Relativismus und Realismus

Joachim Lottmann, der selbst ernannte Vater der Popliteratur, begibt sich mit "Zombie Nation" tief hinein in den Familienroman

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit seinen früheren Büchern hat sich Joachim Lottmann stets auch über aktuelle Zeiterscheinungen lustig gemacht: "Mai, Juni, Juli" konnte man Mitte der 1980er Jahre als Parodie auf die Nabelschau-Literatur deutscher Autoren lesen, "Deutsche Einheit" war die Antwort auf den von der Kritik geforderten großen Wenderoman, und jüngste Generationendebatten wischte er mit der ultimativen soziologischen Romanstudie "Die Jugend von heute" vom Tisch. Jetzt, so scheint es, amüsiert sich Lottmann über das Interesse der jüngeren Schriftsteller an Tradition und Ahnenforschung und schreibt, folgerichtig, einen Familienroman. "Zombie Nation" enthält alles, was man an Lottmann seit je verachten und zugleich großartig finden konnte: Anmaßung, Indiskretion, politische Unkorrektheit, Gefallsucht, Schwadroniererei, literarische Impotenz bei ausgestellter sexueller Potenz, Protzerei, Ironie, hinterhältiger Witz, ein Faible für Nazi-Kitsch und spröder Charme.

"Was der Chef brauchte, war ein richtig schöner Familienroman, mit vielen Generationen und ganz viel Schicksal. Und zwischen allen Zeilen musste das ewig Menschliche durchscheinen, die Wiederkehr des immer Gleichen, von Nietzsche bis zu den Buddenbrooks, von Uwe Johnsons 'Jahrestage' bis zum ZDF-Dreiteiler. Am besten wäre natürlich so ein Lügenbuch wie Speers 'Erinnerungen' - für mich gleichsam der größte Roman aller Zeiten." Der da wie einer dieser überall anzutreffenden, zynischen Kulturmenschen daherredet, heißt nicht Joachim Lottmann, sondern Johannes Lohmer, aber die Unterscheidbarkeit zwischen Lottmann und Lohmer wird bewusst in Frage gestellt: Jener Jolo, der uns auch in den letzten Büchern durch die Republik, das Nachtleben und überhaupt die Gegenwart geleitete, ist im Zweifelsfall immer im Geiste Lottmanns unterwegs und teilt selbstverständlich auch die biografischen Eckdaten mit ihm: Ende 40, Schriftsteller und Reporter und außerdem der selbst ernannte Großvater der Dandy-Pop-Literatur.

Lohmer macht sich auf Spurensuche und reist durchs Land der Kanzler-Schröder-Dämmerung; Gerhard Schröder und seiner Gattin Doris ist "Zombie Nation" im Übrigen gewidmet. Lottmann beziehungsweise Alter Ego Lohmer besucht Onkel und Tanten, kämpft sich durch alte Dokumente und Archive, begegnet immer wieder irgendwelchen Prominenten, die er als gelernter Borderline-Journalist gekonnt zu denunzieren versteht, und lässt auch ansonsten kein Fettnäpfchen aus. Zu einer Neuauflage der "Buddenbrooks" reicht es zwar nicht so ganz, aber es geht ja auch mehr um das eigene Seelenheil: "Ich erzählte von den etwa 20 Therapeuten, die ich seit meinem 17. Lebensjahr verschlissen hatte. Ich hatte sogar ein Buch mit dem Titel 'Unter Ärzten' darüber geschrieben. Doch in Wirklichkeit hatte ich von Anfang an unter dem Verlust meiner Familie gelitten. Das sollte sich nun ändern. Ich musste wieder anknüpfen an der Stelle, an der das Band gerissen war: beim gewaltsamen Tod meines geliebten Vaters vor 31 Jahren."

