Falsche Identitäten allerorten

Ist Martha Grimes wirklich noch Martha Grimes?

Von Susanne BlümleinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Susanne Blümlein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon der erste Blick auf das Cover vermittelt die Ahnung, dass in diesem neuen Inspector-Jury Krimi "Karneval der Toten" nichts so sein wird, wie man es gewohnt ist. Es zeigt das Bild eines Steinreliefs, grafisch etwas ungeschickt eingebettet in schreiendrote Jugendstil-Mohnblüten. Das passt irgendwie nicht zusammen und ist gleichzeitig so laut, wie ein Titelbild nur sein kann. Als wollte es sagen: Seht her! Ich bin neu! Ich bin anders! Der englische Originaltitel, "The Winds Of Change" macht es deutlicher: Die Zeichen stehen auf Veränderung.

Martha Grimes hat sich für ihren neuesten Krimi einem der größten Tabus unserer Gesellschaft zugewandt: Dem Kindesmissbrauch. Ein hinterrücks erschossenes Mädchen liegt in einem Londoner Rinnstein. Keiner weiß, wer es ist oder woher es kommt, und die heißeste Spur führt Inspector Richard Jury zu einem Pädophilenring, der sich aus lauter "ehrenwerten Herren in Spitzenpositionen" zusammensetzt und in einem Haus, nicht weit vom Mordschauplatz entfernt, seinen eigenen kleinen "Kindergarten" unterhält.

Mit dieser Plotstruktur schlittert Martha Grimes leider mitten hinein in eines der weit verbreitesten Klischees der Krimi- und Thrillerliteratur: Pädophile sind immer Männer in gehobenen Positionen mit genug Macht und Geld. Kein Wunder, dass man ihnen auch bei Martha Grimes zunächst einmal nichts nachweisen kann.

Dann jedoch wird ein zweiter Mord verübt. Allerdings nicht an einem Kind, sondern an einer erwachsenen Frau und auch nicht in London, sondern auf dem weitläufigen Anwesen "Angel Gate" zwischen Launceston und Exeter. Das gehört zum Einsatzgebiet von Divisional Commander Brian Macalvie, ein Freund Jurys aus früheren Kriminalfällen. Auch jetzt bittet er seinen alten Kumpel wieder um Hilfe, denn auch in diesem Mordfall weiß man weder, wer die Tote ist, noch woher sie kommt.

Selbstverständlich sind beide Fälle miteinander verknüpft. Immerhin lag die Tote auf dem Grundstück eines Mannes, dessen Adoptivtochter im Alter von vier Jahren spurlos verschwunden ist. Deren leiblicher Vater wiederum verdächtigt wird, nicht nur Mitglied, sondern Oberhaupt des Pädophilenrings aus Mordfall Nummer 1 zu sein.

So beginnt, was die Hauptsache in einem Krimi ausmacht: die Ermittlungsarbeit von Richard Jury, seinem treuen Sergeant Wiggins, Brian Macalvie und einer neuen Figur: dem jungen Detective Sergeant Cody Platt, dem von Grimes ein Image als Cowboy zugedacht wurde. Um den Reigen der bekannten Figuren komplett zu machen, darf natürlich auch Jurys bester Freund Melrose Plant auf dem großen Anwesen als "Experte für Rasenplaggen und Cloisonnégärtchen" heimlich ermitteln.

Eigentlich könnte der Leser sich jetzt entspannt zurücklehnen, um einige wundervolle Lesestunden im Kreise wohlbekannter Figuren zu verbringen - die für den eifrigen Grimes-Leser fast schon wie gute Freunde sind - und der Auflösung des Rätsels entgegenfiebern, doch zu viele Merkwürdigkeiten verhindern ein "Sich-Fallen-Lassen" in die Geschichte.

Die erste Enttäuschung packt den Leser bei der Beschreibung der Figuren, die knapp und oberflächlich bleibt. Oh, sicher: beinahe jede bekannte Figur wird mit ihren Eigenheiten erwähnt, doch sie spielen keine Rolle für den Verlauf der Handlung, weil die übliche Nebenhandlung, die die Beziehung dieser Figuren zueinander thematisiert und meistens das humoristische Element der Krimis bildet, schlicht nicht stattfindet. Die übliche Helfer-Figur des Sergeant Wiggins wird im Verlauf der Ermittlungen durch die des "Cowboys" Sergeant Cody Platt ersetzt, der fortan immer an Jurys Seite weilt. Die stärkste Wandlung macht allerdings die Figur des Richard Jury selbst durch. Der schon immer etwas melancholische Inspector ist eindeutig morbid geworden. Es scheint, als versuche Martha Grimes, ihrem Helden ein neues Image zu geben, um mit einer bekannten Figur etwas Neues zu entwickeln.

