Nach Port Bou

Walter Benjamin in der Literatur

Von Justus FetscherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Justus Fetscher

Mit einer Direktheit, die Benjamin sonst zu vermeiden wusste, notiert der Moskau-Reisende am 8. Januar 1927 eine Beobachtung, die weniger als ermutigender Vorsatz denn als bitterer Rückblick zu verstehen ist: "Jedenfalls scheint die kommende Epoche für mich von der vorhergehenden sich darin zu unterscheiden, daß die Bestimmung durch Erotisches nachläßt." Gerade weil diese Selbstbestimmung im Kontext des Tagebuchs, dessen Generalbass die verzagte Klage um die Unerreichbarkeit Asja Lacis' ist, wie ein Pfeifen im rauhen Moskauer Wind klingen muss, könnte sie Benjamin zur Romanfigur qualifizieren. Gab doch die Interferenz zwischen den Bedeutungen von 'Roman' einerseits als Liebesaffäre, anderseits als größere prosaische Narration nicht wenigen Romanen des 18. und 19. Jahrhunderts sowohl ihren Stoff als auch ihre Makrostruktur. Doch bei der unentwegten Fixierung und unerschöpflichen Geduld, mit der Benjamin eine Liebe verfolgte, wird dem Romancier leicht der Atem ausgehen. "Wo dieser Mann", resümierte Benjamin 1933 über sich selbst, "auf eine Frau stieß, die ihn bannte, war er unversehens entschlossen, auf ihrem Lebensweg sich auf die Lauer zu legen, bis sie krank, gealtert, in zerschlissenen Kleidern ihm in die Hände fiele". Solche lebensprägende Fiktion - das konjunktivische "fiele" signalisiert, dass sich selbst diese graue autobiografische Vorstellung noch nicht erfüllt hat - hätten allenfalls der Flaubert der "Éducation sentimentale" oder der Ibsen des "Peer Gynt" literarisch ausgestalten können.

Romanschlüsse. Kästners "Fabian", Labudes Ende

Was Erich Kästner anstellte mit einer Figur, die an Benjamin erinnert, grenzt hingegen an Kolportage. Im Februar 1931 war Benjamins Artikel "Linke Melancholie" erschienen, eine allenfalls dem Kritiker-Kodex der "Einbahnstraße" entsprechende, sonst auch für Benjamins kritische Praxis außergewöhnlich drastische Polemik gegen "die linksradikalen Publizisten vom Schlage der Kästner, Mehring oder Tucholsky". Die Entstehungszeiten dieses Verrisses und des Kästner'schen Romans "Fabian. Die Geschichte eines Moralisten" überlagern sich zwar, doch nicht so, als wäre es ausgeschlossen, dass der Romancier noch auf den Rezensenten reagiert hätte. Benjamin bot seinen Artikel im November 1930 der "Frankfurter Zeitung" an und publizierte ihn drei Monate später an anderer Stelle. Kästner arbeitete am "Fabian" mindestens seit dem Oktober 1930, spätestens im Juli 1931 besaß sein Verlag eine erste Fassung davon, der (retouchierte) Roman erschien Ende Oktober.

Die Romanfigur eines Literaturwissenschaftlers, der erfährt, seine Habilitationsschrift sei abgelehnt worden und sich hierauf erschießt, haben einige Forscher, am prononciertesten Detlev Schöttker, auf Benjamin gedeutet. Beunruhigend oft nämlich scheint der Romancier, wenn er von dieser Figur spricht, auf Momente von Benjamins Biografie anzuspielen. Die Figur heißt Stephan - wie Benjamins 1918 geborener Sohn. Der Titelheld Fabian nennt ihn manchmal nur bei seinem Nachnamen Labude, weil der, so Fabian, keinen Vornamen habe - eine Komplementärfigur zu Walter Benjamin, von dem der Ahnungslose meinen könnte, er habe nur Vornamen. Labude hat eine Wohnung im Zentrum von Berlin, in die er sich zurückzieht, wenn er sein Elternhaus im Westen, eine museal wirkende Grunewald-Villa, nicht erträgt. Natürlich erforscht seine Habilitation nicht den Ursprung des deutschen Trauerspiels, aber immerhin doch die Tragödie Lessings, des wichtigsten deutschen Tragödientheoretikers im auf das Barockzeitalter folgenden Jahrhundert.

Fabian sah die Antipathien voraus, auf die Labudes Arbeit über Lessing bei den Leuten vom Fach stoßen sollte: "Die geweihte Logik eines toten Schriftstellers psychologisch auswerten, Denkfehler entdecken und individuell und als sinnvolle Vorgänge behandeln, den Typus des zwischen zwei Zeitaltern schwankenden genialen Menschen an einem längst verkaufsfertigen Klassiker demonstrieren, das sind Dinge, die sie nur ärgern werden." So dürftig auch Kästner hier Wesen und Reichweite der Benjamin'schen Habilitation verfehlt, indem er Labude den bequemen Haltungen aufsitzen ließ: Biografismus, Psychologie, Geniekult, Historismus, die Benjamin peremptorisch verworfen hatte, so unverkennbar ist doch die Anspielung an den zurückgewiesenen Frankfurter Habilitanden. Labude reist in politischer Mission nach Frankfurt, um die dortigen Studenten für eine sozialistische Initiativgruppe zu gewinnen. Doch sein "politischer Ausflug nach Frankfurt" ist, wie er selbst bekennt, "zum Bespeien". Es scheint, er erreichte als Agitator die Frankfurter Studenten ebensowenig wie Benjamin als Habilitand die Frankfurter Professoren erreicht hatte.

Oder auch die Assistenten. Jahrzehnte bevor durch Burkhardt Lindner der Anteil des damaligen Frankfurter Assistenten Max Horkheimer am Scheitern von Benjamins Habilitation bekannt wurde, setzt Kästners Roman als den Schurken im akademischen und existentiellen Schicksal Labudes einen Berliner Assistenten ein. Er hat dem naiv-gutgläubigen Labude von der Ablehnung der Lessing-Arbeit vorgelogen. Auch die posthume Rehabilitation von Labudes Arbeit kann jedoch nicht über Kästners gründliche Verkennung der Qualitäten hinweghelfen, die Benjamins Schrift zu einem Buch sui generis machen. Fabian selbst nennt Labudes Werk "eine der besten und originellsten literarhistorischen Arbeiten, die ich kenne".

