Life just stopped being simple

"Kannst du" - der erste relevante Roman von Benjamin Lebert

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Verflixte Konsumentendemokratie! Verdammte Mediengesellschaft! Verfluchter Kulturbetrieb! Von all dem Krempel, den Konzerne, Fernsehsender oder Feuilletons ankarren, ins Rampenlicht zerren, öffentlich beklatschen und begaffen lassen, wird behauptet: Deutschland will das. Wir wollen das. Du willst das! Du hast entschieden, wer Superstar wird. Du hast eine Bundeskanzlerin gewollt. Du rufst bei "Neun Live" an, du kippst die Bevölkerungspyramide um, du trägst die Verantwortung für Mehrwertsteuererhöhung, Klingeltonwerbung, Zweiklassengesellschaft. Und für "Niedrig & Kuhnt: Kommissare ermitteln". Du hast Anke Engelke abgesetzt. Du hast die PISA-Studie versemmelt. Und Silbermond singen für dich!

Dabei ist das Leben schlimm genug: Wolkenkratzer stürzen ein, Pandabären sterben aus, die Scissor Sisters landen in den Charts, und "Eine himmlische Familie" wird um weitere 22 Episoden verlängert. Und jedes Mal, wenn so etwas passiert, öffnen sich am Elfenbeinturm die Schießscharten, und Leute wie Alexander Kluge (oder, schlimmer: Jochen Distelmeyer) rotzen der Welt ein süffisantes "Ihr habt es doch so gewolllt!" entgegen. Als wäre damit jemandem geholfen.

Eines jedoch dürfte keiner gewollt haben, nicht einmal Elke Heidenreich und ihre Gefolgschaft aus überenthusiastischen Deutschlehrern und sentimentalen Buchhändlerinnen: den beispiellosen Hype um "Crazy" (1999) und seinen (damals 16-jährigen) Verfasser Benjamin Lebert. Nichts gegen das Buch: eine Internats- und Coming-of-Age-Geschichte, pathetisch-sehnsuchtsvolle Pennäler-Prosa, mit Sicherheit talentierter als vieles, was Leberts Altersgenossen damals in ihren Online-Tagebüchern veröffentlichten. Aber es fällt schwer, sich überhaupt auf ein Buch einzulassen, über das alle sagen: "Das ist deine Generation, das ist dein Sound, dieser Junge spricht deine Sprache, und er trägt sie an die Öffentlichkeit!". Ein solches Buch ernst zu nehmen, das heißt immer auch: Beobachter, Sympathisant, ja, schlimmer noch, Teil einer Jugendbewegung sein. Und gemeinsam mit Deutschlehrern, Buchhändlerinnen und Elke Heidenreich in einem pappig-stickigen Wir-Gefühl aufzugehen. Igitt.

Wer nicht an Etiketten festkleben und gegen Schubladen stolpern will, macht um "Crazy" also am besten einen großen Bogen. Der zweite Roman, "Der Vogel ist ein Rabe" (2003), war dann glücklicherweise so belanglos, dass man ihn mit noch besserem Gewissen ebenfalls totschweigen konnte. Doch jetzt, mit dem Erscheinen von Benjamin Leberts drittem Buch, werden die Dinge komplizierter: "Kannst du" lässt sich nicht so einfach mit einem Schulterzucken abtun. Bewusstes Nicht-Lesen, einfach nur, weil es jeder liest, ist erstmals keine Option mehr. Denn jetzt, sieben Jahre nach seinem Debüt, erzählt Lebert endlich eine Geschichte, die interessanter ist als deren Rezeptionsdebatte. Und rückt endgültig vom bloßen Phänomen zum richtigen Autor auf. Scheiß auf den großen, lauten, langweiligen Lebert-Diskurs: hier lohnt endlich, endlich einmal die tatsächliche Lebert-Lektüre.

"kannst du" spielt in der Gegenwart, im Juni, in einem Deutschland, regiert von Angela Merkel. Tim Gräter ist 21, lebt in Berlin und hat vor fünf Jahren seinen ersten Roman veröffentlicht. Jetzt quält sich der grüblerische Jungautor mit dem Nachfolgebuch ab, verpulvert sein Geld für Prostituierte und bemüht sich erfolglos, seine Vergangenheit zu verdauen: die Trennung der Eltern, den Selbstmord des Bruders, seine Vereinnahmung durch die Medien. Tanja, eine Zufallsbekanntschaft, bittet ihn, als Begleitung für einen Interrail-Trip durch Schweden und Norwegen einzuspringen, und Tim sagt spontan zu. Kaum sind die beiden unterwegs, bröckelt Tanjas Fassade: die aufgeräumte, zielstrebige Schülerin aus gutem Haus ist depressiv, hat hysterische Aussetzer. Tanja wird immer bedrückter, Tim immer gereizter, und die Reise kippt um, zur krampfigen Durchhalteübung: "Ich dachte: Mann! Ich habe mich auf ein paar nette Tage mit einem süßen Mädchen gefreut! Mit allem, was so dazugehört: Lachen! Spaß haben! Vögeln! Und was ich auf keinen Fall gebrauchen kann, ist eine Tragödie. Es gab genug Tragödien in meinem Leben. Und jetzt liegt die schon in der zweiten Nacht des Urlaubs da und heult!"

