Schiller vs. Holocaust?

Mit Schillers Schreibtisch durch die Zeit

Von Tobias TemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Temming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was hat Friedrich Schiller mit dem Holocaust gemeinsam? Nein, dass ist nicht der Anfang eines schlechten Witzes, sondern genau darum geht es dem Autor und Germanisten, Dieter Kühn in seinem jüngsten Buch "Schillers Schreibtisch in Buchenwald". Nach "Goethe zieht in den Krieg", verwerkelt Kühn nun auch die Biografie des zweiten, großen deutschen Denker- und Dichterfürsten. Die thematische Verbindung zwischen Held und Hölle herzustellen, ist jedoch nicht ganz so einfach. Umso mehr bemüht sich Kühn um mögliche Brückenschläge zwischen den Welten "Schiller" und "Faschismus". Im unmittelbaren Fokus des Interesses steht diesmal die bizarre Geschichte von Schillers Weimarer Schreibtisch. Da sein Eigentümer, anders als Goethe, auf keinem spektakulären Feldzug in Frankreich dabei war, findet sich hier sein liebstes Möbel als Dreh- und Angelpunkt des Erzählten, und muss für die Spannung sorgen.

Was Kühn kann, macht er gut. Wie von ihm gewohnt, betätigt er sich mit großem Fleiß als Quellenarchäologe, und rekonstruiert anhand einer Unmenge von nicht immer kenntlichen Quellen und historischen Zitaten die jungen Jahre Schillers, "auf der Suche nach einem Schreibtisch", sowie wechselweise den Niedergang der Kulturmetropole Weimar, unter dem Einfluss nationalsozialistischer Parteikader ab 1930.

In etlichen Kapiteln erfährt der Leser über das intensive Bestreben der NSDAP-Führung, das eigene kulturelle Vakuum des Regimes zu füllen und sich politisch wie städtebaulich in Weimar ein Denkmal zu setzen. Die Stadtverwaltung in Weimar, so erfahren wir detailliert, ließ es dabei an tatkräftiger Unterstützung nicht fehlen. Schiller, schon vor 1933 längst zum "Kampfgenossen" des Nationalsozialismus avanciert, wurde zu einer der wichtigsten Säulen kulturpopulistischer Propaganda im "Dritten Reich" und Weimar zu seinem Zentrum. Durchaus interessant sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen Kühns, bezüglich der literarischen Vorgaben, die Schiller zur Adaption und Verfremdung seines Werkes durch die Propaganda leistete. Viel zu schnell jedoch wendet sich das Buch dem Zweiten Weltkrieg zu und wandelt sich, angefüllt mit Anekdoten, zur aufklärerischen Geschichtsstunde.

Während des Kriegs, von den immer intensiveren Luftangriffen der Alliierten bedroht, wird Schillers Schreibtisch aus dem Museum des "Volksdichters" heraus, in das örtliche KZ evakuiert. Dort soll es kostengünstig von jüdischer Sträflingshand kopiert werden, um das Original bombensicher einzulagern. Eine Schließung des Schiller-Hauses kommt aus politischen Gründen nicht in Frage. Goethe hingegen, der "Fürstenknecht", taugt nicht als braune Kulturikone. Seine Möbel werden weder kopiert, noch eingelagert. Goethe-Liebhaber mussten froh sein, als sein altes Häuschen mit einem Tarnanstrich gegen die Fliegerbomben versehen werden sollte. Schillers Schreibtisch also landet mit anderen Dingen der Innenausstattung seiner Schreibstube in den Werkstätten des KZ Weimar-Buchenwald.

Kühn macht bei seinen Ausführungen das fatale Gegensatzpaar Schiller vs. Holocaust bzw. Kultur vs. Faschismus zum Strukturprinzip seines Textes. Zwischen beiden Elementen lockt die Sensation, des rätselhaften Widerstreits von Gut und Böse. Schon im Titel des Buches wird dieser Antagonismus zur Headline verwurstet. Zugegeben, der Versuch ist verlockend. Keine Epoche hat bisher in größerem Umfang bewiesen, dass das zentrale ästhetische Konzept Schillers, das Postulat der Vermittlung zwischen Schönheit und Sittlichkeit, in derart radikalem Maße gescheitert ist. Doch hierüber findet sich auf den 253 Seiten kaum ein Wort. Kühn beschränkt sich auf die Darstellung des Kulturverbrechens in Weimar, der Instrumentalisierung von Werk und Dichter für den Endsieg. Nur so konnte es zu einer derart bizarren Situation kommen, der unschönen Begegnung des Dichter-Relikts mit dem schändlichsten aller Orte, die eine pervertierte Gesellschaft hervorbringen kann.

