Rezensieren als Zwangshandlung

Marco Schickling über "Hermann Hesse als Literaturkritiker"

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hermann Hesse war einer der produktivsten Rezensenten aller Zeiten. In rund 60 Jahren besprach er für eine Vielzahl von Zeitungen und Zeitschriften im ganzen deutschsprachigen Raum mehr als 3.300 Bücher - eine unglaubliche Lese- und Arbeitsleistung. Die seit 2004 bei Suhrkamp unter dem Titel "Die Welt im Buch" vollständig vorliegende Edition seiner Rezensionen (vgl. literaturkritik.de Nr. 08/2003), herausgegeben von Volker Michels, umfasst fünf dicke Bände, ein Viertel seines Gesamtwerks.

Über den Wert dieses unablässigen Besprechens und Kommentierens hatte Hesse selbst jedoch seine Zweifel. Als ihm sein Freund Hugo Ball 1926 mitteilte, in seiner Biografie auch über diesen Aspekt schreiben zu wollen, erteilte ihm Hesse prompt eine Absage: "Ein Kapitel, das Sie wohl enttäuschen wird, ist meine Tätigkeit als Kritiker. Ob sie wirklich ein eigenes Kapitel verdient? Ich habe stets die Sicherheit, mit der Kritiker auftreten und Zeit- und Kulturkritik betreiben, mit Mißtrauen betrachtet, und mir eigentlich wirkliche Kritik öffentlich nie erlaubt. Vielleicht warnt mich auch ein Instinkt der seelischen Ökonomie, allzu weit in rein intellektuellen Äußerungen zu gehen, um den Boden nicht auszutrocknen, auf dem die Dichtung wächst."

Die Forschung ist Hesse in dieser Einschätzung mehrheitlich gefolgt: Die Untersuchungen über Hesses literaturkritisches Wirken sind überschaubar geblieben und beschränken sich meist auf Einzelaspekte. Eine längst überfällige, breit angelegte Studie zu diesem Thema legt nun Marco Schickling vor, der bereits an der "Die Welt im Buch"-Edition mitgearbeitet hat. Angeregt wurde seine Dissertation übrigens, wie Schickling in seiner Danksagung verrät, noch von Siegfried Unseld persönlich.

Schickling, für den "Hesse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einer der profiliertesten und engagiertesten Vermittler zwischen Autor und Leser war, ein professioneller Anwalt der Literatur und des Lesens", rekonstruiert umfassend die jahrzehntelange literaturkritische Tätigkeit Hesses: von den Anfängen in den 1890er Jahren noch als Buchhandelsgehilfe über die Mitarbeit an Albert Langens Zeitschrift "März" um 1910 und die eigene Zeitschrift "Vivos voco" nach dem Ersten Weltkrieg bis zu den Auseinandersetzungen um Hesses mutiges Engagement für emigrierte und jüdische Dichter in der "Neuen Rundschau" und im schwedischen "Bonniers Litterära Magasin" bis Mitte der 1930er Jahre. Schickling folgt dabei einem erweiterten Begriff von Literaturkritik: Neben den von Hesse publizierten Urteilen über Bücher werden auch solche in Briefen miteinbezogen. Gerechtfertigt ist das deshalb, weil der junge Hesse, wie Schickling zeigt, sich zuerst im privaten Briefverkehr als Kritiker geübt hat. In der letzten Phase, nach dem Zweiten Weltkrieg, kehrte Hesse zu dieser Form sogar zurück, als er, angewidert von der ideologisierten und kommerzialisierten Presse, Bücher in Rundbriefen besprach, die er vervielfältigen ließ und an einen ausgewählten Kreis von Lesern verschickte.

In den Jahrzehnten dazwischen knüpfte Hesse sehr gezielt ein dichtes Netz an Kontakten in den Presselandschaften Deutschlands, Österreichs und der Schweiz und erreichte so ein Millionenpublikum. Erstaunlich professionell und umfassend vermarktete er seine Leseleistung und ließ seine Kritiken zeitweilig sogar über eine Agentur "zweitverwerten". Zwar klagte er ein Leben lag über die ständige Rezensentenfron und das 'Überschwemmtwerden' mit Novitäten. Auch kündigte er Verlegern und Redakteuren immer wieder an, seine Tätigkeit als Kritiker einzustellen. Realisiert hat er seine Rückzugsabsichten jedoch nie.

So ist denn das interessanteste Kapitel in Schicklings Arbeit jenes, das Hesses Motivation(en) nachgeht. Immerhin ging das Rezensieren vor allem zu Lasten der eigenen dichterischen Arbeit - und über die lebenslange Spannung zwischen literarischem und literaturkritischem Schreiben bei diesem Autor hätte man von Schickling gern mehr erfahren. Nach Schickling war die Literaturkritik ein "selbstauferlegter Zwang" Hesses. Sie war ebenso eine Möglichkeit, seine pädagogisch-volkserzieherischen Bedürfnisse zu befriedigen wie seine sozial-kommunikativen. Schließlich konnte Hesse, auch wenn er primär für das breite Publikum rezensierte, über das Medium der Buchbesprechung nicht nur an vergessene Autoren erinnern und den Leser zu einem Qualitätsbewusstsein erziehen. Vom fernen Montagnola aus konnte er im Literaturbetrieb mitreden und mit zahlreichen Autoren, Literaten und Verlegern ins Gespräch kommen.

Wenig plausibel erscheint freilich die Selbstverständlichkeit, mit der Schickling ökonomische Motive abweist: "Abgesehen von den Anfangsjahren als Dichter, gab es keine finanzielle Notwendigkeit, die ihn zu dieser Tätigkeit gezwungen hätte." Das hat die Hesse-Biografik bislang anders gesehen, hat vielmehr darauf hingewiesen, dass das Rezensieren für Hesse, der ja nicht jedes Jahr ein neues Buch veröffentlichte, einen verlässlichen und vor allem regelmäßigen Nebenverdienst bot, der umso wichtiger in jenen Zeiten wurde, in denen seine Bücher in Deutschland boykottiert oder die Einkünfte aus Deutschland von der Inflation aufgefressen wurden. Gerade Hesse böte aufgrund der unzähligen Medien, in denen er publizierte, und der diversen Briefwechsel eine Möglichkeit, den von der Forschung noch immer zu wenig beachteten Aspekt der Honorierung in der Geschichte der institutionellen Literaturkritik exemplarisch zu beleuchten.


Titelbild

Marco Schickling: Hermann Hesse als Literaturkritiker.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2005.
238 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-10: 3825350800

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