Mann, wirst du jetzt denken: der Lebert hat's ja immer noch nicht gelernt! Knallt uns die Handlung vor den Latz, ganz frontal! Und wieder diese Stakkato-Sätze! Unerträglich, so eine Sprache: schmucklos! Karg! Simpel! Die kommt gar nicht zum Punkt. Wegen all den Punkten, zwischen den Worten.

Tatsächlich: wer Benjamin Leberts extrem sparsamen Stil noch nie mochte, wird auch in "kannst du" reichlich Angriffsflächen finden. Alles noch da: die ungelenke Erotik ("Ihre Hand umklammerte meinen Schwanz viel zu fest. Aber es war trotzdem schön. Das Schönste war, dass sie mir dabei ihre Brüste zum Küssen darbot. Als es mir kam, spürte ich, wie das Sperma in alle Richtungen schoss."), die kitschig-nihilistischen Beschreibungen ("Der Asphalt schlief. Eine Plastiktüte flatterte von einem der seltenen Windstöße angetrieben an uns vorüber."). Und die Versuche, vom Kleinen regelmäßig aufs ganz, ganz Große zu schließen. Etwa, wenn eine alte Frau von ihrer Nichte erzählt, von der "Abwesenheit", die eine ganze Generation befallen hat: "In dieser seltsamen Abwesenheit [sagt meine Nichte,] sind die Leute in meiner Umgebung und ich - sind wir gefangen. Und nicht, weil wir das Leben und alles nicht interessant oder spannend genug finden (so wie viele Ältere es unserer Generation vorwerfen: dass sie tierisch gelangweilt ist und einfach uninspiriert und so weiter), sondern weil die meisten es einfach nicht schaffen, so ganz und gar wach zu sein, wie es augenscheinlich von ihnen erwartet wird. Es prasselt so unglaublich viel gleichzeitig auf sie ein, dass sie gar nicht anders können, als ein klein wenig abzuschalten. Alles entrückt einem ein bisschen. Man ist nicht mehr hundertprozentig da. Ein bestimmter Teil der vorhandenen Aufmerksamkeit flieht in einen unergründlichen Zufluchtsort, der tief in einem selbst liegt."

Au weia! Also doch wieder nur Generationen-Gedöns, teen angst, Gesellschaftskritik wie aus dem Stuhlkreis beim Ethik-Unterricht? Tim und Tanja als bloße Schablonen, Statthalter, schlimmer: Auswüchse diverser diffuser Jetztzeit-Jugend-Befindlichkeits-Defekte? Das literarische Äquivalent der Fransenponymädels und Trainingsjackenjungs auf den Covern der "Neon", die immer ein wenig an der Kamera vorbeischielen und unter denen dann steht: "Wir wollen noch kein Kind", "Wir lassen uns ausbeuten" oder "So sind wir"? Auf Jugendzeitschriften klingt das stets ein wenig penetrant, suggestiv. Als stünde dort: "Du willst noch kein Kind", "Du lässt dich ausbeuten", "So bist du". "Wir jungen Erwachsenen wollen keine ständige Zwangsfraternisierung!", würde man, würden wir, würdest du jetzt natürlich am liebsten schreien. Aber - und das ist der Punkt, an dem die Geschichte hässlich wird: so weit ist Lebert mittlerweile auch schon selbst gekommen. Beziehungsweise sein Alter Ego Tim, der von Tanja mehr und mehr in die Ecke getrieben wird.

"Wo wohnt Gott? Zu fragen und dann von geilen Mösen und Fotzen zu schreiben, das setzt sich ziemlich halbherzig mit diesem Thema auseinander. Natürlich finden das auch viele toll. Aber ich spreche von etwas, das die meisten wirklich berührt. Sie sollen spüren können, dass das, was in diesem Buch steht, wahr ist. Sie sollen sich verstanden fühlen. Vielleicht wäre ihnen dadurch schon etwas geholfen", sagt Tanja über Tims Erstling. Und fordert bald noch mehr: eine Geschichte soll Tim aufschreiben, nur für sie. Ein Text, der alles wieder einrenkt.

Doch genau diese Forderung hat Tim (und Lebert, wie der Rest des Romans zeigen wird) mittlerweile gründlich satt: "Aber warum, zum Teufel, wollen wir uns überhaupt alle immer in Geschichten wiederfinden? Alle halten immerzu Ausschau nach Geschichten, in denen wir uns selbst entdecken! Warum müssen wir uns immer erst in einem geschriebenen Text, in einem bestimmten Lied, in einem Film wiederfinden, um zu wissen, dass wir Helden sind? Warum wissen wir das nicht vorher?"

