Keine Atempause

Der Soziologe Hartmut Rosa analysiert die Beschleunigungstendenzen der Moderne

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

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Es gehört zu den Standards der kritischen Selbstbeobachtung der Moderne, ihre Rastlosigkeit und Schnelllebigkeit zu beklagen. Dabei ist unbestritten, dass die moderne Gesellschaft durch ein höheres Tempo gekennzeichnet ist. Hartmut Rosa versucht nun in seiner grundlegenden Studie, die Zeitstrukturen der modernen Gesellschaft zu analysieren, um die Basis für das eher amorphe und subjektive Beschleunigungsempfinden herauszuarbeiten, das hinter den Klagen steckt, dass alles immer schneller und unfassbarer werde. Dies ist nicht nur deshalb geboten, um den argumentativ schwachen, dabei allerdings lautstarken und ungemindert einflussreichen kulturkritischen Parolen Einhalt zu gebieten. Darüber hinaus füllt eine fundierte soziologische Untersuchung der Dynamisierungsphänomene eine Lücke, die die gegenwärtig kurrenten Gesellschaftstheorien zumeist lassen. Wo sie strukturell argumentieren, sind sie zumeist statisch angelegt. Dabei sei, so Rosa, die "Beschleunigung von Prozessen und Ereignissen" ein "Grundprinzip der modernen Gesellschaft" und damit konstitutiver Bestandteil ihrer Theorie. Allerdings stünde den Beschleunigungstendenzen zugleich "Entschleunigungsbemühungen" entgegen, die in "Entschleunigungsoasen" ihren Ausdruck finden.

Drei Beschleunigungsbereiche identifiziert Rosa: die technische Entwicklung, die Erhöhung des Lebenstempos und die Beschleunigung der sozialen und kulturellen Veränderungsraten. Neue Technologien, die etwa für Paul Virilio zentral sind, führen dabei in erster Instanz nicht zu Beschleunigung der Lebensweise, sondern ermöglichen eigentlich deren Entschleunigung, so Rosa. Nur im Zusammenhang mit weiteren sozialen Prozessen führten etwa die Entwicklungen bei Verkehrs-, Waffen- und Informationstechnologien zu jenem Beschleunigungsempfinden, das die Kulturkritik mit dem technischen Zeitalter in Verbindung gebracht hat. Rosa zählt zu diesem Komplex unter anderem die Fragmentierung biografischer Zusammenhänge, die Vervielfachung von Anforderungen an die Subjekte, die zunehmende Komplexität von Handlungen, die Zerschlagung linearer und sukzessiver Abläufe, die zunehmende Gleichzeitigkeit von Tätigkeiten und Einflüssen.

Rosa unterscheidet auf diese Weise die klassische Moderne, also das frühe 20. Jahrhundert, von den späteren Formen der Moderne, die in der Regel als Post- oder Spätmoderne bezeichnet werden, mithin also die Jahrzehnte nach 1967. Dabei schließt er sich der Ansicht an, dass die Moderne in der Post- oder Spätmoderne im eigentlichen zu sich selbst kommt. Zugleich unterscheidet er die beiden Phasen deutlich voneinander. Die extreme Fragmentierung und Dynamisierung von Identitäten, die für die Spätmoderne kennzeichnend ist, ist zwar der klassischen Moderne noch fremd. Allerdings ließe sich die Differenz eher darin sehen, dass die Bemühungen im frühen 20. Jahrhundert noch zumeist dahin gingen, den Verlust eindeutiger und klarer individueller Positionen entweder durch experimentell entworfene und selbst gewählte, dabei freilich eindeutige Haltungen zu ersetzen oder die verlorenen Gewissheiten und Eindeutigkeiten wieder herzustellen. Demgegenüber hat die Spätmoderne die Bemühungen weitgehend eingestellt, den vermeintlich verlorenen und beinahe paradiesisch anmutenden Zustand zivilisatorischer Einfachheit zu restituieren. Sie hat sich stattdessen darauf verlegt, sie zu musealisieren oder in nie enden wollender Reiselust an der Peripherie der Industriegesellschaften aufzuspüren (mit dem Effekt, dass sie entweder schnell als Scheinidyllen erkannt werden oder ihren idyllischen Charakter verlieren und zu touristischen Zielen mutieren). In ihrem Kernbereich hingegen haben die Industriegesellschaften, deren Modell in der Globalisierung zugleich aufgefächert wie ausgedehnt wird, sich mit der Beschleunigung und damit der Fragmentarisierung von System und Lebenswelt zu synchronisieren versucht.