Doch Kühn geht der Historie auf den Leim. Er begibt sich auf die Suche nach einer Story, die es gar nicht gibt und verzettelt sich im spektakulären "Drumherum". Der Schreibtisch in der Werkstatt des KZs dient als Vorwand zur Darstellung der Gräuelnisse in Buchenwald und Weimar. Zwar hat der Autor unbedingt Recht wenn er bemerkt, diese seien schon ausreichend dokumentiert, doch so fragt man sich: Warum hört er dann nicht auf damit? Unmittelbar darauf, folgen kapitelweise die Beschreibungen des Lageralltags in allen Facetten von Hunger, Tod und Folter. Irgendwo dazwischen taucht dann ab zu das Möbel auf, dupliziert im Schoße des industrialisierten Mordes, um genauer zu sein, in "fast unmittelbarer Nähe zur Massenlatrine, zum Krematorium, zum Hinrichtungskeller". Die Sensationsgier ist an manchen Stellen kaum erträglich. Zwanghaft muss Schiller immer wieder herhalten als Alibi für die Fortführung des Horror-Panoptikums der Nazizeit: "So hätte denn Schiller, beim Spaziergang, durch die - damals selbstverständlich noch freigehaltene - [Baum-] Schneise zum Gelände des künftigen Konzentrationslagers blicken können. [!?]" Doch bleibt der Erkenntnisgewinn vergleichbarer Feststellungen eher gering. Das Buch soll schockieren durch die Unvereinbarkeit ihrer Motive und als sei das Schillerjahr noch nicht vorbei, reiht sich Kühn mit einem weiteren Buch ein, in das Gruselkabinett der überflüssigen Schiller-Bücher.

Doch trifft der Terminus eigentlich nicht zu. Vielmehr ist es ein Stück Holocaust-Literatur, die vor allem die perfide Rolle der Weimarer Stadtverwaltung während der Nazizeit anklagt. Unangenehme Details der Stadtgeschichte werden von Kühn wieder hervorgeholt. Zum Beispiel die, über die Amtshilfe der Behörden, bei der Verbrennungen gemordeter Juden in den Krematorien des öffentlichen Friedhofsamtes. Der Misserfolg, das Buch in den zahlreichen Weimarer Souvenirshops zu finden, ist somit garantiert. Die Schilderungen des menschlichen Ascheregens über den Giebeln der Kulturmetropole räumen einmal mehr mit dem Mythos auf, "man habe von all dem nichts gewusst." Der "süßliche Gestank" verbrannten Menschenfleisches war Teil der Kulisse für die Darbietungen des Deutschen Nationaltheaters Weimar für "verwundete Kriegsteilnehmer" und den NSD Studentenbund. Das ist gut zu wissen, doch nichts Neues. Eine Antwort auf die Frage, was die Verbrechen dieser Jahre mit Schiller zu tun haben, bleibt der Autor dem Leser schuldig. Wie könnte er anders - es gibt keine.

Schiller ist wichtig! Das Gedenken an den Holocaust ist noch wichtiger! Doch über beide Themen gibt es Bücher, die weit aufschlussreicher und informativer sind, und dem Leser durch wissenschaftlich fundiertes Arbeiten den historisch-literarischen Mehrwert vermitteln, auf den man in Kühns Buch vergeblich wartet. Der Text bietet weder eine Erzählung, noch eine Dokumentation, die es zu lesen lohnte. Kühn hantiert hier mit der schockierenden Wirkung des Unbegreiflichen und marginalisiert den Dichter selbst, mitsamt dem Schreibtisch zur literarischen Staffage. Das macht den Text nicht nur zu schlechter Literatur; über die Empörung über das Geschehene entgeht dem Autor, dass sich dadurch sein eigener Text in die gefährliche Nähe populistischer Abgründe begibt.

Die Undurchdachtheit der Konzeption lässt den Stil nicht unberührt: "Schillers Schreibtisch in Buchenwald" kommt daher als Roman, nennt sich "Bericht" und bleibt doch nicht mehr, als eine kaleidoskopartige Ansammlung von historischen Notizen und Zitaten. Es gibt so viele verstörende und zugleich schöne und bewegende Romane über dieses dunkelste Kapitel der Deutschen Vergangenheit. Wenn Kühn ein Werk über den Holocaust hätte schreiben wollen, so hätte man ihm den Mut gewünscht, es wirklich zu versuchen. Viel versprechende prosaische Ansätze, "Gedankenspielen" wie der Autor es nennt, werden "lieber abgebrochen", noch bevor sie sich entwickeln können. So diffundiert der Gesamttext im Niemandsland der Genres. Er bleibt ein Konglomerat aus unzusammenhängenden Versatzstücken verschiedener Epochen, auf der holprigen Suche nach einem sprachlichen Stil.

Das Fazit ist deutlich: Es gibt Bücher, die besser nicht geschrieben werden sollten. Erst recht nicht, wenn es das mediale Äquivalent schon gibt. Spätestens mit dieser Veröffentlichung hat auch die Literaturwissenschaft ihren Guido Knopp; man kann nur hoffen, dass das ZDF ihn nicht entdeckt.


Titelbild

Dieter Kühn: Schillers Schreibtisch in Buchenwald. Bericht.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
253 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3100415094

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