Der 1956 geborene Joachim Lottmann und sein Held Jolo gehören einer durch alle Raster gefallenen Generation an: Weder konnte sie richtig bei der 68er-Revolution mitmischen noch emphatisch Punk sein. In diesem ewigen 'Zwischen' kam auch die Auseinandersetzung mit den Eltern zu kurz; man weiß eigentlich nichts über sie. Die Beschäftigung mit den Vorfahren möchte Jolo jetzt nachholen und trägt Erzählungen und Stimmen zusammen, um daraus einen Stammbaum und ein Selbstbild zu basteln. Die Transfers zwischen Eltern und Großelterngeneration zum Lohmer'schen Ego aber gestalten sich schwierig; eigentlich entdeckt er sich erst wieder in einem Ur-Lohmer, dem Urgroßvater des Urgroßvaters, der seine Lebenserinnerungen aufgeschrieben hat. Darin spiegelt sich der Schreiber, darin spiegelt sich auch das ganze Buch. Die Ahnenrecherche ist eine Suche nach der verschwendeten Zeit und der eigenen Identität, die sich bei Jolos Generation blöderweise nicht über gesellschaftliche Relevanz herstellen lässt. Was man aber von Anfang an vermutet, wird nach mehreren hundert Seiten auch Gewissheit: Der Verfall der Familie ist eigentlich unaufhaltsam. "Innerhalb von vier Generationen [...] hatte es die Familie Lohmer von Null auf Hundert gebracht. Wie viele Generationen brauchte es, um von Hundert wieder auf Null zu kommen." Nun, nicht allzu viele. Die Gegenwart, so das traurige Fazit, ist zugleich auch der Tiefpunkt. "Der Abstieg der Familie war zu fortgeschritten, als dass ein Wiederaufstieg möglich wäre."

Der Familienroman - auch ganz im Freud'schen Sinne eines Herbeifantasierens großartiger Vorfahren statt der realen - ist zwar der Hauptstrang dieses Buchs, aber immer wieder werden wir auf Nebengeleise und in Sackgassen geführt. Lottmann hangelt sich an der Gegenwart entlang, schaut sich darin um, sammelt und wirft auch nichts weg. Das ergibt einen kunterbunten Haufen. Wenn alles auf diesen Haufen geworfen wird, passt ja auch irgendwie wieder alles zusammen. So geht es erneut um die Jugend von heute und um den Bundestags-Wahlkampf; Jolo freundet sich mit Marek Dutschke an, ist Talkshow-Gast, Gesellschaftskritiker, Popliteraturstar, pirscht sich an junge Studentinnen heran, erklärt ihnen und uns die Welt, sucht dann das Glück aber doch wieder bei seiner leicht anstrengenden Frau Barbi, mit der er tollen Sex hat. Es finden sich zudem eingestreut in den Roman Zeitungsartikel, die Lottmann tatsächlich geschrieben und in den letzten Jahren vornehmlich in der "taz" veröffentlicht hat: Texte über den Popstandort Deutschland oder den Papstbesuch in Köln. Die Mischung aus Ressentiments, Kalauern, Pseudo- und hellsichtigen Analysen, Woody-Allen-haften Szenen und heute eher ins Leere laufenden Tabubrüchen funktioniert wie ein Unterhaltungsroman für Kulturszene-Angestellte oder Menschen, die den existenziellen Ernst von Houellebecq zu abgeschmackt und Harald Schmidt zu sarkastisch finden. Dass wir uns nicht falsch verstehen: Lottmann ist komisch. Albern, aber auch komisch. Komisch im Sinne von witzig, aber auch im Sinne von sonderbar.

"Ich [...] kam lieber auf die Literatur zu sprechen. Auf Relativismus und Realismus. Ich sagte, Literatur müsse heute endlich wieder 'kraftvoll' sein, denn es werde seit zehn Jahren nur noch larmoyant und ratlos geschrieben."

Wunderbar, dass Lottmanns Buch nicht im geringsten kraftvoll, ein bisschen larmoyant, auf jeden Fall aber ratlos ist. Der Autor kann sich also auch über sich selbst lustig machen. Relativismus und Realismus - das sind die Stichworte. Beides steckt in "Zombie Nation". Lottmann spielt mit dem Authentischen; er konstruiert Wirklichkeit, indem er alles beim Namen nennt. Er schreibt in einem solch harmlos dahinplappernden Ton, dass einem seine grundlegend ironische Haltung fast heimtückisch vorkommt. Er stellt die Künstlichkeit eines Kunstwerks nicht in Brüchen zwischen Autor und Erzähler, zwischen Text und Welt, zwischen Realität und Relativität aus, sondern bewegt sich vermeintlich immer auf einer Ebene. Das mag - neben persönlichen - einer der Gründe sein, warum Joachim Lottmann, der Münchhausen im Westentaschenformat, bei vielen Kollegen nicht gerade beliebt ist. Rainald Goetz schrieb in seinem Tagebuch "Abfall für alle", Lottmann sei der einzig wirklich böse Mensch, den er kenne. Es gibt sicherlich bösere Menschen als Onkel Jolo. Es gibt aber ohne Zweifel auch bessere Schriftsteller, sogar bessere Popliteraten. Aber unterhaltsamer sind nur wenige.


Titelbild

Joachim Lottmann: Zombie Nation. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006.
398 Seiten, 9,95 EUR.
ISBN-10: 3462036653

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