Offensichtlich liegt dem Roman weniger an Labudes intellektuellem denn an seinem Liebesleben. Die fünf Jahre, die dieser Mann scheinbar ohne Anerkennung für seine Schrift über Lessing verwendet hat, kommen mit den fünf Jahren, die er sich vergeblich um eine stabile Verbindung mit seiner Hamburger Freundin Leda bemüht hat, zur Deckung. Leda ist ihm untreu, und als er sich von ihr lossagt und ein Abenteuer sucht, vergeht er fast vor Scham und moralischen Bedenken. Der Roman positioniert ihn als prototypische Seitenfigur des Protagonisten. Denn während Fabian ein Moralist ist, ein souverän-verspielter Beobachter der menschlichen Sitten, ist Labude "ein moralischer Mensch". Er neigt zu strengen Urteilen, empört sich über "Sadisten" und "Verrückte" im Sündenbabel Berlin und bekennt, er hätte Lehrer werden müssen. Sein Dilemma resultiert daraus, dass er nach dem Verlust seiner Illusionen über Leda haltlos wird und seinerseits Belehrung sucht: "Die Hamburger Enttäuschung hatte sein privates Ordnungssystem und in der Folge seine Moral lädiert. (...) Nun kam er, der die Ziele liebte und brauchte, zu Fabian, dem Fachmann der Planlosigkeit. Er hoffte, von ihm zu lernen, wie man Unruhe erfahren und trotzdem ruhig bleiben kann." Das aber ist Labude nicht gegeben. In seinem Abschiedsbrief beschreibt er sich als Figur einer Übergangszeit: "Wir stehen an einem der seltenen geschichtlichen Wendepunkte, wo eine neue Weltanschauung konstituiert werden muss, alles andere ist nutzlos." Psychologistische Anlage eines psychologisierenden Literaturwissenschaftlers: Labude ist, wie Labudes Lessing, der "Typus des zwischen zwei Zeitaltern schwankenden genialen Menschen".

Labudes Haltlosigkeit ist am Ende auch die seines Freundes Fabian. Er folgt Labude nach in den Freitod. Der Werbetexter Fabian bewegte sich in genau der "Zwischenschicht" von "Agenten, Journalisten, Personalchefs", die Benjamin literatursoziologisch als die Sphäre von Kästners journalistischer Lyrik bestimmt hatte. Der Kritiker Benjamin hatte den Kästner'schen Strophen bescheinigt, sie flitzten "durch Tageszeitungen wie ein Fisch im Wasser", hätten indes keine Ahnung vom "Selbstmord, wie ihn Lichtensteins Gedichte propagieren", einem Selbstmord, der "Dumping", Absatz der Ware Mensch "zu Schleuderpreisen" in Zeiten von Inflation und Depression sei. Der Romancier Kästner macht mit diesen Vorwürfen ernst. Sein Fabian stürzt sich in das Wasser, in dem seine, Kästners, Gedichte flitzen sollen. Er wirft sich, arbeitslos, orientierungslos, weg und verhilft dem Roman damit zur finalen Pointe.

Kästners Roman tritt in einen Konflikt der Genres ein. Was ihn mit Benjamins Kritik sachlich verbindet, bestätigt die schonungslose Hellsicht der Benjamin'schen Diagnose und verrät die Kästner'sche Mühe, sich Diagnose und Diagnostiker romanhaft - umarmend, adaptierend, zerstörerisch - einzuverleiben. Kästners Labude-Figur fehlt jedes Moment der Anspielung auf Benjamins Judentum, das allenfalls auf den Vornamen von Labudes Freund Jakob Fabian übergegangen sein könnte. Auch hierin scheint sich eine Sympathie zwischen Labude/Benjamin und Fabian/Kästner abzuzeichnen. Sie ist vorbestimmt dadurch, dass in Labude auch dessen Romanschöpfer Kästner, in Fabian auch der mit Benjamin'schen Augen gesehene Kästner steckt - so gut (schlecht) Kästner sie sich vorstellen konnte. Überein kommen die Figuren im Suizid. Fabian, der den schulmeisterlichen Freund ein Leben in ruhiger Unruhe hätte lehren sollen, nimmt sich hierin doch wiederum an Labude ein Beispiel. Am 19. Januar 1941 notiert sich Kästner in sein Tagebuch, Benjamin habe sich "in Südfrankreich, an der heiteren Riviera, umgebracht". Damit war ganz anderes noch besiegelt als das Versagen seines Romanprojekts, im "Fabian" die "Blamage" des scheinbar abgelehnten Habilitanden Labude zum Gegenstand eines marktgängigen Romans zu machen. Genau hier, an Benjamins Ende, das so stark von dem der Figuren Labude und Fabian absticht und nicht an der heiteren Riviera stattfand, setzen die nächsten Romane an, die von Benjamin sprechen. Denn: "Der Tod ist die Sanktion von allem, was der Erzähler berichten kann. Vom Tode hat er seine Autorität geliehen". Was auch sagt, dass Kästner kein Benjamin'scher Erzähler war.

Trauermaske. Brechts Gedichte auf den toten Benjamin

Tatsächlich hat nichts so häufig zum Anhalts- und Fluchtpunkt von Literarisierungen des Benjaminschen Lebens gedient wie dessen Ende. In den ersten Jahren nach seinem Tod entstehen mindestens neun Gedichte auf Benjamin, die unweigerlich Epitaph-Charakter haben und in der Anrufung eines Wir oder Du die Verbindung mit dem verschwundenen Freund und Gefährten evozieren. Günter Anders' "Das Vermächtnis", das früheste und auffälligste dieser neun, nähert sich mit einem Ton zwischen Pathos und Parlando dem Trocken-Prosaischen Brecht'scher Lyrik. Die Verse von Ernst Schoen, Hannah Arendt, Paul Meyer und Werner Kraft hingegen bleiben orientiert an den Stilen des ersten Jahrhundertviertels, an George, an Rilke oder am Expressionismus. Das zugleich rundeste und emphatischste dieser Gedichte, das von Paul Meyer, hat nicht zu Unrecht in der kürzlich erschienenen Benjamin-Biografie von Momme Brodersen so etwas wie eine Epilog-Position erhalten.

Am bekanntesten sind jedoch die Gedichte, mit denen Brecht viermal ansetzte, die Nachricht von Benjamins Tod in Verse und Reflexionen umzubrechen. Erdmut Wizisla zufolge besiegeln sie die intensive Arbeitsfreundschaft dieser beiden. Symbolisch-ästhetisch beinhalten die Gedichte zwei Irritationsmomente. Sie verweisen auf das leise Verpflichtungs- und Abhängigkeitsgefälle zwischen dem Anschluss suchenden Benjamin und dem Abstand haltenden Brecht. Erstaunlich ist zunächst, dass Brecht erst im August 1941 in Kalifornien von Benjamins Tod gehört hat, und zwar durch Günter Anders, der schon am 18. Oktober 1940 im New Yorker "Aufbau" sein Benjamin-Gedicht veröffentlicht hatte. Mehr noch aber als diese Zeitverschiebung zwischen Ost- und Westküsten-Wahrnehmung von Benjamins Ende frappiert der Duktus der Brecht'schen Verse. In ihnen scheint Brecht kein Kind von Traurigkeit. Zwei dieser Gedichte reihen den toten Freund in eine "Verlustliste" ein, und zumal das so überschriebene bedauert sachlich-schätzend den Beitrag, den zu leisten - und zwar dem Autor Brecht und dem Widerstand gegen das "Dritte Reich" zu leisten - Benjamin sich entzogen habe: "So auch verließ mich der Widersprecher / Vieles wissende, Neues suchende / Walter Benjamin."

