Aus dem Kulturjournal
von literaturkritik.de
Neues
zu den Nibelungen?
Was
wirklich in
dem "Sensationsfund"
aus dem Kloster
Zwettl steht
Von
Joachim Heinzle
Pergament
ist ein festes
und dauerhaftes
Material. Buchbinder
wissen es bis
heute zu schätzen.
Um den kostbaren
Werkstoff zu
gewinnen, haben
ihre Kollegen
im 15. und
16. Jahrhundert
in großem Stil
mittelalterliche
Pergamenthandschriften
zerlegt, deren
Inhalt den
Besitzern unverständlich
oder gleichgültig
geworden war.
Sie verwendeten
die Blätter
als Einbanddecken,
klebten mit
ihnen die Innendeckel
ab, schnitten
aus ihnen Fälze,
mit denen sie
die Papierlagen
verstärkten.
Für die Mediävistik
sind solche
Fragmente eine
wichtige Quelle.
Manche Texte
sind allein
in derart fragmentierter
Form erhalten.
Die Bedeutung
dieser Makulatur
ist schon im
19. Jahrhundert
erkannt worden.
Heute fahndet
man systematisch
nach ihr. Was
dabei zutage
gefördert wird,
ist vor allem
statistisch
von Belang.
Das neunundneunzigste
Bruchstück
von Wolframs
Parzival unterstreicht
die Beliebtheit
des Werks im
Mittelalter,
gibt aber keinerlei
neue Aufschlüsse
über den Text.
Doch gelingen
mit schöner
Regelmäßigkeit
auch spektakuläre
Funde. So tauchten
Anfang der
achtziger Jahre
des vorigen
Jahrhunderts
in Los Angeles
Fragmente einer
Handschrift
mittelhochdeutscher
Lyrik in Rollenform
auf - bis dahin
hatte man die
Existenz solcher
Minnesänger-Rollen
nur erschließen
können. Wenig
später wurden
in Budapest
Reste einer
bebilderten
Liederhandschrift
aus der Familie
des Manesse-Codex
gefunden, die
das herkömmliche
Bild von der
Textgeschichte
der mittelhochdeutschen
Lyrik ernsthaft
veränderten.
Der jüngste
Fund dieses
Ranges betrifft
den Tristan-Roman
des Thomas
von Britannien,
die Quelle
Gottfrieds
von Straßburg
und damit indirekt
auch Richard
Wagners. Der
Roman des Thomas
gehört zu den
Texten, die
wir überhaupt
nur in Bruchstücken
besitzen. Die
fragmentarische
Überlieferung
erlaubte es
nicht, Gottfrieds
Werk an entscheidenden
Stellen mit
seiner Quelle
zu vergleichen,
bis vor acht
Jahren das
Fragment einer
Schlüsselpassage
publiziert
wurde, das
man in Carlisle
gefunden hatte.
Es rückte die
künstlerische
Leistung Gottfrieds
schlagartig
in ein neues
Licht.
Die Anfang
April von etlichen
Zeitungen vorgestellten
Fragmente mit
mittelhochdeutschem
Text aus dem
Kloster Zwettl
schienen ein
Sensationsfund
zu sein, der
all dies übertraf.
Es handelt
sich um typische
Einbandmakulatur:
zehn Pergamentfetzchen
von ca. 3,5
/ 4,2 x 6,5
/ 7,5 cm. Die
Entdeckerin
meinte, in
sechs von ihnen
Textsplitter
aus der Nibelungensage
zu erkennen,
und identifizierte
in den übrigen
die Reste einer
Fassung des
Romans von
Erec und Enite.
Das Aufregende
daran war,
daß sie die
Bruchstücke
ins 12. Jahrhundert
datierte. Traf
die Datierung
zu, mußte der
Nibelungen-Text
älter sein
als das Nibelungenlied.
Eine Sensation
fürwahr. Es
verhält sich
leider ganz
anders.
Die zerstückelte
Handschrift
wurde nicht
im 12., sondern
im 13. Jahrhundert
geschrieben.
Das ergibt
sich aus der
Form der Schrift.
