Ein unnötiges Buch

Gerhild Tiegers neuer Ratgeber für Autoren

Von Susanne BlümleinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Susanne Blümlein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Lass laufen!" Der Titel klingt ja pfiffig und macht neugierig. Und der Begleittext verspricht noch mehr: "James Joyce hatte sie auch in seiner Bibliothek, die sechsunddreißig Masterplots des französischen Dramatikers Georges Polti." Wahnsinn. Na, wenn schon James Joyce sie besaß und (so suggeriert der Text) benutzt hat, dann muss dieses Buch ja gut sein. Und weiter heißt es: "Im zweiten Teil - 'Beats, Wendepunkte, Krisen und Konflikte' - wird reichlich neuer Stoff, aus dem sich Geschichten weiterspinnen lassen, geboten: Ein neuer Dreh, eine überraschende Wende als Auslöser für eigene Geistesblitze, dabei hilft dieser Author's little helper."

Ein Buch für Autoren ist das also. Für Autoren, die durch die Lektüre des "kleinen Helfers" neuen Stoff und neue Schreiblust bekommen sollen. Und ein Buch, das einem sämtliche Grundplots der Literatur liefert, damit auch wirklich gar nichts mehr schief gehen kann.

Gegliedert ist das Buch in vier Teile. Zu Anfang "die sechsunddreißig dramatischen Situationen. Von Georges Polti." Schon nach kurzer Zeit macht sich Langeweile breit. Wie lässt sich ein Schriftsteller bloß von diesen "dramatischen Situationen" inspirieren? "Ach, was schreibe ich denn heute? Keine Ahnung? Keine eigene Idee? Nehme ich doch mal Polti Nr. 11." So etwa?

Polti Nr. 11 ist in diesem Fall der Plot "Rätsel" und noch einmal unterteilt in verschiedene Versionen, wie zum Beispiel "A 1: Suche nach einer Person; bei Versagen droht die Todesstrafe". Ob Schiller darauf gebaut hat, als er "Die Bürgschaft" verfasste?

Was ist aber zu tun, wenn einem zum Grundplot keine Figuren und keine Handlung einfallen? Wie gut, dass gleich danach das Kapitel "Beats, Wendepunkte, Krisen und Konflikte" folgt. Gerhild Tieger erklärt ihren Lesern, dass sie der Stoff sind, "von dem jeder Autor nicht genug haben kann." Und so reiht sie kurze Sentenzen aneinander, wie: "Einer muss es ihm sagen, das Autowrack ist der Unfallwagen seiner Frau." Und: "Er hat ein Schlagzeug geschenkt bekommen und übt Tag und Nacht". Mit weiterem Lesen erscheinen die aufgeführten Sätze immer eintöniger und keiner scheint so recht zu unserem Grundplot zu passen. So geht es also nicht.

Das dritte Kapitel "Unfälle, Unglücke und andere Übel" bietet skurrile Begebenheiten, die man auch jeden Tag in der Zeitung unter der Rubrik "Vermischtes" lesen kann. Noch immer macht es nicht klick im Kopf und der Plot "Rätsel A 1: Suche nach einer Person, bei Versagen droht die Todesstrafe" will sich einfach nicht mit Leben füllen.

Stattdessen kommt eine Frage auf: Gehört dieses Buch tatsächlich in die Grundausstattung eines Autors? Haben Autoren nicht ihren eigenen Pool an Ideen und kleinen Geschichten?

Für wen ist dieses Buch also wirklich? Für all diejenigen, die schreiben, oder für diejenigen, die vom Schreiben träumen und dem (zugegebenermaßen sehr gelungenen) Begleittext vertrauen, dass dieses Buch kleine Geistesblitze auslösen kann. Denn immerhin hatte ja auch James Joyce... Ja, die Frage ist nur: Hat er sie auch benutzt?

Was Ratgeber für das Schreiben angeht, sollte man eher misstrauisch sein und grundsätzlich nur den Autoren vertrauen, die mit eigenen Texten, Geschichten und Büchern beweisen, dass sie das, was sie in Ratgebern unterbringen auch durchaus selbst anwenden. Gerhild Tieger schreibt tatsächlich. Nämlich Bücher über das Schreiben.

Doch dann sorgt der vierte Teil doch noch für gute Laune. Es folgt eine Auflistung von Phobien, denn "gute Autoren statten ihre Charaktere mit Eigenschaften aus, die sie menschlich und lebendig werden lassen, so dass man sich in sie hineinfühlen kann." Zwar leuchtet nicht ein, welches hohe Identifikationspotential eine Figur in sich trägt, die an "Arachibutyrophobie" leidet, der "Angst, dass Erdnussbutter am Gaumen kleben bleibt", ein Schmunzeln ist diese Liste aber allemal wert.


Titelbild

Gerhild Tieger: Lass laufen! Mit den 36 dramatischen Situationen von Georges Polti.
Autorenhaus-Verlag Manfred Plinke, Berlin 2004.
156 Seiten, 9,80 EUR.
ISBN-10: 3932909607

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