Doch das Bedauern begleiten ein herbes Registrieren und sympathetisches Nachzeichnen der physischen Erschöpfung, aus der sich Brecht den Freitod Benjamins zu erklären scheint. "So liegt die Zukunft in Finsternis, und die guten Kräfte/Sind schwach. All das sahst du/Als du den quälbaren Leib zerstörtest." ("Zum Freitod des Flüchtlings W. B."). Nicht zufällig paraphrasiert der Anfang dieser Strophe die dritte Zeile der "Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration", eines Schlüsselgedichts von Brechts Exillyrik, dessen erster kanonischer Deuter Benjamin gewesen ist. Brechts "Laotse"-Legende, ihre Kommentierung durch Benjamin sowie Benjamins Tod und dessen Bedichtung durch Brecht erklären sich gegen- und auseinander. Was dem chinesischen Weisen bei der Flucht vor den Herrschenden seines Landes gegeben war an der Grenze, deren Überschreitung Rettung bedeuten sollte, eine für bessere Zeiten ermutigende Lehre zu hinterlassen, blieb Benjamin versagt. Er überwand erst die französisch-spanische Grenze und dann, als dieser Schritt nicht der rettende zu sein schien, die zum Tod: "Zuletzt an eine unüberschreitbare Grenze getrieben / Hast du, heißt es, eine überschreitbare überschritten." ("Zum Freitod des Flüchtlings W. B.").

Physiognomisch treffend an Brechts Gedichten auf Benjamins Tod ist vor allem dasjenige "An Walter Benjamin, der sich auf der Flucht vor Hitler entleibte": "Ermattungstaktik wars, was Dir behagte / Am Schachtisch sitzend in des Birnbaums Schatten / Der Feind, der dich von deinen Büchern jagte/ Läßt sich durch unsereinen nicht ermatten." Die didaktische Last dieser Merkverse findet sich aufgehoben in den Erfahrungen, die sie transportieren. Brecht gedenkt hier der Schachpartien, die er in den gemeinsamen langen Sommermonaten der Jahre 1934, 1936 und 1938 im dänischen Exil mit Benjamin spielte. Eingeprägt hatte sich ihm davon der nervzehrend langsame Stil des Schachspielers Benjamin. "Das Schachbrett liegt verwaist, alle halben Stunden geht ein Zittern der Erinnerung durch es: da wurde es immer von Ihnen gezogen", schreibt Brecht ihm im Dezember 1936. So sehr sich Brecht in der Schlusszeile seines Gedichts auch mit dem Buchgelehrten identifiziert, ihn und sich zu "unsereinem" zusammenzieht, so deutlich bleibt hier auch, dass er sich das messianische Zeitmaß, die revolutionäre Geduld Benjamins nicht zueigen machen konnte.

Hoffnungswege, Trivialpassagen, Transiträume. Fiktionen von Benjamins letztem Gang

"Nun ist es aber an dem, daß nicht etwa nur das Wissen oder die Weisheit des Menschen, sondern vor allem sein gelebtes Leben (...) tradierbare Form am ersten am Sterbenden annimmt", schrieb Benjamin und erläuterte den Begriff gelebtes Leben mit dem Einschub: "Das ist der Stoff, aus dem die Geschichten werden." Die lapidare Feststellung des Erzähltheoretikers formuliert die implizite Romanpoetik desjenigen epischen Autors, der ihn am stärksten beeindruckt hat, nämlich Kafkas, und bestätigt sich an den Romanen, die von Benjamin handeln. Der Ich-Erzähler von Anna Seghers' "Transit" (1943) erfährt in der Glasveranda des Marseiller Cafés "Rotunde" aus einem Gespräch vom Nachbartisch die Nachricht von einem Tod, der demjenigen Benjamins nachgebildet scheint: "In einem Hotel in Portbou jenseits der spanischen Grenze hatte sich in der Nacht ein Mann erschossen, weil ihn die Behörde am nächsten Tag nach Frankreich zurückschaffen wollten. Die beiden ältlichen Frauen (...) ergänzten wechselweise diesen Bericht mit lebhaft klingenden Stimmen. Der Vorgang war ihnen weit klarer als mir, weit einleuchtender. Was hatte denn dieser Mann für unermeßliche Hoffnungen an sein Reiseziel geknüpft, daß ihm die Rückfahrt unerträglich dünkte? Höllisch, unbewohnbar mußte ihm das Land sein, in dem wir alle noch stecken, in das man ihn zwingen wollte zurückzukehren. Man hört ja wohl von solchen erzählen, die den Tod der Unfreiheit vorzogen. Doch war denn der Mann jetzt frei?" Der emphatischste deutsche Exilroman versammelt in dieser beiläufigen Reflexion drei Schattierungen von Hoffnung: Die des "Transit"-Buchs selbst, das Hoffnung als unablässige, unentwegte vorführt, eine Hoffnung, die auf das zu bestehende Diesseits zurückverweist; die aus der deutschen Exil-Geschichte überkommene alles zur Disposition stellende Hoffnung Heinrich Heines, etwa seines Gedichts "Also fragen wir beständig", die den Tod ebenfalls nicht als ihre Antwort anerkennt; schließlich die ethisch gebietende von Benjamins Kafka-Aufsatz, demzufolge die Hoffnung nur um der Hoffnungslosen willen gegeben ist.

Die Grenz-Topik von Benjamins Flucht nach und Tod in Port Bou, eine Denkfigur, die schon in Brechts Gedichten von 1941 begegnet, grundiert zwei kürzere Prosastudien von Peter Härtling und Ludwig Harig, die beide 1988 geschrieben wurden und beide Benjamins letztem Weg narrativ-essayistisch nachgehen. Dass mit dem zunehmenden Ruhm dieses Autors auch ein umfänglicher Roman über Benjamins Ende unvermeidlich wurde, ist leicht gesagt und kein Ruhmestitel für dieses gefräßigste aller modernen literarischen Genres. Jay Parinis "Benjamin's Crossing" (1997) rückt seinem Gegenstand mit einer Rabiatheit zu Leibe, die nur aufbieten kann, wer sich um die Details, Bedeutungen und Dimensionen von Benjamins Leben und Schreiben wenig schert. Wechselnd berichten ein Erzähler und drei sich erinnernde Zeugen von Benjamins Flucht über die Pyrenäen. Die Abschnitte, in denen Gershom Scholem das Wort haben soll, sowie die Darlegungen des vielerlei zu wissen scheinenden Er-Erzählers verlängern den Rückblick bis in Benjamins Jugend.

