Das seltsame Geheimnis des Thomas Penman

Bruce Robinson erzählt eine hinreissende Pubertätsgeschichte

Von Manu SlutzkyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manu Slutzky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Familie Furseman/Penman lebt Ende der 50-er Jahre in einem alten, baufälligen und verdreckten Haus in Nord-Kent im Großraum London. Wenige Komponenten bestimmen die Stimmung im Haus: "Krebs, Ekel, Pubertät, Scheidung, Hundescheisse, Hundefraß und Tod."

Es ist ein Ort voller Aggressivität: Robs und Mabs, die Eltern, werden sich wohl scheiden lassen. Mabs hat einen Privatdetektiv beauftragt, um den Seitensprüngen von Robs auf die Schliche zu kommen. Auch die Ehe der Großeltern ist nie recht glücklich gewesen. Großvater Walter liegt mit Magenkrebs im Sterben, gepflegt von seiner Frau Ethel und der unerträglichen Mrs. Hardcastle. Thomas, der Held der Geschichte, steckt mitten in der Pubertät; seine Schwester Bel, gerade volljährig, sehnt sich danach, das stinkende, verkommene Elternhaus verlassen zu können. Zum Haushalt gehören noch drei Köter, Max und die beiden Jack Russells, von denen einer den grauen Star hat.

Es stinkt bis unters Dach nach Fleisch und Kot. Von den Jack Russells ist bekannt, dass sie täglich bis zu einem Drittel ihres Körpergewichtes absetzen können. Seit Weihnachten 1958 tun sie es im ganzen Haus. Doch erst abends, wenn auch Vater Rob die Bescherung gesehen hat, werden die Haufen mit der Schaufel entfernt.

Der Engländer Bruce Robinson, geboren 1946, hat eine blühende Fantasie. Cineasten ist er als Drehbuchautor von "Killing Fields" ein Begriff. "Die merkwürdigen Erinnerungen des Thomas Penman" sind sein erster Roman. Er folgt weitgehend der Perspektive des 13-jährigen Thomas, der in seiner Familie ziemlich isoliert ist. Allerlei Geheimnisse werden vor ihm verborgen, und auch der Leser ist ihm niemals im Wissen voraus. Tom hat ein Geheimnis zu erkunden - und der Leser mit ihm.

Der einzige, der Tom an seinem Leben teilhaben lässt, ist Walter, Toms Großvater. Die beiden verbindet eine innige Beziehung. Der Großvater ist der einzige, der sich immer um das schwierige Kind gekümmert hat. Er hat ihm von seinen Erinnerungen erzählt, und er hat im Leben Schreckliches erlebt: Als Morsefunker im Ersten Weltkrieg riss ihm vor der belgischen Front eine Schrapnell die Schädeldecke weg, ein anderer Splitter derselben Granate schlug ihm in den Bauch. Er überlebte dank der "Zauberfliegen" und der deutschen Ärzte, die sich zu einem Experiment entschlossen. Die Zauberfliegen hatten ihre Eier in ihm abgelegt, aus denen Maden geschlüpft waren, die seinen Wundfraß fraßen, während er sie verdaute. In diesem Kreislauf aus Aberwitz und Ekel überlebte er 17 Tage, bevor die Deutschen ihn fanden und ihm das Hirn wieder in den Schädel stopften.

Bruce Robinson ist ein lebenskluger Autor. In Flandern lässt er den Großvater nicht nur die Grauen des Krieges, sondern auch die Wonnen der Liebe erleben. Die dramaturgisch schroff aneinander geschnittenen Gegensätze werden Walters weiteres Leben bestimmen. Das Madentreiben vor der belgischen Front und das Glück eines Augenblicks hinter den Kampflinien werden ihn noch im Sterben beschäftigen. Robinson schildert den Großvater als Sonderling, der nach dem Krieg Freimaurer wird, sich mit der dubiosen Wahrsagerin Orlanda anfreundet und zu einem Erotomanen entwickelt. Wir erfahren das alles, so scheint es, aus der Perspektive des Enkels. Thomas hat ein großes Gefühl für Walter, er ist ihm zeitweise so nahe, dass er seine Erzählungen als die eigenen durchlebt: "Das Gift der Pubertät floss in seinen Adern", heisst es einmal, "wie in den Adern seines Großvaters das Gift der Krankheit floss." Vom Großvater hat er das Morsen gelernt, durch einen "Tishman", einen Morseapparat, ist er mit Walter verbunden, und als der alte Mann schon nicht mehr sprechen kann, schickt er seinem Enkel noch eine Botschaft - vom Autor anrührend inszeniert.

Wir Leser dürfen Werner Schmitz für seine Übersetzung dankbar sein, die die Weite und Farbigkeit des sozialen Panoramas optimal wiedergibt, die Komik, die satirische Überzeichnung, den Bildwitz, aber auch die Sentimentalität, die Trauer, die Verlustgefühle, die hier geweckt werden. Charles Dickens ist Thomas Penmans Lieblingsschriftsteller - vielleicht auch der von Bruce Robinson. Robinson ist jedenfalls, wie Dickens, ein Kindheitserinnerer, der düstere Drastik und melodramatische Milieuschilderungen mit schelmischer Spleenigkeit zu erzählen weiss. Eine Pubertätsgeschichte, hinreissend leicht erzählt, für jung und alt.

Titelbild

Bruce Robinson: Die merkwürdigen Erinnerungen des Thomas Penman. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz.
Goldmann Verlag, München 2000.
348 Seiten, 20,40 EUR.
ISBN-10: 3442307929

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