Die Zeit ist aus den Fugen

Ubi Paradoxa ibi Patria - Michaela Willeke gelingt ein eindrucksvolles Porträt des russischen Philosophen Lev Šestov

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lev Šestov, geboren 1866 unter dem Namen Jehuda Švarcman in Kiew, wird zu den bedeutendsten russischen Religionsphilosophen des 20. Jahrhunderts gezählt. Doch im Unterschied zu Nikolaj Berdjajev, Pavel Florenskij oder Simon L. Frank hatte Šestov sehr bald eigene Wege abseits von Gruppierungen oder Parteien beschritten. Vom bolschewistischen Experiment unter Vladimir I. Lenin hatte er genausowenig gehalten wie von umfassenden Erlösungsplänen, diktiert von einem wirren Rassenwahn. Der jungen Sowjetunion entkam Šestov in das Pariser Exil, wo er 1938 verstarb.

Das Aufkommen der nationalsozialistischen Bedrohung für die europäische Kultur hatte er in lebhafter Klarheit wahrgenommen. Beide Formen totalitärer Diktaturen bildeten für seine Schriften keinen unmittelbaren Anlass, sondern bestätigten sein tiefer gefasstes Nachdenken über die Wurzeln des europäischen philosophischen Denkens. In der Radikalität mit der Auseinandersetzung des griechischen Erbes erinnert mancher Gedanke Šestovs an das Unternehmen von Martin Heidegger. Sehr früh hatte sich Šestov der Illusion eines systemischen Denkens verweigert und griff nicht von ungefähr auf einen aphoristischen Schreibstil zurück, der in seiner griffigen Schärfe die nietzscheanischen Anregungen nicht verleugnete.

Mit den meisten russischen Religionsphilosophen verbindet ihn die klare und heftige Ablehnung eines positivistischen, rationalen Denkens. Das Projekt der Aufklärung erfährt eine deutliche Absage - zu deutlich wurde im Fieberwahn des technisch-maschinellen Zeitalters sichtbar, wohin es führt, wenn der Mensch seinen Verstand zur alleinigen Richtschnur erklärt.

Michaela Willeke hat es sich in ihrer Studie zur Aufgabe gemacht, Denkwege von Lev Šestov aufzuzeigen und Hintergründe dieser "russisch-jüdischen Wegmarken zu Philosophie und Religion" zu erhellen. Bereits im ersten von sechs Kapiteln gelingt es der Autorin eindrucksvoll, die korrespondierenden Elemente in Lev Šestovs Leben, Werk und Wirkung umfassend zu entfalten: "Russe - Jude - Europäer. Eine Koordinatenbestimmung."

Eine Grundthese von Michaela Willeke besteht in ihrem Nachweis von Šestovs "genuin jüdischer Seins- und Denkweise", die in der Gegenüberstellung von "Athen und Jerusalem" als seinem Spätwerk am deutlichsten zum Ausdruck kommt. Der griechischen Metaphysik, gekennzeichnet von Ontologie und Ethik, Logos und Wissen stellt Šestov im jüdischen Schöpfungsdenken das Staunen gegenüber, das sich eine Seinsweise bewahrt hat, in der es Offenbarung und Erlösung gibt. Der griechischen Stoa setzt Šestov die "rasende Rede Hiobs" entgegen.

Willeke betont in Šestovs jüdischer Denkmethode aber nicht nur dessen Rezeption rabbinischer Textauslegung, die keinem geschlossenem System folgt, sondern von einem ständigen Wägen und Oszillieren geprägt ist. Sie belegt bei Šestov dessen Wahrnehmung des alttestamentlichen Exodus-Geschehens, das zu einem "nomadischen Denken" führt, das letztlich von einer "irreduziblen Differenz" gekennzeichnet bleibt. Willeke verweist in diesem Zusammenhang auf die fruchtbare Wirkungsgeschichte der Denkakzente von Šestov, die sich gerade im französischen Differenzdenken wie bei Jacques Derrida, aber auch bei Emmanuel Levinas wiederfinden. Lev Šestov pflegte Kontakte und Freundschaften zu Denkern und Schriftstellern wie Thomas Mann, Nikolaj Berdjajev, Georges Bataille oder Edmund Husserl, dessen Diktum von "Philosophie als strenger Wissenschaft" ihm als nachgerade der absolut falsche Weg erschienen war, was seine persönliche Freundschaft zu Husserl allerdings nicht beeinträchtigen konnte.

Šestovs Abgleichung einer christlich-griechischen Dialektik mit jüdisch-christlicher Offenbarung erfolgt freilich nicht im Sinne eines gegenseitigen Ausspielens. Vielmehr hatte sich Šestov deswegen auf die Suche in die Vergangenheit begeben, um die "Apotheose der Bodenlosigkeit", ein freies und adogmatisches Denken zurückzugewinnen. Das Abstreifen der Fesseln einer autonomen Vernunft gelingt nach Šestov in der Anerkennung der von der Gottesrede bestimmten Heteronomie.

Als unschätzbares Gut achtete Šestov die authentische Freiheit. Die ideologischen Drohungen des zwanzigsten Jahrhunderts sah Šestov auf Athen wie auch auf Jerusalem bezogen. Šestov setzte auf ein Denken, das keinem System unterworfen ist, sondern sich dem Leben widmet. Er sieht die Schrecken der Menschheit, aber bewahrt seinen Glauben an Gott: "Ehrfurcht haben vor dem großen Unglück, vor großer Häßlichkeit, vor großem Mißraten - dies ist das letzte Wort der Philosophie der Tragödie. Nicht alle Schrecknisse des Lebens in das Gebiet des 'Dinges an sich', jenseits der Grenzen der synthetischen Urteile a priori verschleppen, sondern sie achten!"


Titelbild

Michaela Willeke: Lev Sestov: Unterwegs vom Nichts durch das Sein zur Fülle. Russisch-jüdische Wegmarken zu Philosophie und Religion.
LIT Verlag, Münster 2006.
352 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3825890120

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