Als eine deutsche Übersetzung des Romans angekündigt wurde, bestand der Suhrkamp Verlag darauf, dass der Fiktionscharakter sowohl von Scholems Reminiszenzen wie einiger eingestreuter Briefe von und an Walter Benjamin ausdrücklich markiert werde. Das ist ebenso verständlich wie überflüssig, denn in allem, was der Roman Scholem und Benjamin sagen oder schreiben lässt, bleibt er so unermesslich weit hinter den von ihnen selbst überlieferten Worten zurück, dass nur der ahnungslose Leser die Romanfiguren mit den Personen Scholem und Benjamin verwechseln kann. Parini, der an einem amerikanischen College englische Literatur unterrichtet, lässt seinen Erzähler enthüllen, wie es Benjamin beim Schreiben erging: "Manchmal schien der ontologische Charakter der Sprache selbst das Problem darzustellen; sie war nicht die Realität." Das ist zu lahm gedacht, zu lamentabel ausgedrückt, um den Autor und Sprachtheoretiker Benjamin zu treffen. Wenn Parinis Benjamin, einer der erzählenden Stimmen zufolge, "einen Satz [wie] aus einem drittklassigen Roman aussprechen sollte" und selbst leiden muss "wegen seiner begrenzten Ausdrucksfähigkeit, wegen der Worte, die in einem Sumpf von Klischees versanken", dann ist damit vor allem der zumutungsreiche Grund dieser Fiktion benannt.

Leider fügt der Roman zur unterreflektierten Sprache ein ebenso stereotypes Setting. Es ist das des weltfernen Intellektuellen, der vor den Grundtatsachen des Lebens versagt. Hannah Arendts hellsichtige, sympathetische Charakteristik Benjamins als eines Mannes, der nicht konform gehen konnte, immer "bucklig" blieb, kein Talent zum Opportunisten hatte, verzerrt der Romancier zum Klischee des tolpatschigen Gelehrten, der auf Fußnoten durch die Welt stolpert. Bevor sich bei Parini als eine der robusten Mächte, mit denen dieser Büchermensch nicht umzugehen weiß, der europäische Faschismus der Jahre 1939/40 geltend macht, versagt sein Benjamin als verschüchtertes Subjekt einer Serie von so genannten Liebeszenen, deren muffige Drastik sich vom Durchschnitt marktgängiger Romane nicht unterscheidet. Wenn dieser Benjamin ehrlich Bilanz zieht, muss er sich jedes Talent zum Erfolg absprechen. Er (oder sein Parinischer Erzähler) macht sich die abschätzigen Urteile seiner Roman-Mitwelt zueigen und konstatiert: "In seiner (...) Lyrik war Benjamin nicht (...) über Nachklänge Goethes, Heines und Georges hinausgekommen. (...) Seine Berner Dissertation über die Kunstkritik in der deutschen Romantik war verdientermaßen unveröffentlicht. Seine Habilitationsschrift über die Ursprünge des deutschen Trauerspiels im Barockzeitalter war eindeutig Pfusch. (...) Selbst sein Meisterwerk über die Pariser Passagen war ihm wie ein Haufen loser Spielkarten aus den Händen gefallen. (...) auch dieses Werk bestand nur aus Fragmenten."

Schwer, auf so knappem Raum so viel Unwissen und Unverstand in Sachen Benjamin anzuhäufen. Heine war dem Lyriker Benjamin kein Vorbild, die Dissertation - nicht über die Kunstkritik, sondern über den "Begriff der Kunstkritik" - ist sehr wohl als Buch erschienen, die Habilitation - nicht über die Ursprünge, sondern über den "Ursprung des deutschen Trauerspiels" - ist ihrem Autor selbst im Moment größter Enttäuschung nicht als Pfusch erschienen, das "Passagen-Werk" ist der Logik seiner Anlage folgend vollendet-unvollendbar, und Benjamins einerseits frühromantischer, andererseits avantgardistischer Fragmentbegriff bewahrte ihn wie jeden genaueren Leser seiner Schriften vor dem Tadel, sein Werk bestehe nur aus Fragmenten. Zurecht hat daher die Kritik zu Parinis Roman nüchtern festgestellt, er verbanne Benjamin in den Orkus des Kitsches, suche alles, was von Benjamin überliefert ist, abzuflachen und sei literarisch fadenscheinig.

Eine für Benjamin charakteristische Signatur hat diese Schmonzette immerhin getroffen: die des Labyrinths. Immer wieder ruft der Roman sie beim Namen. Damit wird eine Grundfigur von Benjamins Leben, Denken und Schreiben berührt, angedeutet der autobiografische, autoreflexive Sinn des Benjamin'schen Satzes: "Das Labyrinth ist die Heimat des Zögernden." Doch obwohl Parini seine Verweise aufs Labyrinthische bei Benjamin bis zu einer Anspielung auf Borges auflädt, bleiben sie kaum mehr als vage Anspielungen. Seinem Titel zum Trotz ist "Benjamin's Crossing" weit davon entfernt, diskursiv, makro- oder mikrostrukturell ein labyrinthischer Roman zu sein.

"Ein Roman, der Benjamin auch als intellektuelle Figur erzählerisch ein wenig mehr respektieren würde, als es der vorliegende tut, hätte sich allerdings auch an der Sprachexistenz des Denkers messen lassen müssen." Uwe Pralles lapidarer Satz bezeichnet den fundamentalen Mangel nicht nur von Parinis Buch. Denn einen Roman, der sich an der Sprachexistenz des Denkers Benjamins messen ließe, gibt es bis heute nicht. Und ein Drama? Wie die lyrischen Epitaphe für Benjamin, wie Seghers' "Transit" (um von Parini zu schweigen) bedenkt auch Christoph Heins "Passage" (1987) den letzten Lebensabschnitt Walter Benjamins. Als Kammerspiel verpflichtet sich dieses Stück auf eine stationäre Dramaturgie. Tatsächlich verfolgt es seine Figuren nicht auf dem Fluchtweg nach Port Bou, sondern präsentiert sie im Hinterzimmer eines "Cafés in einem französischen Dorf an der Grenze zu Spanien". Hier entfaltet Hein tableauartig Typen und Fraktionen der Exilanten auf der Flucht vor der deutschen Besatzungsmacht.

