Irony definitely is not over

Christian Krachts Jahrtausend-Anthologie "Mesopotamia"

Von Oliver GeorgiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Georgi

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sammelbände sind in. Erst recht, wenn sie am Ende des alten Milleniums erscheinen und den vielversprechenden Untertitel "Ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends" tragen. Bei der vorliegenden Anthologie, deren Umschlag ein Bild von Odd Nerdrum ziert - drei eher aus der Renaissance stammende Herrschaften mit umgehängten Maschinengewehren - vermutet der geneigte Leser denn auch gepflegte Ironie und beißenden Sarkasmus, kurz: Erzählungen, die die Lage unserer Gesellschaft am Ende des Jahrtausends prüfend und kritisch untersuchen und mit einem Augenzwinkern bewerten.

Christian Kracht hat sich dieser vielversprechenden Aufgabe angenommen und einen Sammelband mit 17 Erzählungen junger, mehr oder minder namhafter deutscher Autoren wie Rainald Goetz, Benjamin von Stuckrad-Barre oder Moritz von Uslar herausgegeben.

Alle Autoren beschäftigen sich in ihren eigens für diesen Band geschriebenen Geschichten mit Entgrenzungen, Veränderungen, Bewegungen, die gleichsam unter den Abschnitten "Werden", "Sein" und "Vergehen" kategorisiert werden. Somit erwarten den Leser alltägliche Geschichten; Episoden, die in vielen Fällen erlebte Einsamkeit, gar Hoffnungslosigkeit auf nahezu jedem Platz des Globus zum Thema haben, sei es nun in Thailand, Las Vegas oder Bamberg. Eine andere Facette des Buches jedoch ist die im Untertitel des Buches anklingende Ironie.

Gleich die Eingangsgeschichte "Davos" von Moritz von Uslar wirkt vielversprechend für den weiteren Fortgang des Bandes: Uslar schildert im schönsten Bajuwaren- und Yuppie - Slang die Urlaubsreise einer Dreiergruppe aus der Münchner Schickeria in die Schweizer Berge. Die Erzählung ist deshalb bemerkenswert und wird dem ironischen Untertitel der Anthologie gerecht, weil sie gekonnt und kurzweilig die tumben High-Society-Kreise von "Mjunik" persifliert: Joints, Spaß, "so was von nett". Mehr davon! Ebenfalls amüsant ist Alexander von Schönburgs Text "In Bruckners Reich": ein Lesespaß, der von den Schwierigkeiten eines Bruckner-Konzertbesuches berichtet, dessen Genuß dem Erzähler durch tiefgreifende Hämmorrhoidenprobleme vorenthalten bleibt. Besonders hervorhebenswert ist Lorenz Schröters Beitrag "Bellensen": Hier werden die Schwierigkeiten eines kleinen Dorfes bei der Bewältigung seiner braunen Vergangenheit karikiert; eines Dorfes, dessen Bewohner ungeheuer aufgeschlossen gegenüber der deutschen Vergangenheit und deshalb umso erfindungsreicher beim Umgang mit dem Namensproblem der Dorfgaststätte sind, die den verfänglichen Namen "Zum toten Juden" trägt. Lesenswert ist auch Joachim Bessings Text "contrazoom", in dem er über den Honoratioren- und Saufalltag im Frankfurter Buchmessen-Betrieb berichtet.

Rainald Goetz, der zum Thema Buchmesse ebenfalls einen Beitrag beisteuern wollte, ihn aber wegen seines neuen Projekts "Dekonspiratione" leider nicht rechtzeitig fertig stellen konnte, ist in "Mesopotamia" mit der Fotoserie "Samstag, 5. Juni 1999, Hotel Europa" vertreten, die spot-artige Momentaufnahmen aus seinem Schriftsteller- und Reisealltag vermittelt. Goetz schreibt in "Dekonspiratione", er habe in seinem ursprünglich geplanten Beitrag für "Mesopotamia" "das geistige Ineinander von drei distinkten Momenten" beschreiben wollen: das Ineinander der Bilder von außen, wie die Augen es verstünden, das der isolierten Gedanken und das der Nacherzählung dieser beiden ersten Momente durch den dritten, das Wort. Er habe sich einen "Realismus abstrakterer Art" vorgestellt, "der seine eigene Plausibilität für sich haben würde." Gleichzeitig spricht Goetz davon, diese Momente müsse man im Text "auf normale und möglichst alltägliche Weise" passieren lassen. Somit liegt die Vermutung nahe, dass Goetz mit seiner in "Mesopotamia" erschienenen Fotoserie sozusagen als "Notlösung" zumindest einen Teil dieses seines "uralten Projektes" hat verwirklichen wollen: den Moment der Bilder von außen. Goetz stellt Sinneswahrnehmungen wie den Blick aus einem Fenster oder ganz alltägliche Eindrücke wie die Umgebung eines Hotelzimmers nebeneinander und versucht so, eine natürliche, gleichsam auch für den Leser zwingende Plausibilität zu schaffen, die darin begründet ist, dass der Leser erkennt: "Ja, stimmt, so fühlt sich das manchmal an, in einem, im Denken."

Andere Beiträge handeln von Kommunikationsproblemen und "Spaßzwängen" innerhalb einer jungen Reisegruppe, von Rachegelüsten enttäuschter Liebhaber oder aber dem Partybesuch eines Pärchens, das sich nach diversen Eskapaden vornimmt, nie wieder eine Party besuchen zu wollen.

Ganz klar: nicht alle der in "Mesopotamia" versammelten Erzählungen sind gute oder auch nur unterhaltsame Literatur. In manchen Fällen stellen sie belanglose Tatsachen dar, die zudem auch belanglos und dabei gewollt kryptisch erzählt werden. Zur Verdeutlichung sei Annie Phrommayons "Aus der Wüste" erwähnt, eine Geschichte, in der der alljährliche Ausflug einer aus Thailand stammenden Familie in die Glitzerwelt von Las Vegas erzählt wird - und dabei bleibt es auch. Die Erzählung plätschert so dahin, wird von Nebensächlichkeiten bestimmt. Ein Beispiel für exaltierte Poesiealbumslyrik ist folgender Satz: "Manche Augenblicke erinnern mich an Zeiten, die ich nie erlebt habe". Nun gut.

Was vielmehr die Qualität von Mesopotamia ausmacht, ist die größere Zahl der guten, vielschichtigen, nachdenklich stimmenden Geschichten, die tatsächlich dem Anspruch des Buches, ironische "ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends" enthalten zu wollen, gerecht werden. Beachtenswert erscheint hierbei das Selbstbewusstsein der jungen Autoren, die als Vertreter einer Pop-Generation gegen die weitverbreitete, gleichmachende Coolness und Fröhlichkeit anschreiben und darauf hinweisen, dass vieles vielleicht doch nicht so toll ist wie in der Werbung.

So hinterlässt "Mesopotamia" einen überwiegend positiven Gesamteindruck. Bleibt zu hoffen, dass das schon drohend wirkende Jarvis Cocker-Zitat auf der Rückseite niemals eintritt, oder, falls doch, zumindest von Autoren wie den in diesem Band versammelten auf das Schärfste bekämpft wird: "Irony is over. Bye bye."

Titelbild

Christian Kracht: Mesopotamia. Ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999.
336 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3421051917

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