In den teils stupenden Abschnitten, in denen Rosa Politik und vor allem Alltagskultur Revue passieren lässt, vermag er den Paradigmenwechsel präzise zu beschreiben. Zwar versucht das Rechtssystem immer noch, gesellschaftliche Praxis in Regularien zu fassen. Die Politik hingegen habe die Konsequenzen aus dem offenen Horizont gesellschaftlicher Entwicklung und der Verflüssigung von Strukturen gezogen und habe sich zum Agenten der Beschleunigung gewandelt. An die Stelle der formierten Gesellschaft, die einem Ludwig Erhard noch als Hauptziel sinnvollen politischen Handelns gelten konnte, ist die permanent zu reformierende Gesellschaft getreten. Aufgabe der Politik wird es nun, den gesellschaftlichen Antriebskräften (unter denen wohl vor allem Wirtschaft und Technologie verstanden werden können) freie Bahn zu verschaffen.

Die sich selbst immer weiter antreibende und beschleunigende Gesellschaft kommt dabei immer häufiger an den Punkt, an dem die Individuen oder sozialen Gruppen den Auflösungs-, Fragmentierungs- und Wechselphänomenen nicht mehr folgen können. Selbst in stark spezialisierten gesellschaftlichen Segmenten, etwa in der Freizeitindustrie, verlieren die Know-how-Träger ihre Sicherheit, mit der sie etwa Produktwechsel und -innovationen identifizieren können. In diesem Kontext gewinnen "Entschleunigungsstrategien" ihre Bedeutung, sichern sie doch überhaupt noch die Orientierungs- und Handlungskompetenzen der Individuen.

Rosa weist damit, ohne dies allerdings zu vertiefen, auf ein zentrales Problem sozialer Entwicklung hin: Zwar steuern und betreiben die Individuen diesen Beschleunigungsprozess nicht, sie müssen ihn aber nicht nur aushalten, sondern zudem Handlungsstrategien entwickeln, die sie unter seinen Bedingungen erfolgreich machen. Gelingt ihnen das nicht, läuft der Prozess entweder ins Leere oder er schließt immer weitere Gruppen aus dem Kernbereich gesellschaftlicher Entwicklung aus. Auch wenn der Mensch von Natur aus künstlich sein mag, wie der Soziologe Helmuth Plessner formuliert hat, sind seinen habituellen Reaktionsmöglichkeiten Grenzen gesetz; physiologischer, psychologischer, materieller und sozialer Art. Sind seine Ressourcen ausgereizt, dann wird fraglich, inwieweit sich Beschleunigungsprozesse weiter fortsetzen lassen. Im ersten Schritt teilt sich Gesellschaft dann in Segmente, die die Beschleunigung weiter vorantreiben und zudem von ihr profitieren und in solche, die entweder zu ihren Verlierern gehören oder sich in die von Rosa so bezeichneten "Entschleunigungsoasen" zurückziehen. In den Industriegesellschaften zählt die zunehmende Zahl sozial schwacher Gruppen dazu, die zu sozialen Versorgungsfällen mutieren und tendenziell ausgesteuert werden. In der globalen Perspektive sind dies vor allem die nomadisierenden Menschenströme, die auf der unteren Stufe der sozialen Hierarchie freigesetzt werden.

Freilich argumentiert Rosa weitgehend unpolitisch und nimmt solche Phänomene kaum in den Blick. Er ist stattdessen weitgehend auf die Beschleunigungsavantgarden fokussiert (wie auch auf die handlungsfähigen Gruppen, die die Entschleunigung betreiben). Zudem verliert er die Akteure aus dem Blick, die die technische und ökonomische Entwicklung vorantreiben und die nicht zuletzt für die zunehmende Komplexität gesellschaftlicher Prozesse verantwortlich sind. In diesem Kontext scheint Rosas Plädoyer nicht überzeugend, nicht allein in Technik und Wirtschaft die Hauptantriebskräfte zu sehen, die die Entwicklung vorantreiben. Ökonomie und Technik geraten (tendenziell) zu gesellschaftlichen Blackboxes. Das ist zu größeren Teilen auf Rosas Fokussierung auf Zeitstrukturen zurückzuführen. Indem er sich vorrangig mit ihnen beschäftigt, sich damit auf einen Beitrag zur Theorie der Moderne beschränkt und nicht den Anspruch erhebt, eine solche Theorie selbst zu entwerfen, stößt seine Studie an ihre Grenzen, ohne allerdings an Überzeugungskraft zu verlieren. Dass er die Moderne dabei ebenso schablonenhaft zeichnet wie er die Tendenzen der Spätmoderne überzeichnet, kann dabei vernachlässigt werden. Die Moderne des frühen 20. Jahrhunderts war deutlich weniger an stabilen Rollen interessiert als Rosa annimmt. Interessant wäre es freilich zu erfahren, welchen Stellenwert Rosa politischen "Entschleunigungsphänomenen" wie Faschismus und Sozialismus zuschreiben würde.


Titelbild

Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
537 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-10: 3518293605

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