"Kannst du" stellt die Frage, was ein Autor für sein Publikum leisten soll. Woher er seine Geschichten nimmt. Für wen er sie erzählt. Und wie er es, ganz nebenbei, durch seine Tage schafft. Natürlich wirft all das auch die größere, allgemeinere Frage auf, was Menschen generell füreinander leisten können. Tim jedenfalls gerät schnell in Sackgassen. Nicht nur mit Tanja: der gefeierte schwedische Autorenkollege, die sexy Literaturagentin aus Norwegen, der französische Skandal-Popliterat, für Tim sind all die Menschen, die er auf seiner Reise trifft, Funktionsträger, denen er mit ganz konkreten Erwartungen gegenübertritt. Er will Sex, Inspiration, Halt.

Aber nur die Prostituierten - zu denen Tim im Lauf des Romans irritierend häufig irritierend unreflektierte Abstecher macht - erfüllen ihren Zweck. Der Rest der Figuren steht unbeteiligt und quälend nutzlos in der Handlung herum. Die Menschen aus "kannst du" passen einfach nicht zusammen, können nichts füreinander tun. Auch Tims Sorge für Tanja ist verschwendet. Er kann sie nicht vor ihren autoaggressiven Impulsen retten.

"Soll ich dir erklären, warum du keine Ahnung von mir hast?", explodiert Tanja schließlich. "Weil du dich keinen Deut für mich interessierst! Weil dir das, was mit mir passiert, im Grunde genommen scheißegal ist. Ich bin keine Person für dich! Ich bin ein saftiges Stück Fleisch mit einem Arsch und zwei Titten! Und wenn ich mich zerstückle, wenn ich mir die halbe Brust wegschneide, wie du sagst, dann ist dein erster Gedanke: Schade um das leckere Fleisch!"

Etwas läuft schief in der Welt dieses Romans: alle Figuren wirken wie fehlbesetzt; und die Art, mit der Tim seine Gegenwart "liest", irgendwie falsch - ohne dass für den Leser eine schlüssigere Lesart erkennbar würde. "kannst du" ist wunderbar holprig, ratlos, zerfasert. Und nirgendwo ein Autor, der die beunruhigend disparaten Handlungsstränge am Ende zu einem schlüssigen, bequemen Ganzen verknüpft.

Klar, an existenziellen Themen hing Benjamin Lebert schon immer. Doch bisher schoss sein Weltschmerz zu oft ins Leere. Er wirkte beliebig, aufgesetzt. Erst der viel komplexere, individuellere Erzähler aus "kannst du" verleiht den alten, klammen Fragen die nötige Härte: Jungautor Tim trifft Entscheidungen, gerät in Situationen, bei denen nicht wieder jeder fünfzehnjährige Gesamtschüler "Scheiße, das kenne ich!" ausrufen wird. Und auch Tanja ist kein stimmiges Porträt einer Borderlinerin (oder gar der Restmüllcontainer, in den Lebert allen spezifisch weiblichen Gegenwarts-Seelenschutt kippt). Sondern das Eingeständnis, dass stimmige Porträts des Anderen, Fremden einfach nicht möglich sind.

Wir glauben also, du wirst dieses Buch gerne lesen. Du wirst dich an vielen Stellen reiben, an blöden Formulierungen stoßen, den Kopf schütteln über dümmliche Dialoge oder grellen Kitsch. Wahrscheinlich werden dich auch die Pop-Elemente stören, der etwas aufgesetzte Terrorismus-Subplot, der selbstquälerische Bret-Easton-Ellis-Narzissmus. Freunden gegenüber wirst du das Buch "Wasa-Land" nennen, wegen Krachts "Faserland", und du wirst es nicht verschenken oder auch nur guten Gewissens empfehlen. Du wirst dich fragen, wie vielen traurigen Schreiberjungs du noch beim Erwachsenwerden zusehen willst, jetzt, wo Stuckrad-Barre gerade aus dem gröbsten raus ist.

Aber du wirst die Lektüre schätzen. Denn du begreifst: "kannst du" ist kein Buch über dich. Und kein Buch für dich. Das ist nicht dein Sound, das ist nicht deine Generation, das ist alles sehr persönlich und mutig und hart und nah. Und, am besten: fremd. "Ich habe das Gefühl", umschrieb Lebert seine Arbeit in einem Interview, "es ist so, wie wenn man eine Wendeltreppe in sich selber hinuntergeht. In den tiefsten Kellerraum, und dort das Graben anfängt. Also tief aus sich die Sachen herausholt." Danke, dass wir dabei sein dürfen!


Titelbild

Benjamin Lebert: Kannst du. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006.
266 Seiten, 9,95 EUR.
ISBN-10: 3462036645

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