Da sich die
Schreibkonventionen
damals einigermaßen
schnell änderten,
ist es möglich,
aus dem Vergleich
mit datierten
Dokumenten
Formkriterien
für die zeitliche
Einordnung
nicht datierter
Handschriften
zu gewinnen.
Es gibt hierfür
einen wissenschaftlichen
Standard, den
wir vor allem
der Münchner
Germanistin
und Kodikologin
Karin Schneider
verdanken,
die die Kenntnis
der "Gotischen
Schriften in
deutscher Sprache"
- so der Titel
ihres Hauptwerks
- auf eine
völlig neue
Grundlage gestellt
hat. Das Verfahren
ist mit Unwägbarkeiten
behaftet und
erlaubt nur
relativ grobe
Fixierungen.
Selbst bei
äußerster Vorsicht
kann man indes
mit Sicherheit
sagen, daß
die Zwettler
Bruchstücke
nicht ins 12.
und auch nicht
an den Beginn
des 13. Jahrhunderts
gehören. Karin
Schneider hat
sich inzwischen
für das zweite
Viertel bis
zur Mitte des
Jahrhunderts
ausgesprochen.
In der Jahrhundertmitte
treffen sich
alle Experten,
die sich bisher
geäußert haben.
Das ist die
Basis, von
der wir jetzt
ausgehen müssen.
Ein bisher
unbekannter
Nibelungen-Text
aus dieser
Zeit wäre noch
faszinierend
genug. Aber
der Text hat
rein gar nichts
mit den Nibelungen
zu tun. Vielmehr
enthalten auch
die vermeintlichen
Nibelungen-Fragmente
Text des Erec-Romans.
Das geht zweifelsfrei
aus Namen wie
Enyde (die
Heldin) oder
Karsinefide
(ihre Mutter),
aus den erkennbaren
Handlungszusammenhängen
und aus dem
Wortlaut einzelner
Verse hervor.
Der französische
Roman vom Königssohn
Erec und seiner
schönen Frau
Enite, verfaßt
um 1170 von
Chrestien de
Troyes, ist
der erste Roman
von König Artus
und den Rittern
seiner Tafelrunde.
In gewisser
Weise beginnt
mit ihm die
Gattungsgeschichte
des modernen
Romans. Nach
Deutschland
kam er in einer
Bearbeitung
Hartmanns von
Aue, die um
1180 entstanden
sein wird.
Lange Zeit
meinte man,
Hartmanns Text
zu kennen.
Man identifizierte
ihn fraglos
mit einem mittelhochdeutschen
Erec-Roman,
der nahezu
vollständig
in einer Prachthandschrift
des frühen
16. Jahrhunderts,
dem berühmten
Ambraser Heldenbuch
Kaiser Maximilians
I., und in
Fragmenten
des 13. und
14. Jahrhunderts
überliefert
ist. 1978 tauchten
Fragmente des
13. Jahrhunderts
auf, die Reste
eines ganz
anderen mittelhochdeutschen
Erec-Romans
enthalten,
der viel näher
zu Chrestien
stimmt als
der Ambraser
Text. Wie sich
die beiden
mittelhochdeutschen
Fassungen zueinander
verhalten und
welchen Anteil
Hartmann an
ihnen hat,
ist bis heute
nicht geklärt.
Vielleicht
führen die
Zwettler Fragmente
jetzt weiter.
Denn auch ihr
Erec-Text gehört
nicht zur Ambraser
Fassung und
weist enge
Übereinstimmungen
mit Chrestien
auf. Das läßt
sich sehr schön
an dem Schnipsel
zeigen, der
in dieser Zeitung
abgebildet
war. Er überliefert
Rudimente aus
der Schilderung
von Erecs und
Enites Hochzeit,
die König Artus
ausrichtet
(Verse 1865ff.).
Der Text auf
der Vorderseite
gehört zum
Bericht von
der Ankunft
der Gäste.
Unter ihnen
ist der alte
König von Orcel
mit zweihundert
Greisen, deren
Haare "grau
und weiß" (chenuz
et blans) waren,
"denn sie hatten
lange Zeit
gelebt" (que
vescu avoient
lonc tans).