Einer von ihnen ist Dr. Hugo Frankfurther, eine Benjamin nachgebildete Figur. Dass er nicht kurzweg Benjamin sein soll, verdankt sich der parabolischen Anlage von Heins Stück und verleiht dem Drama Ernsthaftigkeit und Dignität. Ausweislich seines Namens scheint dieser Hugo Frankfurther um ein Haar der Frankfurter Schule zugeordnet, ausweislich seines brotlosen Berufes als Sinologe dem Benjamin'schen Sinn für transrationale, dem bürgerlichen Alltagsverstand seiner europäischen Zeitgenossen fremde Bild-Schrift-Verschränkungen. Vor allem aber ist dieser Sinologe eine Neben- und Gegengestalt zu dem chinesischen Weisen, auf den sich der exilierte Brecht gern berief. In Brecht'schem Ton konstatiert Frankfurther über sich und seine Exilgefährten: "Kaum geduldet, sieht man lieber unsere Absätze als unsere Gesichter." Und anspielend auf den doppelten Grenzbegriff von Brechts Gedicht auf Benjamins Freitod preist Heins Sinologe den Nutzen chinesischer Merksätze: "Diese weisen Sprüche können über manche Grenze hinweghelfen." Hinzu kommt Heins Kenntnis um Benjamins Pariser Hauptwerk. Passage ist bei ihm Titelanspielung (Passagen-Werk), Thema (Flucht) und Tat (Suizid).

Denn als zwei Herren, die vorgeblich für das deutsche Rote Kreuz, offensichtlich jedoch für's Hakenkreuz arbeiten, im bislang abgeschotteten Hinterzimmer des Cafés die Ausweise kontrollieren, vergiftet sich Frankfurther. So endet eine Flucht, auf die sich der Stubengelehrte nie hatte begeben wollen: "Ich hatte eher an ein stilles Bibliothekszimmer gedacht in irgendeiner kleinen Universitätsstadt." Der Fluchthelferin, die ihn über die Pyrenäen geleiten will, hatte er weniger sich selbst als seine Hauptschrift anvertraut: "Das Manuskript muß gerettet werden. Es ist wichtiger als ich." Es sei "das Ergebnis seines ganzen Lebens", scheint daher wertvoller als dieses Leben, und spreche "über chinesische Philosophie und Sprache".

Inhalt und Verbleib der Schrift, die Walter Benjamin auf der Flucht nach Port Bou in einer sorgsam gehüteten Tasche mitführte, nach seinem Freitod aber verlorengegangen und nie wieder aufgetaucht ist, stellen seit 25 Jahren die stärkste, aber auch prekärste Einladung dar, die Lücken der dokumentarischen Überlieferung wie des Benjamin'schen Lebenswerks durch Spekulationen zu füllen. Spekulationen, in denen journalistisch-zeithistorische Recherche und Kombination, akademische Argumentation, publizistische Kolportage und literarische Fiktion zusammentreten. Auch das in Arbeit befindliche Drama von Carl Djerassi kreist, wie sein Arbeitstitel "Benjamin's Bag" ankündigt, um dieses Rätsel.

Lyrische Chiffren. Benjamins Wendungen im Gedicht

Kaum weniger gewiss als der Verbleib seiner nach Port Bou mitgenommenen Aktentasche scheint der Gewinn der Literarisierungen von Benjamins Leben. Wie sehr Benjamins Denken in Sprachen und dinglich-medialen Physiognomien mit dem Geist des handelsüblichen Romans unvereinbar ist, hatte Günther Anders sieben Wochen nach dem Tod von Port Bou als Benjamins Nicht-Eignung zum Romancier gefasst: "Was ihm fehlt, ist diejenige Dosis von Dummheit und Unlogik, die ein Romancier besitzt, um fähig zu sein, sie seinen Figuren in den Mund zu legen und diese lebendig sprechen zu lassen." Eben so blind-lebendig und sprachlos plaudernd wie die Benjamin-Figur der hier genannten Romane.

Suchende Blicke werden sich von da her der Lyrik zuwenden, die sich anders als die pragmatisch-biografischen Fiktionen eignen könnte, die Stärke und Dimension Benjamin'scher Konzepte, Figuren und Wendungen (Wendungsweisen) poetisch-poetologisch aufzunehmen. Solche Gedichte repräsentierten die Gegenrichtung in einem osmotischen Prozess, den Benjamin selbst durch seine Entfesselung der theoriebildenden Potenzen in literarischen Texten in Gang gebracht hatte. In einem Gedicht zu Benjamins 29. Geburtstag hat Gershom Scholem, dessen Tagebuch aus dieser Zeit weniger von einer Freundschaft denn von Liebe zu Benjamin zeugt, das Benjamin'sche Grundthema des Angelus Novus in einer Weise angeschlagen, die im Adressaten des "Grußes vom Angelus" nachhallen sollte. Zwar geht der Duktus dieser Verse aus dem Jahr 1921 kaum hinaus über das Muster vorgängiger lyrischer Stimmen, etwa der Else Lasker-Schülers ("In meinem Herzen steht die Stadt / In die mich Gott geschickt / Der Engel der dies Siegel hat / Wird nicht von ihr berückt"). Doch ist der Wunsch, den Scholem dem Engel in den Mund legt: "Mein Flügel ist zum Schwung bereit / Ich kehrte gern zurück" die Hohlform desjenigen, welchen, fast zwei Jahrzehnte später, die Thesen "Über den Begriff der Geschichte" dem Engel der Geschichte zuschreiben: "Er möchte gern verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht schließen kann."

Verglichen mit diesem intensiven Bezug hatten die nicht wenigen Gedichte, die seit 1946 die Figur dieses Engels zitierten, um Validität und Stand von Benjamins geschichtsphilosophischem Imperativ zu befragen, mehr den Charakter eines Abgesangs. Nur Erich Arendt vermochte es, sie in die Chiffrensprache seines lyrischen Werks hereinzuholen. Und am nachdrücklichsten hat sie Heiner Müller als physiognomische Aufgabe an seine Mitwelt von 1991 weitergegeben. Sein Gedicht "Glückloser Engel 2" kann zugleich als die wohl markanteste literarische Umschreibung von Benjamins Weg nach Port Bou gelten. Es sagt nicht: Denn er war unser, sondern fragt: Wo ist er (Benjamin, der Engel) jetzt zu erkennen? "Zwischen Stadt und Stadt / nach der Mauer der Abgrund / Wind an den Schultern Die fremde / Hand am einsamen Fleisch / Der Engel ich höre ihn noch / aber er hat kein Gesicht mehr als / Deines das ich nicht kenne."

