Bashing vs. vindicating Benjamin

Jens Hagestedt und Anja Hallacker auf der Suche nach der reinen Sprache

Von Kai BremerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Bremer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn beinahe zeitgleich zwei wissenschaftliche Bücher zum selben Thema erscheinen, darf davon ausgegangen werden, dass es tatsächlich noch nicht erledigt ist - was im Falle der Walter Benjamin-Forschung ja keine Selbstverständlichkeit ist. In Bezug auf die Bücher von Jens Hagestedt und Anja Hallacker überrascht das. In ihnen geht es um Benjamins Sprachphilosophie, zu der alles Wichtige formuliert zu sein schien. 1980 hat Winfried Menninghaus in seiner grundlegenden Studie "Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie" den engen sprachphilosophischen Zusammenhang der 1916 verfassten Selbstvergewisserung "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen", der Baudelaire-Vorrede "Die Aufgabe des Übersetzers" und der "Erkenntniskritischen Vorrede" zum Trauerspiel-Buch untersucht, diese Schriften aufeinander bezogen und gedeutet. Dieser Kanon zu Benjamins Sprachphilosophie hat sich seither kaum verändert.

Die Thesen und Ausleuchtungen dieser hermetischen Texte wurden in der Forschung seit Menninghaus vor allem präzisiert und reformuliert. Die Arbeiten Hagestedts und Hallackers versprechen nun Bewegung in die Forschung zur Sprachphilosophie zu bringen, was angesichts der deutlichen Zuwendung zu Benjamins Frühwerk in den letzten Jahren auch wünschenswert ist. Man darf also neugierig sein, zumal sich beide einem Teilgebiet der Benjamin-Forschung widmen, um welches vielfach ein Bogen gemacht wird, obwohl es längst ein Gemeinplatz ist, dass seine Sprachtheorie eine Schlüsselstelle im Werk Benjamins markiert. Zeigt sich in dieser doch deutlich, dass der Kritiker und Theoretiker Benjamin immer auch ein Sprachesoteriker war - unabhängig davon, ob man nun Benjamins Sprachtheorie als nicht mehr mystisch qualifiziert, wie Menninghaus, oder doch.

Um es gleich vorweg zu nehmen: Das komplizierte, vielfach als miss- oder gar unverständlich charakterisierte Theoriekonstrukt Benjamins, insbesondere in "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen", vermag Hagestedt nicht verständlicher zu machen. Er bekennt gar wiederholt, dass er Benjamins Ausführungen "nicht verstanden" habe. Eine derart ehrliche Erklärung hat in der Wissenschaftslandschaft leider Seltenheitswert, weswegen sie nur zu begrüßen ist. Das eigene Nicht-Verstehen zum Ausgangspunkt eines massiven Benjamin-Bashings zu nutzen, ist allerdings ein Verfahren, das nicht nur befremdet, sondern jeden Anspruch auf Wissenschaftlichkeit einbüßt, wenn man wie Hagestedt vorgeht. In seinen abschließenden Überlegungen zu Benjamins Platonismus mutmaßt er unvermittelt, dass für Benjamin eine "fundamentale Unwahrhaftigkeit" charakteristisch sei, die er mit Zitaten aus Scholems Tagebüchern über Benjamins "Verlogenheit" vermeintlich belegt. Aus einer Studie zur Sprachphilosophie wird, schwuppdiwupp, eine vernichtende Persönlichkeitsanalyse, die sogar noch mit Hinweisen auf Benjamins Sexualität aufwartet.

Dass ein solches Vorgehen inakzeptabel ist, liegt auf der Hand - zumal, wenn es sich um einen Autor wie Benjamin handelt, dem durch die Rezeption schon vielfach Unrecht angetan wurde. Doch ist Hagestedts Schlusskapitel auch deswegen ein Ärgernis sondergleichen, weil sein Buch ansonsten durch eine sehr enge Lektüre der ersten beiden sprachphilosophischen Texte gekennzeichnet ist, die zwar nicht immer überzeugt, aber Benjamin Satz für Satz ernst nimmt, bedenkt und nicht, wie so oft, aus einer bunten Florilegiensammlung schöner Sentenzen ein je eigenes Benjamin-Mosaik generiert.

Aber trotz dieser Vorgehensweise kann Hagestedt nicht überzeugen. So diagnostiziert er etwa im Hinblick auf die Übersetzungstheorie eine "falsche Auslegung der traditionellen Fragestellung" bei Benjamin und zitiert diesen: "Treue und Freiheit - Freiheit der sinngemäßen Wiedergabe und in ihrem Dienst Treue gegen das Wort - sind die althergebrachten Begriffe in jeder Diskussion von Übersetzungen." Hagestedt meint nun, dass die Parenthese "absurd" sei und dass die übliche Forschungsperspektive Treue zum Sinn und Freiheit für das Wort fordere. Jenseits dessen, dass die Übersetzungstheorie solche einfachen Formeln längst verabschiedet hat, missachtet Hagestedts Rigorismus, dass Benjamins Überlegungen zu Treue und Freiheit im Hinblick auf Interlinearübersetzungen zu verstehen sind, was dieser deutlich sagt. Zwar ist Benjamins Praxis in der Baudelaire-Übersetzung davon weit entfernt, was die Frage nach dem Zusammenspiel von Theorie und Praxis aufwirft. Das widerlegt aber nicht die Theorie als solche und ist erst recht kein Ausdruck für wie auch immer geartete Unwahrhaftigkeit.

