Wilhelm Meisters Schwestern

Anja Mays Dissertation über "Bildungsromane von Frauen im 18. Jahrhundert"

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht zuletzt die Gender-Forschung innerhalb der Literaturwissenschaften verlieh in den vergangenen zwei Jahrzehnten zahlreichen Texten und Werken, die bis dahin eher ein Schattendasein in den Bibliotheken fristeten, neues Profil. Dazu gehören sicherlich die Texte von Sophie von La Roche und Friederike Helene Unger, besonders natürlich deren bekannteste, nämlich "Geschichte des Fräuleins von Sternheim" und "Julchen Grünthal". Neben und in Verbindung mit den gender studies sorgte eine kulturanthropologische Fokussierung des Kontexts gerade auch bei kanonischen Texten - wie beispielsweise Goethes "Wilhelm Meister"-Romanen - in vielen Fällen für eine neue, erweiterte Lektüre. So nahm Henriette Herwigs Berner Habilitationsschrift "Wilhelm Meisters Wanderjahre" die Fragestellungen zu "Geschlechterdifferenz, sozialer Wandel, historische Anthropologie" in den Blick. Franziska Schößler wiederum situiert in ihrer 2002 bei A. Francke publizierten Freiburger Habilitationsschrift "Goethes 'Lehr- und Wanderjahre'" dessen Erziehungsroman als Paradigma einer Beschreibung des Epochenumbruchs um 1800 - insbesondere für eine hier zu verankernde "Kulturgeschichte der Moderne", wie der Untertitel von Schößlers Arbeit lautet.

Dieser viel beschworene Epochenumbruch bzw. die so genannte "Sattelzeit" ist denn auch Ausgangspunkt für Anja Mays Frankfurter erziehungswissenschaftliche Dissertation, indem sie die "Geschichte des Fräuleins von Sternheim" und "Julchen Grünthal", diese beiden für das letzte Drittel des "pädagogischen Jahrhunderts" zentralen Texte, ins Zentrum ihres Interesses rückt, um zum Einen den bildungstheoretischen Diskurs um 1800 zu beleuchten und zum Anderen mittels der literarischen Texte die Vielschichtigkeit und "Paradoxien aufklärerischer Bildungstheorie" neu zu vermessen. Unter Berücksichtigung zahlreicher zeitgenössischer Pädagogik-Traktate geht es May darum, zu "zeigen, daß in Romanen wie 'Geschichte des Fräuleins von Sternheim' und 'Julchen Grünthal' die komplexen Ausdrucksmöglichkeiten der literarischen Form und der poetischen Sprache als spezifische Qualität der Auseinandersetzung mit bildungstheoretischen Fragen gerade angesichts der spezifischen Bedingungen weiblicher Autorschaft besondere Bedeutung gewinnen."

Was die literaturwissenschaftlichen Habilitationsschriften von Schößler und Herwig anhand des Goethe'schen "Wilhelm Meister" leisten, nämlich die diskursgeschichtliche Beschreibung der Zeit um 1800, bündelt May gleichsam mit erziehungswissenschaftlicher Blickrichtung: "Die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Bedeutung des literarischen Textes für die historische Bildungsforschung hat nicht allein die Relationen zwischen Literatur und Theorie der Erziehung und Bildung um 1800, sondern auch ein spezifisches Spannungsfeld zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion auszuloten, das in beiden Disziplinen die Diskussionen über den Bildungsroman strukturiert."

Zunächst bietet May eine knappe Darstellung einiger "Positionen der Forschung zum Bildungsroman in Erziehungs- und Literaturwissenschaften". Sie referiert besonders die Ansätze von Stephanie Hellekamps als "Hermeneutik des kontingenten Lebens" sowie von Klaus Mollenhauer und Jürgen Oelkers, die cum grano salis die "Einheit und Kohärenz des Subjekts, die Idee, Prozesse der Erziehung und Bildung als lineare, plan- und vorhersehbare fassen, imitieren und organisieren zu können" am Beispiel einiger Texte Thomas Manns beziehungsweise des "Tristram Shandy", "Impulse der Dekonstruktion" hinterfragen. Anschließend diskutiert May unter der Überschrift "Hausfrauen und reisende Gelehrte, sittsame Gattinnen und leidenschaftliche Liebhaberinnen: Bildungsromane von Frauen um 1800" die Paradoxien und Dichotomien aufklärerischer Bildungstheorie, um schließlich zu konstatieren, dass es "im Bildungsroman von Frauen" nicht zuletzt "um eine kritische Auseinandersetzung mit den reduktionistischen Aspekten aufklärerischer Bildungstheorie" gehe. In besonderer Weise gelte dies für die "Geschichte des Fräuleins von Sternheim" und "Julchen Grünthal". Denn diese reflektierten "nicht nur die Vielfalt der historisch vorhandenen Positionen [...], sondern auch die Klassiker aufklärerischer Bildungstheorie: als Hauptbezugspunkte werden dabei immer wieder die Schriften Campes, Kants und Rousseaus erkennbar."

Einerseits analysiert May in der "Sternheim" die Brüchigkeit und die "sich keineswegs kohärent zueinander verhaltenden Facetten der Tugendthematik", die die "geschlechter-polarisierenden Muster" immer wieder unterlaufen - wie etwa anhand der Reiseberichte Sophies gezeigt wird, in denen die "Heldin immer wieder Einspruch gegen das eigene Beispiel" erhebe. Andererseits werde - nicht zuletzt in Anlehnung an die ironisch-metonymische Schreibweise Jean Pauls - in "Julchen Grünthal" "nicht der Entwurf einer anderen Konzeption weiblicher Tugend, sondern vielmehr ein ironisches Plädoyer für die Macht der Leidenschaften" sichtbar.

Immer wieder unterstreicht May "die Doppelbödigkeit des Romans", sei es etwa in der "Erntedankfestszene" oder in der Rede vom "Orangenbaum im Kohlbeet", wobei sie in erster Linie rhetorische Stilmittel oder groteske Situationskomik als Beleg ihrer Beobachtung heranführt. So lasse sich "Julchen Grünthal" letztlich als eine Fundamentalkritik aufklärerischer Pädagogik lesen: "Im Blick auf das komplexe Zusammenspiel von Ich-Erzählung und Rahmenhandlung, Tagebuchaufzeichnungen und Briefen des Zöglings, das die Struktur des Romans kennzeichnet, vor allem aber auf die Bedeutung der Ironie als Stilmittel, wie es im Lichte der Analysen der Autorin zutage tritt, kann verdeutlicht werden, dass 'Julchen Grünthal' bereits der Form nach als eine Szene der Überzeugung angelegt ist, die das Verhältnis von pädagogischem Argument und seiner tatsächlichen Beweiskraft auf den Prüfstand stellt."

Insgesamt, so das nachvollziehbare Fazit dieser gut lesbaren Arbeit, die leider die eine oder andere genuin germanistische Analyse, etwa die von Gudrun Loster-Schneider zu La Roche, vermissen lässt, wird "die bildungstheoretische Bedeutung der performativen Dimensionen von Texten anhand von weiblichen Lebensläufen und Bildungsgängen des ausgehenden 18. Jahrhunderts in privilegierter Weise analysierbar."


Titelbild

Anja May: Wilhelm Meisters Schwestern. Bildungsromane von Frauen im ausgehenden 18. Jahrhundert: "Geschichte des Fräuleins von Sternheim" und "Julchen Grünthal".
Ulrike Helmer Verlag, Königstein/Taunus 2006.
214 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3897412039

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