Allerdings scheinen auch diese Verse exoterisch im Kontrast mit den mindestens sechs Gedichten, in denen Paul Celan im Juli 1968 Formulierungen Benjamins mehr ausstellte und weiterwirken ließ als übernahm. Eines davon: Port Bou - deutsch? scheint nach Benjamins Stellung zum esoterisch-autoritären Geist des George-Kreises und dessen (Teil-)Affinität zum Deutsch-Nationalen zu fragen. Allemal Celans Verse gehen auch dort, wo sie Benjamin'sche Begriffe zitieren, auf einen "bitteren Wortkern" (Peter Szondi) zurück. Dieser Wortkern ist sowohl Kondensat und Konzentrat lebens-geschichtlicher Erfahrung wie Resultat eines wortalchemistisch-philosophischen Reduktionsprozesses. Eine eher entlegene Definition des für den Benjamin der 1930er Jahre bekanntlich zentralen Terminus der Aura - "Die Dinge aus Glas haben keine 'Aura'", schreibt Benjamin, indem das plüschige Gehäuse des bürgerlichen Heims im 19. Jahrhundert mit den utopischen Architekturentwürfen Scheerbarts und Le Corbusiers kontrastiert - findet sich nirgends so glasklar, glashart transkribiert wie in Celans Gedicht "MITERHOBEN": "MITERHOBEN / von den Geräuschen, / forderst du - Glas / feindet an, was immer / undurchdringlicher dein ist -, / forderst du alles / in seine Aura, // das Quentchen Mut / bittert sich ein, / wachsam: / ich weiß, daß du weißt." Celan restituiert diesen Aura-Begriff in seiner ganzen Komplexität, Spannung und Ambiguität, befragt ihn nach der Festigkeit seines inneren Widerspruchs. Das Glas, das Benjamin zufolge alle spurenhaften Einwohnungen ins Wohninterieur wie allen privativen Besitzanspruch auf die Dinge abweisen soll, fordert zugleich den Besitz des Anderen in seine Aura, die hier ihrerseits als Gehäuse wiederersteht. Die Schlusszeile bringt sie auf eine Formel, die die Benjamin'sche Definitionen der Aura (Ferne in der Nähe, fernes Zurückschauen des nah Angeschauten) präzise - poetisch - übersetzt: "ich weiß, daß du weißt": Dialektik im Stillstand des gegenseitigen gleich-gegenwärtigen Wissens, Reziprozität.

Paradigma protoliterarisch. Lisa Fittkos Bericht als Quelle und Muster

Mit und trotz Brecht, Arendt, Müller, Hein und Paul Celan - die Befunde sind ernüchternd. Der Schwund eines emphatischen Zutrauens in die rettende Kraft richtiggestellten Schriftstellertums (Sprache, Literatur und deren Deutung) und zum Eigenrecht ihrer emanzipatorischen Potentiale gekommener Kunst (Bild/Schrift, Medien) ist für die Feststellung, dass Benjamins Werk keine Schule gemacht und keine Schicht literarischer Fortschreibung gefunden hat, Erklärungs- und eine Deutungsmoment zugleich. Dieses Resultat ließe sich zeitgeschichtlich so verstehen, dass die vom "Dritten Reich" begangene Zerstörung der jüdisch-deutschen intellektuellen Interferenzen, die das erste Jahrhundertdrittel aufgewiesen hatte, nach 1940 nicht mehr zurückzunehmen war. Die Insistenz, mit der fast alle literarischen Adressierungen Benjamins auf dessen Tod in Port Bou zentriert sind, liest sich von daher auch als Nachzeichnung dieser Zeitgrenze.

Was von der jüdisch-deutschen Intellektualität nach der Shoah blieb, wurde historische Rekapitulation und essayistische Gegenwartsdiagnostik. Es kommunizierte mit keinem zeitgenössischen literarischen Schreiben in der Art, wie Benjamins Denken mit dem Schreiben Kafkas kommuniziert hatte. Die - neben der erotischen und der mortalen - dritte Dimension der Benjamin'schen Auffassung vom Erzählen, eine Auffassung, die der Narration eine heilende Wirkung zumisst, fand weder Autoren noch Leser, die disponiert gewesen wären, sich auf sie hin zu orientieren. Als 1950 die "Berliner Kindheit um Neunzehnhundert" erschien, das wichtigste Ergebnis von Benjamins Programm einer Narrativierung seiner autobiografischen Reflexionen, und, wie Peter Szondi schrieb, eine "der schönsten Prosadichtungen unserer Zeit", blieb sie literarisch merkwürdig folgenlos. Anerkannt ist sie heute als genau-variante Transformation der Proust'schen "Recherche".

Dieser Bezug könnte auf das zurückverweisen, was Lukács die Unterwanderung des Romans durch das Autobiografische genannt hat. Er lässt sich auch in die heutige medial-literarisch Situation hineintragen. Und hier mit der Frage verbinden, wie viel von den derzeitigen Wirkungen von Literatur nach dem Ende der Buchkultur auf immersive Effekte der Ankoppelung, Belehnung, Anschneidung, Instigation lebensweltlicher Bewusstseinsmomente, Kenntnisse und Erfahrungen zurückzuführen ist. K. Ludwig Pfeiffer hat diesem Potential, das etwa im Kriminalroman dadurch abgerufen wird, dass der Autor Wirklichkeit in seinen Text "hineinfächelt", den Namen des Protoliterarischen gegeben und ihm eine ansehnliche Vergangenheit wie Zukunft zugeschrieben. Sein Ansatz erlaubt es, das Zentrum der vielen lyrischen, epischen und dramatischen Befassungen mit Benjamins Ende im Bereich der Biografik zu suchen.

Die literarischen Spekulationen über Benjamins Tod waren Versuche der Antwort auf die Frage nach Benjamins Suizid (seinen Umständen, Motiven, seiner Logik, seinem Sinn) und Phantasien über den Inhalt jener Aktentasche, an der Benjamin mehr als an seinem Leben gelegen schien, als er sie auf den Weg nach Port Bou mitnahm. In den Papieren, die sie enthalten haben muss, vermuteten fast alle so etwas wie die testamentarische Essenz, das letzte autoritative, durch Exil und Tod autorisierte Wort von Benjamins Leben und Werk. Die Verflechtung der Verwirrung und Trauer, die über den Verlust von Benjamins Leben herrscht, mit der Verwirrung und Vermissung, die in der Rede über den Verlust des Manuskripts in der Tasche dominieren, verlieh diesen Fiktionen eine doppelte Dringlichkeit. Eingeführt hat diese Verflechtung allerdings keiner der hier genannten Schriftsteller, sondern eine Autobiografin, Lisa Fittko, die zum Schreiben ihrer Erinnerung erst gedrängt werden musste: "'Der alte Benjamin'".

Gershom Scholems einleitende Worte zur Erstveröffentlichung dieses Textes hatten den Charakter einer Nachfolgestiftung. Aus skeptischen Anfangsgründen arbeiten sie sich heraus zu einer förmlichen Anerkennung des hohen Zeugniswerts, mit dem Fittkos Bericht den in Scholems Benjamin-Biografie mitgeteilten Brief Henny Gurlands entscheidend ergänzte, ja überholte. Die Einleitung endet mit der Wendung: "Aber dieser Bericht darf für sich selbst sprechen." Was er tat, tut. So eindrücklich wiederholt er, sprachlich, den ersten Gang der Fluchthelferin Fittko auf dem Schmugglerpfad über die Pyrenäen, konfiguriert er um Benjamin dessen Fluchtgefährten, charakterisiert er den alten (den Daten nach gerade 48jährigen) Mann, seine bedrohliche physische Beanspruchung auf dem Weg, seine hervorstechende Sorge um das Skript in seiner Tasche und rekapituliert schließlich den Handlungsdruck und auch die Verlegenheit, die der Tote und seine Hinterlassenschaft auslösten, dass sich kein Leser, der um Benjamin weiß, dem dringlichen und ohnmächtigen Zug dieses Berichtes entziehen kann.