Leider läuft das dem inoffiziellen Vertrag zuwider, den sie in 18 vorausgegangenen Inspector-Jury-Krimis mit ihren Lesern geschlossen hat, der unter anderem die Klausel vorsieht, dass größere Veränderungen der Figuren mit Liebesentzug seitens der Leser bestraft werden.

Sucht man eine Entschuldigung, kann man sagen, dass die Veränderung von Richard Jury, dem übergreifenden Thema des Buchs gewidmet ist, das somit lediglich auf allen Ebenen abgehandelt wird. "Karneval der Toten" ist ein Spiel mit Identitäten. Im Verlauf der Handlung stellt sich heraus, dass die Toten keinesfalls die sind, für die man sie gehalten hat, ebenso ist es mit einigen der Lebenden.

Die Frage nach der Identität wird auch für den Leser in Bezug auf die Autorin sehr wichtig. Ist das tatsächlich die Martha Grimes, die man kennt und schätzt?

Der Leser stolpert immer wieder über merkwürdige Sinnsprüche, die keinen Sinn enthalten, vorher nie dagewesene Erläuterungen über Polizeiarbeit, ja selbst über Beschreibungen, wie sich Sätze anhören sollen, wobei man doch erwarten würde, dass sich der Sinn eines Satzes beim Lesen erschließen müsste, anstatt in einer hinterher geschobenen Erklärung.

Neu ist auch, dass Vieles ausführlich und offen psychologisiert wird, was (die gute, alte) Martha Grimes sonst im Nicht-Gesagten hätte schwelen lassen. Viele Dialoge sind plump, viel zu weitschweifig, gehen in keine Richtung und viele Szenen sind nicht nur unmotiviert, sondern bringen überhaupt keine neuen Aspekte über Figuren und Handlung. Selbst die ausführlicher beschriebenen Figuren (neben der Figur des Richard Jury) sprechen und handeln anders, als man es kennt.

Der fertige Krimi wirkt wie ein Manuskript in der ersten Fassung, das weitere Überarbeitungen dringend nötig gehabt hätte. Man fragt sich, welches unfähige Lektorat hier am Werk war oder ob dem Verlag eine Neuerscheinung der "Geldmaschine" Grimes wichtiger war. Vielleicht aber hat Martha Grimes ihr ewiges Thema der wechselnden Identitäten endgültig auf sich selbst angewandt, denn bei der "britischsten" aller Krimi-Autorinnen deutet sich eine Verschiebung hin zum "Amerikanischen" an.

Hat man als Leser noch überrascht geblinzelt, weil der distinguierte, korrekte Richard Jury plötzlich laut flucht, so hat man mit zunehmendem Unbehagen registriert, dass er sich allmählich auch außerhalb des Gesetzes zu bewegen scheint.

Doch richtig unglaubwürdig gerät der Schluss des Buchs, als Richard Jury und Cody Platt in wahrer Cowboy-Manier ("Warten Sie zehn Minuten, dann kommen Sie rein."), die im "Kindergarten" gefangenen Mädchen aus ihrem Martyrium befreien und dabei eine richtige Party starten. Diese Szene erinnert an schlechteste Hollywood-Filme und ist kaum zu ertragen, geschweige denn zu glauben. Der Leser fragt sich unwillkürlich, ob durch Vergewaltigung traumatisierte Mädchen bei ihrer Befreiung tatsächlich lachen, plappern, tanzen und ihrem (männlichen!) Retter in die Arme fallen?

Wäre Lesen nicht sowieso eine stille Angelegenheit, würde es einem glatt die Sprache verschlagen. Und vorsichtig blättert die Rezensentin noch einmal nach vorne zum Titel, ob dort tatsächlich Martha Grimes als Autorin genannt ist. Ist sie. Und auch das ist kaum zu glauben.


Titelbild

Martha Grimes: Karneval der Toten. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Cornelia C. Walter.
Goldmann Verlag, München 2006.
445 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-10: 3442310075

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