Vor dem Hintergrund dieser reflektierend-lesenden Aneignung Benjamins hätte das Buch von Hagestedt, der ein anerkannter Übersetzer ist, für mit Fragen der Übersetzungstheorie Befassten von Interesse sein können. Dass Lektüren der Baudelaire-Vorrede durch etablierte Übersetzer die Übersetzungstheorie und auch die Benjamin-Forschung bereichern können, hat Klaus Reichert unter Beweis gestellt, den Hagestedt allerdings nicht einmal im Literaturverzeichnis nennt. Ihm das allein vorzuwerfen, hieße kleinkariert Autoritäten festzuschreiben. Darum geht es nicht. Entscheidend ist, dass Hagestedt mit seiner um Verständnis ringenden Lektüre vielfach den Kern der Argumentation sowohl Benjamins als auch der Forschung aus den Augen verliert und nur noch um sich selbst kreist - und nicht einmal eine Maus gebiert, sondern bloß ein schmales Hybrid.

Neben den genannten Parallelen zwischen Hagestedts Studie und der Anja Hallackers lässt sich noch ein Berührungspunkt benennen: für beide ist das Konzept eines 'gereinigten' Sprachbegriffs wesentlich, wie ihn Benjamin in "Über Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen" reklamiert. Die 'reine' Sprache ist metaphysisch konzipiert und nach Benjamin eine Sprachbewegung, die im Kern aus der Ding-Sprache und der Namen-Sprache, der so genannten lingua adamica, besteht. Bei Hagestedt liefert dies Konzept nicht nur den Titel, es ist immer wieder Fokus der Ausführungen. Hallacker dagegen setzt sich damit konzentriert im zweiten Kapitel auseinander. Zuvor rekapituliert sie die neuzeitliche Geschichte der Beschäftigung mit der lingua adamica - vor allem in der Frühen Neuzeit, die sie vielleicht etwas kursorisch passiert, und dann bei Herder, Hamann und Novalis. Vor diesem Hintergrund wirkt Benjamin wie ein zu spät Gekommener, dessen Sprachphilosophie nicht etwa als 'nicht mehr metaphysisch' zu kennzeichnen ist, sondern als 'noch metaphysisch'.

Nachdem sie durch die historische Perspektivierung eine erste Vergleichsfolie gewonnen hat, entwickelt Hallacker das Verständnis von Benjamins Konzept unter Berücksichtigung biblischer Sprachtheorien weiter und wendet dies auf "Die Aufgabe des Übersetzers" an. Und hier zeigt sich, was eine präzise Benjamin-Lektüre zu leisten vermag, wenn sie sich ihre Kategorien vergegenwärtigt. Hallacker 'fügt', wie sie es nennt, Benjamins Überlegungen zur Interlinearübersetzung in sein Konzept der adamitischen Sprache ein. Nicht mehr die Sprache des Dichters verheißt damit die Nähe zur lingua adamica, wie bei Hamann, sondern das 'Dazwischen' der Interlinearübersetzung. Das hat Konsequenzen für die Aufgabe des Übersetzers. Der Akt des Übersetzens kann nicht zu einem Ende kommen, weil sein Urgrund ein immer erneutes Bemühen um das Dazwischenkommen sein muss - ein Bemühen, das sich letztlich der Intentionslosigkeit des adamischen Namengebens annähern soll. Damit hat Hallacker aber nicht nur wesentliche Punkte von Benjamins Übersetzungstheorie präzisiert. Sie hat zugleich den für die gegenwärtige Sprachphilosophie wesentlichen Fluchtpunkt von Benjamins Bemühen um die lingua adamica in den Blick genommen: Jaques Derridas Kritik derselben in "Babylonische Türme". Doch belässt es Hallacker nicht dabei, die Unterschiede zwischen beiden Ansätzen zu benennen - Benjamins Versuch, hinter die Bedeutung mittels der lingua adamica zu treten, und Derridas Dekonstruktion der Bedeutung, ohne diese außer Kraft setzen zu können -; als dritte Position - gewissermaßen zwischen Benjamin und Derrida - deutet sie Umberto Ecos "Foucaultsche Pendel" als Appell, die immerwährende Sinnsuche einzustellen.

Wem das zu fatalistisch ist, für den hält Hallackers Buch eine letzte Pointe bereit, eine partielle Rettung von Benjamins Konzept der lingua adamica und der 'reinen Sprache': Ihr liebevolles Zauberwort heißt "Name" - als Emblem einer Sprachtheorie, die auf die Vielfalt des Bedeutens von Sprechen und Sprache setzt. Dass sich Hallackers Rettung von Benjamins Sprachphilosophie damit problemlos gegen Hagestedts verquere Lektüre durchzusetzen vermag, ist offensichtlich. Doch hat der kaum das Zeug zum Sparringspartner. Aus dem Vergleich der beiden lässt sich demgemäß kein Gewinn ziehen. Deswegen bleibt von Hallackers Studie ein guter Eindruck, der sich jedoch erst wird beweisen können, wenn sie auf ernst zu nehmende Gegner trifft.

Anmerkung der Redaktion: Kai Bremer ist Mitarbeiter am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung.


Titelbild

Anja Hallacker: Es spricht der Mensch. Walter Benjamins Suche nach der lingua adamica.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2004.
207 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3770538773

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Jens Hagestedt: Reine Sprache. Walter Benjamins frühe Sprachphilosophie.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
144 Seiten, 27,50 EUR.
ISBN-10: 3631530277

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