Tatsächlich ist er der wirkungsreichste mit Walter Benjamin befasste Text der letzten 25 Jahre. Härtlings und Harigs Nacherzählungen von Benjamins Weg nach Port Bou nehmen ihre Quelle als Figur in sich auf. Parinis Roman, der gegen die bekannten autobiografischen und literarischen Texte (Döblins, Seghers', Werfels, E. J. Aufrichts) über die Flucht der Exilierten in und aus Frankreich so entsetzlich abfällt, gewinnt einiges Leserinteresse dadurch zurück, dass er über mehrere Kapitel Lisa Fittko das Wort erteilt und sich sprachlich wie atmosphärisch eng an ihren Bericht anzulehnen strebt. Volker Brauns poetisch-prosaischer Text "Benjamin in den Pyrenäen" (1988), der diese rein-epischen Versuche sprachlich überragt, teilt mit ihnen diesen Grundtext, den auch er zitiert. Im "Passage"-Drama tritt eine nachnamenlose Lisa auf, und gemäß Heins Programm, ein ganzes Spektrum von Haltungen im Exil vorzuführen, bedient es sich weiterer Episoden aus Fittkos Erinnerungen nicht nur an Benjamins Flucht. Wenig später hat der Dramatiker seine Wendezeit-Parabel "Kein Seeweg nach Indien" (1990) Lisa Fittko gewidmet.

Auch der Benjamin, den Anne Webers Prosatext "Besuch bei Zerberus" (2004) imaginiert, hat Züge des alten Mannes aus Fittkos Bericht. Mit ihm trifft sich der reflexiv-narrative Parcours dieser Erzählerin im Ziel, in Port Bou, wo sie nicht nur an Benjamins Tod denkt, sondern auch an ihren sterbenden Vater, nicht nur Fittkos Wegbeschreibung nachvollzieht, sondern vor allem auch die Topoi eines drohenden Benjamin-Kults antrifft. Ihre Reise führt die Erzählerin "fast bis an Walter Benjamins Grab", aber sie verfehlt es schon deshalb, weil es unauffindbar ist oder seit 1994 sein Substitut in Dani Karavans Kenotaph hat. Hier stößt sie auf touristische Benjamin-Adepten, die es abklappern und "nach getaner Intellektuellenpflicht ein spanisches Bier trinken". Für sie ist Benjamin der Übervater, vor dessen Denkmal sie ihr Vaterverhältnis reflektiert. Die Ich-Erzählerin der 1964 geborenen Autorin erfuhr ihren Vater als legitimes Mitglied der "Benjamin-Familie". Einer Familie, die sowohl intellektuelle Überlegenheit wie großbürgerliche Kühle kennzeichneten, und in die die Tochter aus bald geschiedener Ehe, dem Makel ihres mütterlichen Erbes zum Trotz, aufgenommen zu werden strebte: Ein förmliches familien-rechtliches Verfahren, das in kafkaesker Unentschiedenheit verharrt und von der Unhintergehbarkeit Bourdieu'scher feiner Unterschiede bestimmt scheint. Das Egozentrisch-Versponnene, Privatistisch-Preziöse der eher arabeskenhaften Sprachbewegungen in diesem Buch mag Echo wie Erwiderung auf die isolierende Halb-Distanz sein, in der dieser Vater die nicht richtig dazugehören sollende Tochter zappeln ließ. Bezeichnet ist damit eine Benjamin-Rezeption zweiter (generationeller) Stufe. Benjamin ist nicht länger der zu rehabilitierende Ausgeschlossene, sondern Portalfigur, ja Torwächter einer etablierten esoterischen Elite, die sich nun ihrerseits gegen Eindringlinge abschottet.

Die Zahl und Stärke der Echos, die Fittkos Geschichte - zuletzt sogar in einem Kriminalroman, François Darnaudets "Le dernier Talgo à Port Bou" (Perpignan 2005) - gefunden hat, ist singulär, und gerade dieses Einmalige scheint musterhaft. Der vermutlich interessanteste Beitrag zur seitherigen Benjamin-Biografik ist das Werk des katalanischen Lyrikers Vicente Valero, der in einer journalistisch-historischen Recherche die kulturgeschichtlichen, politischen und literarischen Kontexte von Benjamins beiden Aufenthalten auf Ibiza 1932 und 1933 erhellt hat. Es zeigt einen Theoretiker, der aus Armut vor Suizidgedanken und schließlich vor den Nazis auf die Balearische Insel flieht, hier für sich das autobiografische Erzählen neu entdeckt, ständig nach Orten, Landschaften, Räumen des Rückzugs von deutschen Bedrohungen und schriftstellerischen Krisen sucht und sich ebenso unentwegt mit anderen Intellektuellen, Künstlern, wirklichen und vermeintlichen Lebens- und Exilgefährten, vor allem deutschen und darunter wiederum einigen maskierten Nazis, anfreundet, verstrickt und zerstreitet. Wer gegen biografistische Kurzschlüsse gefeit ist, wird in diesem Buch wichtige Momente zum Verständnis von Benjamins "Ibizenkischer Folge", aber auch von der "Berliner Kindheit", "Agesilaus Santander", "Über das mimetische Vermögen" und "Erfahrung und Armut" finden.

Benjamin unter den Schriftstellern

Singulär war Benjamin allerdings selbst als Schriftsteller. Daher wird man ihm allenfalls bei wachsender Entfernung literarische Nachfolger an die Seite stellen können. Die Autoren, die ihn am direktesten als lebensechten Charakter in ihre Fiktionen hineinzuzerren suchten, scheiterten. Besser nehmen sich diejenigen aus, die beanspruchen können, mit den von Benjamin selbst konstruierten literarhistorischen und literartypologischen Linien in Verbindung zu stehen. So lässt sich die Benjamin'sche Filiation von Klopstock über Hölderlin zu George (wenn auch nicht ohne Mühe) auf Celan hin fluchten, so kehrt ein Teil auch von Benjamins Brecht im dramatischen Werk Heiner Müllers wieder. In der Nachkriegszeit nach einem Erzähler zu suchen, der Kafka in Benjamin'scher Perspektive hätte fortschreiben oder ihm auch nur entsprechen zu können, hieße natürlich, beide, Benjamin und Kafka, sowohl zu verkennen wie zu missachten. Immerhin lassen sich Peter Bichsels "Kindergeschichte" (1974) in eine Beziehung zu den Hebel'schen Kalendergeschichten stellen, die auch den Benjamin'schen Kafka berührte.

