krieg. Erzählerisch gewinnt vor allem Anne-Lise deutlich, als Jungersen nach über 200 Seiten "Außenansicht" endlich in ihre Perspektive überwechselt. Die Psychologie der vier "Ausnahme"-Protagonisten ist platt. Aber immerhin so wirkungsvoll gegeneinander verkantet, dass sich mit wechselndem Fokus interessante Verschiebungen ergeben.

Problematischer ist Jungersens unbedarfter Holzhammer-Stil, wenn sich der Roman mit seiner zweiten großen Thematik befasst: Völkerrechtsfragen, Kriegsgräuel und sozialpsychologische Reflektionen über die Natur des Bösen. Das sind Gebiete, die in ihrer Komplexität nicht so recht ins Buch passen wollen, denn Jungersen reduziert auch sie auf Allgemeinplätze. Und klatscht sie dabei so ungelenk an den Büro-Plot wie die Autoren der "Lindenstraße", wenn pro Episode in ein, zwei nachgedrehten (und sehr bemüht wirkenden) Szenen über tagespolitische Themen diskutiert wird ("Aber diese Alko-Pops, die die jungen Leute jetzt immer trinken, das ist doch furchtbar!").

Vor Einsatz der Handlung geriet Iben in Afrika in Rassenunruhen, und wurde von einer Miliz entführt. "Wenn die Geiselnehmer wüssten, was gut für sie ist, würden sie [Iben] bald wieder zurück in die Hütte schicken. Es zeigt ihre mangelnden Erfahrungen, dass sie mit ihrem Versuch, mit ihnen Freundschaft zu schließen, überhaupt soweit kommen konnte. Iben erinnert sich, dass den Polizisten des Hamburger Reservebataillons 101, als sie das erste Mal alle Einwohner eines jüdischen Dorfes töten sollten, befohlen wurde, die Juden einzeln zur Hinrichtungsstelle im Wald zu eskortieren, zu erschießen und dann zurückzugehen, um einen neuen Juden zu holen. Allein durch die wenigen Minuten, in denen sie mit dem Opfer allein auf dem Weg zu dem Platz im Wald waren, durch den kurzen Wortwechsel, fiel es den Polizisten wesentlich schwerer, den Juden hinterher zu erschießen. Viele mussten aufgeben. Andere wurden später von fürchterlichen Alpträumen gequält."

Das ist nicht nur sprachlich anstrengend - auch als Analogie holpert es. So gewichtig Jungersens Agenda auch wirken mag - im Kontext der eher banalen Mobbing-Problematik sind die Parallelen fehl am Platz (noch dazu wirken die Genozid-Passagen allesamt, als seien sie hastig zusammengegoogelt worden: "Best of Massenvernichtung"). Zum Schluss soll alles zusammenpassen: Ibens Theorien über multiple Persönlichkeiten, die Aufklärungsarbeit des Zentrums, und der alltägliche Horror im Büro. Etwa, als Camilla einen dubiosen Zettel findet: "Wir sind Ratten! Versuchsratten! Nur verfluchte [...] die in dem Labyrinth herumlaufen, nach Sozialpsycho- [...] Gesetzen, die wir nicht kennen." Interessante These. Aber schlecht umgesetzt: statt die Mobbing-Problematik aufzuwerten, werden Völkermorde durch diese Analogie unfreiwillig bagatellisiert.

Doch der Roman hat auch starke Passagen. Immer, wenn sich der Graben zwischen Selbst- und Fremdverständnis der Figuren plötzlich weitet, die Frauen in Situationen landen, die mit ihrem bürgerlichen Leben nur noch wenig gemein haben: Anne-Lise, die inkognito eine Chorprobe besucht, um ihrer Rivalin auf den Zahn zu prüfen. Oder Iben, die nachts in ein Haus einbricht, um nach brisanten Daten zu suchen. Passagen also, in denen Jungersen die unspektakulären Frauen dazu bringt, sich scheinbar "out of character" zu verhalten - nur, um zu verdeutlichen, zu welcher Durchtriebenheit völlig gewöhnliche Menschen unter Druck plötzlich fähig sind. Ob die Rechnung aufgeht, zeigt sich jedoch - wie bei jedem Thriller - erst mit den finalen Enthüllungen am Ende des Buches.

Und "Ausnahme", eine eh schon recht schleppende Lektüre, enttarnt sich am flügellahmen Schluss vollends als Trivialroman, der sich zu viel vorgenommen hat. Die Filmrechte sind vergeben, und ein Regisseur mit viel Sinn fürs Abseitige könnte den Stoff mit schrägen Bildern und perfiden Montagen mit Sicherheit zu einem passablen Thriller aufwerten. Doch Jungerson selbst reiht Wendungen so lustlos aneinander, lässt Figuren derart ironiefrei Stuss reden und denken, dass sich der Gedanke aufdrängt: gäbe es öffentlich-rechtliche Prosa, Jungersen schriebe deren übelste Sorte.

Paradoxerweise sind es also gerade nicht die Extreme, in denen "Ausnahme" überzeugt (das Spannungsfeld Völkermord - Alltag, die psychologischen Brüche, bürgerlicher Alltag versus politische Abgründe), sondern die Banalitäten. All die kleinen Gesten, halbeingestandenen Gedanken völlig normaler Angestellter. Ihre Differenzen, Eifersüchteleien, ihre "Nach oben Buckeln, nach unten Treten!"-Attitüde und ihre Engstirnigkeit. In Frankreich - laut Google ebenfalls kein Land der Extreme - haben Claude Chabrols böse kleine Filme alle bösen kleinen Misstöne in Familie und Freundschaft aufs Genaueste ausgelotet. Jungersen hätte das Zeug, dasselbe für die Arbeitswelt zu leisten. Ein Mann der Extreme, das ist er eben nicht: je höher der Anspruch, je weitgefasster der Blickwinkel, je ambitionierter die Problematik, desto flacher werden Plot und Figuren. "Alltägliche Angestellte im Angesicht des Irrsinns", dazu muss man nicht gleich Parallelen zu Adolf Eichmann bemühen.


Titelbild

Christian Jungersen: Ausnahme. Roman.
Übersetzt aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg.
Piper Verlag, München 2006.
667 Seiten, 23,90 EUR.
ISBN-10: 3492047718

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