Mann und Maus

Daniel Keyes' "Blumen für Algernon" neu aufgelegt

Von Alexander Martin PflegerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Martin Pfleger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Daniel Keyes' "Blumen für Algernon" zählt zu den wenigen Werken der US-amerikanischen Science Fiction, die bereits kurz nach ihrem Erscheinen auch außerhalb der engen Grenzen des Genres literarische Anerkennung fanden. Die 1959 erschienene Kurzgeschichtenfassung wurde mit dem Hugo Gernsback Award ausgezeichnet, die 1966 publizierte Romanversion brachte dem Autor einen Nebula Award ein - die beiden höchsten Ehrungen innerhalb des Science Fiction Genres. Im deutschen Sprachraum wurde der in mehrere Sprachen übersetzte erfolgreichste Roman des Literaturwissenschaftlers und Psychologen Keyes bereits in den 60er Jahren positiv in "Kindlers Literatur Lexikon" besprochen. Die Verfilmung von Robert Nelson unter dem Titel "Charly" aus dem Jahr 1968 brachte dem Hauptdarsteller Cliff Robertson einen Oscar ein.

Erzählt wird die Geschichte des geistig zurückgebliebenen 32-jährigen Charlie Gordon, der als Hilfsarbeiter in einer Bäckerei arbeitet und aufgrund seines unbeugsamen Ehrgeizes zu lernen und intelligenter zu werden dazu ausersehen wird, an einem einzigartigen wissenschaftlichen Experiment teilnehmen zu dürfen. Durch eine Gehirnoperation wird seine Intelligenz sukzessive gesteigert - parallel zu ihm wird der gleiche Eingriff bei der Maus Algernon vorgenommen. Sowohl beim Mann als auch bei der Maus scheint der Versuch geglückt. Während Algernon immer komplexere Labortests spielend zu meistern weiß, erlernt Charlie binnen weniger Wochen mehrere Sprachen, entwickelt sich zu einem auf wissenschaftlichem wie künstlerischem Gebiet überdurchschnittlich gebildeten Menschen, verfasst linguistische Untersuchungen, komponiert Klavierkonzerte und übernimmt schließlich selbst die Überwachung des Experiments. Seine Beobachtungen führen ihn allerdings zu dem Schluss, dass es letzten Endes scheitern werde - auf eine kurze intellektuelle Hochphase bei ihm und der Maus folgt unwillkürlich der Rückfall in Primitivität. Tatsächlich wird Algernon auf einmal aggressiver, findet sich nicht mehr in den Labyrinthen zurecht, durch die man ihn laufen lässt, um seine Intelligenz zu messen, und stirbt am Ende an Hirnerweichung. Auch Charlies Sturz ist unausweichlich - er verlernt alles, was er sich noch vor ein paar Monaten selbst beigebracht hatte, kann mit moderner Musik, die ihn besonders faszinierte, nichts mehr anfangen, und führt schließlich sein Zurücksinken auf das Niveau eines Schwachsinnigen darauf zurück, dass er sein Hufeisen und seine Hasenpfote verloren oder jemand den bösen Blick auf ihn geworfen habe. Am Ende bleibt ihm nichts weiter übrig, als sich in ein staatliches Pflegeheim zu begeben und eine Notiz zu hinterlassen, Blumen auf das Grab Algernons zu legen, den er in seinem Garten beerdigt hatte.

Der in Tagebuchform geschriebene Roman umfasst einen Zeitraum von knapp zehn Monaten, von Anfang März bis Ende November eines nicht näher bestimmten Jahres. Er präsentiert sich dem Leser als chronologische Sammlung der fast täglich abgefassten Fortschrittsberichte Charlies für seine behandelnden Ärzte. Auf diese Weise gelingt es dem Autor, den Leser das Geschehen quasi unmittelbar aus der Perspektive des Betroffenen miterleben zu lassen. Zu Beginn beherrscht Charlie nicht einmal die einfachsten Regeln der Orthografie, im Verlauf der Behandlung erlernt er jedoch sehr schnell die Gesetze der Interpunktion, sein Satzbau wird komplexer, sein Wortschatz reichhaltiger, seine Darstellungsweise differenzierter und selbstreflexiver. Mit dem Schwinden seiner geistigen Fähigkeiten gleichen sich seine späteren Eintragungen wieder dem Anfang an.