Die Zeitangabe
ist so gut
wie wörtlich
übersetzt:
si hetin gelebit
manic iar ("sie
hatten viele
Jahre gelebt"),
und auch die
Erwähnung der
grauen und
weißen Haare
fehlt nicht:
grisir wis
mit dem Vergleich
als ein s...
(vielleicht
"wie Schnee").
Im weiteren
Verlauf der
Festlichkeiten
promoviert
König Artus
hundert Knappen
zu Rittern
und schenkt
ihnen Kleider
und Waffen,
die alle von
der selben
Art (d'une
guise) sind.
Zu dieser Passage
gehört der
Text auf der
Rückseite des
Schnipsels.
Die entscheidenden
Ausssagen sind
eindeutig zu
lesen: so gab
er hundert
qnappin ...,
sicher zu ergänzen
um das Wort
swert, dessen
Reimpartner
wert ("edel")
erhalten ist
("so gab er
hundert Knappen
das Schwert"),
und: gecleidet
al nach eime
sit(e) oder
sn(ite) ("alle
in ein und
derselben Weise
/ nach dem
selben Kleiderschnitt
gekleidet").
Über das Wort
pilgrime in
der ersten
Zeile der abgebildeten
Vorderseite
des Schnipsels,
das wesentlich
dazu beigetragen
hat, daß die
Entdeckerin
auf die falsche
Nibelungen-Fährte
geraten ist,
läßt sich abschließend
erst urteilen,
wenn der Kontext
einwandfrei
entziffert
ist. Mit Sicherheit
handelt es
sich nicht
um einen Bischof,
eher schon
um einen Vogel:
einen Wanderfalken,
falco peregrinus,
mittelhochdeutsch
pilgerînvalke
oder einfach
pilgerîn. An
der entsprechenden
Stelle in Chrestiens
Erec, kurz
vor dem Auftritt
jener Grauköpfe,
erfahren wir
von der Ankunft
einer Schar
junger Männer,
unter denen
keiner war,
"der nicht
einen Falken
oder Vogel
gehabt hätte,
einen Zwergfalken
oder Sperber
..." Es handelt
sich um Jagdvögel.
Der Auftritt
mit ihnen ist
ein Akt höfischer
Repräsentation,
eine Demonstration
von Reichtum
und Kultiviertheit.
Der Wanderfalke,
den der deutsche
Bearbeiter
hier möglicherweise
eingesetzt
hat, war ein
besonders geschätzter
Jagdvogel.
In der deutschen
Literatur wird
er wiederholt
genannt, z.B.
in Gottfrieds
Tristan im
Rahmen einer
entsprechenden
Aufzählung:
ouch was dâ
schoene vederspil,
/ valken pilgerîne
vil, / smirlîne
und sperwaere
... ("auch
waren da schöne
Jagdvögel,
viele Wanderfalken,
Zwergfalken
und Sperber
..." - Verse
2203ff.). Es
wird zu prüfen
sein, ob der
"Zwettler Erec",
wie wir ihn
nennen wollen,
ein weiterer
Zeuge der Bearbeitung
ist, die in
den Wolfenbütteler
Fragmenten
vorliegt. In
jedem Fall
präzisiert
er unsere Kenntnis
der Geschichte
der mittelhochdeutschen
Literatur.
Wir wissen
jetzt, daß
die Rezeption
des französischen
Erec-Romans
in Deutschland
vielschichtiger
und reicher
war, als man
bisher annahm,
und daß der
Ambraser Text
keine kanonische
Geltung beanspruchen
darf.
In einem nach
allen Regeln
niederer Journalistenkunst
aufgedonnerten
Sensationsartikel
über die Zwettler
Fragmente hat
der Spiegel
die Vision
von "Paläografen
und Tintenforschern"
entworfen,
die sich in
den nächsten
Wochen über
die Schnipsel
beugen würden:
"Eine Großprüfung
ist angesagt".
Sie kann getrost
abgesagt werden.
Was jetzt ansteht,
ist eine schlichte
Transkription
des Textes
anhand der
Originale.
Sie anzufertigen,
ist philologische
Alltagsarbeit.
Daß sie nicht
längst geleistet
wurde, gehört
zu den Unbegreiflichkeiten
des Vorgangs.
Viel Lärm
um wenig also.
Es bleibt ein
übler Nachgeschmack.