Dennoch erreicht kein Autor den praktischen, schreibenden Sprachtheoretiker Benjamin: die kognitiven Evokationsweite seiner Vorstellungen, die Prägnanz und Plastizität seiner Wendungen, das Gnomisch-Zitierfähige seiner Sätze, die heuristische Kraft seiner finiten Verben, die osmotische Intensität seiner Verwendung und Redefinition von Komposita (Kunstkritik, Trauerspiel, Passagenwerk), die Charakteristik seines physiognomischen Blicks, die Suggestivität seiner (memorativen wie mahnenden) Erinnerungen. Wenn es in der deutschen Literatur nach 1945 ein Werk gibt, das Benjaminisch genannt werden dürfte, dann allenfalls dasjenige Ilse Aichingers. Die besten Miniaturen ihrer autobiografischen "Unglaubwürdigen Reisen" - auch wenn sie spezifisch Erinnerungen aus dem 9. Lebensjahrzehnt sind - halten einem Vergleich mit der "Berliner Kindheit" stand. Diejenigen von "Film und Verhängnis" holen die Haltungen, Erfahrungen und Gewohnheiten der Kinobesucherin in einen Kontext, der sich mit Benjamin als Wechselprägung von medialer Wahrnehmungsbildung und historischer (lebensgeschichtlicher) Erfahrung beschreiben lässt. Abseits und über aller Kafka-Epigonalität der Nachkriegszeit bewegt sich schließlich Aichingers einziger Roman, die poetische Parabel vom Ende einer illusionären Korrelation jüdischer Kindheit und feindseliger deutschsprachiger Mitwelt. Am Titel des Buches hätte Benjamin, vielleicht, etwas gefunden: "Die größere Hoffnung".

Anmerkung der Redaktion: Justus Fetscher ist Mitarbeiter am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung. Eine Kurzfassung dieses Textes ist soeben erschienen in "Trajekte" Nr. 13 (2006).

Literatur:

Ilse Aichinger: Die größere Hoffnung. Roman. Bermann-Fischer, Amsterdam 1948.

Ilse Aichinger: Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. S. Fischer, Frankfurt a.M. 2001. (vgl. auch die Rezension "Das dunkle Herz der Welt" von Ingeborg Gleichauf in literaturkritik.de 10/2001 )

Ilse Aichinger: Unglaubwürdige Reisen. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2005. (vgl. auch die Rezension "Reisen am Kaffeehaustisch" von Carola Ebeling in literaturkritik.de 02/2006)

Hannah Arendt: Benjamin, Brecht. Zwei Essays. Piper, München u. Zürich, 2. Auflage 1986 (Serie Piper, 12).

Jean Bollack: "Celan liest Benjamin (1968)", in: Marbacher Arbeitskreis für Geschichte der Germanistik. Mitteilungen, Jg. 1998, H. 13/14, 15. April 1998, S. 1-11.

Momme Brodersen: Walter Benjamin. Leben - Werk - Wirkung. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2005.

Paul Celan, Peter Szondi: Briefwechsel. Mit Briefen von Gisèle Celan-Lestrange an Peter Szondi und Auszügen aus dem Briefwechsel zwischen Peter Szondi und Jean und Mayotte Bollack. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2005.

Lisa Fittko: Mein Weg über die Pyrenäen. Erinnerungen 1940/41. Carl Hanser, München u. Wien 1985.

Glückloser Engel. Dichtungen zu Walter Benjamin, hg. v. Erdmut Wizisla u. Michael Opitz. Insel, Frankfurt a.M. u. Leipzig 1992 (Insel-Bücherei, 1121).

Christoph Hein: "Passage. Ein Kammerspiel in drei Akten", in: Die Übergangsgesellschaft. Stücke der achtziger Jahre aus der DDR, hg. v. Peter Reichel. Reclam, Leipzig 1989 (Universal-Bibliothek, 1301), S. 92-149.

Erich Kästner: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten (1931). Ullstein, Berlin 1956 (Ullstein-Bücher, 102).

Thomas Küpper/Timo Skrandies: "Benjamin als Figur des kulturellen Gedächtnisses. Kunst und Literatur, Ausstellungen", in: Benjamin-Handbuch, hg. v. Burkhardt Lindner. Metzler, Stuttgart u. Weimar 2006.

Lebendige Tradition und antizipierte Moderne. Über Johann Peter Hebel, hg. v. Richard Faber. Königshausen & Neumann, Würzburg 2004.

Jay Parini: Benjamin's Crossing. A Novel. Henry Holt and Company, New York 1997. Deutsch u. d. T.: Dunkle Passagen. Ein Walter-Benjamin-Roman, übers. v. Gerhard Beckmann. Albrecht Knaus, München 2000.

K. Ludwig Pfeiffer: The Protoliterary. Steps toward an Anthropology of Culture. Stanford University Press, Stanford, California 2002.

Uwe Pralle: "Walter Benjamin fummelt. Jay Parinis biographischer Roman 'Dunkle Passagen'", in: NZZ, Nr. 192, 19. 8. 2000, S. 88.

Detlev Schöttker: "Emil und die Melancholiker. Eine Detektivgeschichte: Walter Benjamin, Erich Kästner und eine unbekannte Tagebuch-Notiz aus dem Jahr 1941", in: FAZ, Nr. 41, 18. 2. 1999, S. 48.

Detlev Schöttker: Konstruktiver Fragmentarismus. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1999. (vgl. auch literaturkritik.de 12/2000)

Gershom Scholem: Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft [1975]. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 4. Auflage 1997 (Bibliothek Suhrkamp, 467).

Anna Seghers: Transit. Roman. Philipp Reclam jun., Leipzig 1980 (Reclams Universal-Bibliothek, 198).

Vicente Valero: Experiencia y probreza. Walter Benjamin en Ibiza, 1932-1933. Barcelona: Ediciones Península, 2001. Französisch u. d. T.: Expérience et pauvreté. Walter Benjamin à Ibiza (1932-1933). Traduit de l'espagnol par Juan Vila. La Rouergue/Chambon, Rodez 2003.

Anne Weber: Besuch bei Zerberus. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2004. (vgl. auch die Rezension "Walter Benjamin meets pyrenäischen Höllenhund" von Patricia Nickel in literaturkritik.de 10/2004)

Erdmut Wizisla: Benjamin und Brecht. Die Geschichte einer Freundschaft. Mit einer Chronik und den Gesprächsprotokollen des Zeitschriftenprojekts "Krise und Kritik". Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2004. (vgl. auch die Rezensionen "Der Dichter und der Kritiker" von H.-Georg Lützenkirchen in literaturkritik.de 07/2005 sowie "Einschneidende Begegnung" von Ernst Müller in literaturkritik.de 09/2006)

Ines Zekert: Poetologie und Prophetie. Christoph Heins Prosa und Dramatik im Kontext seiner Walter-Benjamin-Rezeption. Peter Lang, Frankfurt a.M. usw. 1993.