Besonders Keyes' originelle stilistische Vorgehensweise trug zur Eindringlichkeit bei, mit der sich die dargestellten Ereignisse dem Leser präsentieren. Obgleich das psychologische Einfühlungsvermögen des Autors zu Recht gerühmt wurde, offenbart der Roman dennoch einige Klischees in der Figurenzeichnung. Charlies in ausführlichen Rückblenden erzähltes Vorleben wird allzu schematisch auf Schlüsselerlebnisse reduziert, die seinen Ehrgeiz zu lernen oder seine anfängliche Scheu vor Frauen erklären sollen. Auch sind die Differenzen der ihn untersuchenden Wissenschaftler etwas überzeichnet, und die weiblichen Charaktere des Romans entsprechen zu sehr bestimmten Stereotypen - die vom "Kindler" als "mütterlich" bezeichnete Sonderschullehrerin Alice Kinnian oder die ausgeflippte, weltoffene, aber auch oberflächliche und letztlich unzuverlässige Künstlerin Fay -, als dass sie tatsächlich zu überzeugen vermöchten. Überhaupt merkt man der besonderen Betonung der sexuellen Verschlossenheit Charlies, die sich zudem in Angssträumen und Wachhalluzinationen niederschlägt, doch sehr stark die Verhaftetheit des Romans in Grabenkämpfen der 50er und 60er Jahre an. Die vielfach lobend hervorgehobene Vertiefung der sozialen Aspekte in der Romanversion mutet in dieser Hinsicht durchaus unvorteilhaft gegenüber der Kurzgeschichtenfassung an.

Dennoch tangieren diese Einwände die Substanz des Werks nur peripher. Ein zentrales Motiv des Romans ist die Ungeduld, mit der insbesondere Erwachsene dem jungen Charlie in einer Phase begegnen, in der etwas mehr Zeit, Anteilnahme und Zuwendung eine - und wenn auch noch so geringe - geistige Weiterentwicklung hätten ermöglichen können. Insbesondere hinsichtlich dieses konsequent entwickelten Motivs ist dem Autor ein Meisterstück subtil andeutender Charakterisierungskunst geglückt. Diesbezüglich lässt sich auch die Grundhaltung des Buchs gegenüber dem wissenschaftlichen Fortschritt sehr präzise erfassen - kein billiger Zukunftsoptimismus, auch keine unreflektierte Fortschrittsfeindlichkeit, wohl aber ein besonnener Hinweis darauf, nicht blind auf die Segnungen der Wissenschaft zu vertrauen, wo sich wahrhaftiges Menschentum und wahrhaftige Mitmenschlichkeit hätten behaupten müssen, aber kläglich versagten.

Die besondere Anziehungskraft von "Blumen für Algernon" - in welcher Form auch immer - beruht aber letztlich auf der Vergegenwärtigung der Ohnmacht des Ich-Erzählers gegenüber Geschehnissen, die er zwar rational erfassen, nicht aber verhindern kann, und auf der geradezu albtraumhaft wirkenden Wiederkehr längst überwunden geglaubter Entwicklungsstufen. Charlie durchschaut auf seinem geistigen Höhepunkt die Unzulänglichkeit der an ihm und Algernon vorgenommenen Maßnahmen und erkennt, dass zu einem späteren Zeitpunkt eine dauerhafte Intelligenzsteigerung auf medizinischem Weg tatsächlich möglich sein könnte, weiß aber auch, dass er diese Entwicklung nicht mehr erleben wird. Dem Rückfall in die geistige Unterentwickeltheit seines früheren Lebens sieht er zunächst mit der Gefasstheit eines tragischen Helden entgegen, der das Unabänderliche akzeptiert; im Laufe seines Herabsinkens bemüht er sich vergeblich darum, zumindest Teile seiner einmal errungenen Intelligenz zu bewahren, um am Endpunkt der Entwicklung die Geschehnisse überhaupt nicht mehr zu verstehen und auf Erklärungsmodelle aus dem Bereich des Aberglaubens zurückzugreifen.

Der Vorwurf, dass letztlich jede Science Fiction Erzählung zum Thema "Übermenschen" daran scheitere, die Geschichte aus der Perspektive eines weit über dem Durchschnitt stehenden Protagonisten zu schildern, wurde auch Keyes vereinzelt gemacht, erweist sich aber bei genauerer Lektüre als unzutreffend. Keyes beschränkt seine stilistischen Experimente auf Charlies Schwachsinnsphasen; seine geistigen Höhenflüge werden hingegen lediglich angedeutet und sprachliche Exaltationen vermieden. Keyes' Roman erscheint nicht allein deshalb geradezu zeitlos; eine Geschichte wie die Charlies ist gerade heutzutage, angesichts des rasanten Erstarkens längst überwunden geglaubter deterministischer und biologistischer Ansätze in erziehungs- und sozialpolitischen Fragen, wieder von beängstigender Aktualität.


Titelbild

Daniel Keyes: Blumen für Algernon. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Eva-Maria Burgerer.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2006.
298 Seiten, 19,50 EUR.
ISBN-10: 360893782X

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