Daß die bloße
Mitteilung,
es sei ein
Dokument zur
Nibelungensage
gefunden worden,
ungeprüft eine
weltweite Hysterie
entfachen konnte,
geht aufs Konto
der mythischen
Aura, die die
Nibelungen
noch immer
umgibt. Sie
ist die Frucht
der nationalideologischen
Inanspruchnahme
des Nibelungenliedes.
Bald nach seiner
Wiederentdeckung
im Jahr 1755
als "Deutsche
Ilias"
begrüßt, wurde
es in den Befreiungskriegen
gegen Napoleon
zum Dokument
deutscher Größe
stilisiert
und avancierte
rasch zum Nationalepos,
obwohl es weder
mit Deutschen
noch mit Germanen
etwas zu tun
hat und alles
andere als
national ist.
Die nationale
Bedeutung des
Textes beruht
auf einer bloßen
Zuschreibung,
deren Wirkungsmächtigkeit
zu den erstaunlichsten
Kulturphänomen
des 19. und
20. Jahrhunderts
gehört. Wie
kein anderer
Mythos hat
der von den
Nibelungen
die Formierung
und Entwicklung
des deutschen
Nationalstaats
kulturell fundiert.
An historischen
Wendepunkten
vor allem mußte
er herhalten,
um die jeweilige
Situation zu
erklären und
das Handeln
der Akteure
zu rechtfertigen.
Am 29. März
1909 verglich
der Reichskanzler
Fürst von Bülow
in einer Rede
vor dem Reichstag
Preußen-Deutschland
mit Hagen,
Österreich-Ungarn
mit Volker
und prägte
das geflügelte
Wort von der
"Nibelungentreue",
in der er die
beiden Völker
verbunden sah.
Die Nibelungentreue
führte bekanntlich
geradewegs
in den Ersten
Weltkrieg.
Die Niederlage
in diesem Krieg
erklärten nationalkonservative
Kreise mit
der berüchtigten
"Dolchstoßlegende":
"Wie Siegfried
unter dem hinterlistigen
Speerwurf des
grimmen Hagen,
so stürzte
unsere ermattete
Front; vergebens
hatte sie versucht,
aus dem versiegenden
Quell der heimatlichen
Kraft neues
Leben zu trinken",
schrieb der
Feldmarschall
Paul von Hindenburg.
Am 30. Januar
1943 verglich
Hermann Göring
in einem Appell
an Vertreter
der Wehrmacht,
der vom Rundfunk
übertragen
und im Völkischen
Beobachter
abgedruckt
wurde, die
Soldaten im
Kessel von
Stalingrad
mit den Burgunden
in der brennenden
Halle des Hunnenkönigs.
Folgerichtig
fiel den Nibelungen
dann auch der
Abgesang auf
das Tausendjährige
Reich zu. Die
Rundfunknachricht
vom Tod Adolf
Hitlers, der
sich gern mit
Siegfried vergleichen
ließ, wurde
umrahmt von
Klängen aus
der Götterdämmerung.
Man sollte
meinen, der
faule Nibelungenzauber
sei damit am
Ende gewesen.
Er war es keineswegs.
So schnell
vergißt das
kulturelle
Gedächtnis
nicht. Zwar
verschwanden
die nationalen
Töne, doch
die Vorstellung
blieb lebendig,
die Nibelungen
hätten eine
irgendwie existentielle
Bedeutung für
uns. Das geht
bis in die
Fachwissenschaft
hinein, die
nicht müde
wird, die Hochbedeutsamkeit
des Textes
zu feiern.
Wenn es eines
Beweises bedurfte,
daß die Nibelungen
im Seelenleben
der Deutschen
noch immer
ihren Platz
haben, dann
hat der Wirbel
um die Zwettler
Fragmente ihn
geliefert.
Der Vorgang
ist kurios
und bedrückend
zugleich.
Joachim
Heinzle ist
Professor am
Institut für
Deutsche Philologie
des Mittelalters
der Universität
Marburg. Der
Beitrag erschien
in einer gekürzten
Fassung zuerst
in der Frankfurter
Allgemeinen
Zeitung.
Aus dem Kulturjourunal
von literaturkritik.de,
April 2003.
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