Kulturjournal

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Betreff Helene Hegemanns „Axolotl Roadkill“ und die überforderte Literaturkritik
Autor Eckart Löhr
Datum 15.02.2010 17:17
Nachricht

Der Skandal um die Autorin Helene Hegemann, die für ihren Roman „Axolotl Roadkill“ Textpassagen aus einem anderen Werk leicht verändert übernommen hat, ist in Wahrheit ein Skandal der Literaturkritik, die mit den analytischen Werkzeugen des 19. Jahrhunderts an Texte des 21. Jahrhunderts herangeht.

Die Literaturkritik glaubt auch heute noch an den Autor und somit an die Autorität des Verfassers einer Schrift. Im Fall von Helene Hegemann las man kaum eine Rezension, die nicht auf das jugendliche Alter oder ihren bekannten Vater, den Dramaturg Carl Hegemann, anspielte. Sie hängt also immer noch dem Geniekult des Sturm und Drang und der Romantik an und betrachtet den Autor als denjenigen, der aus sich heraus ein originäres Kunstwerk erschafft. Aus gutem Grund hat die Literaturtheorie der 1960er- und 1970er-Jahre mit dieser Auffassung des Autors als sinngebender Instanz aufgeräumt, denn „sobald ein Text einen Autor zugewiesen bekommt, wird er eingedämmt, mit einer endgültigen Bedeutung versehen, wird die Schrift angehalten. Diese Auffassung kommt der Literaturkritik sehr entgegen, die es sich zur Aufgabe setzt, den Autor (oder seine Hypostasen: die Gesellschaft, die Geschichte, die Psyche, die Freiheit) hinter dem Werk zu entdecken. Ist erst der Autor gefunden, dann ist auch der Text ,erklärt‘, und der Kritiker hat gewonnen.“

In diesem speziellen Fall scheint der romantisch geprägte Kritiker allerdings verloren zu haben, da die Autorin Hegemann – ob bewusst oder unbewusst sei einmal dahingestellt – sich poststrukturalistischer Methoden bedient, wenn sie Texte aus anderen Werken übernimmt, verändert und in neue Kontexte stellt, um somit etwas Neues zu gestalten, das selbst wieder Quelle für andere Autoren werden mag. Das aber ist genau die Arbeitsweise, die von der postmodernen Literaturtheorie beschrieben wird, denn „heute wissen wir, dass ein Text nicht aus einer Reihe von Wörtern besteht, die einen einzigen, irgendwie theologischen Sinn enthüllt (welcher die ,Botschaft‘ des Autor-Gottes wäre), sondern aus einem vieldimensionalen Raum, in dem sich verschiedene Schreibweisen [écritures], von denen keine einzige originell ist, vereinen und bekämpfen. Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur.“

Die Autorin hat ihr Buch nicht als Autobiografie veröffentlicht und auch nicht behauptet, das in dem Buch beschriebene selbst erlebt zu haben. Selbst wenn es aber so wäre, hätte es die Literaturkritik nicht zu interessieren. Die Autorin Helene Hegemann ist – obwohl erst 17 – gewissermaßen so tot wie der Autor des Romans „Strobo“, aus dem sie sich bedient hat, denn sobald etwas erzählt wird um des Erzählens willen, also fiktional ist, löst sich der Autor vom Text. Der Text verliert seinen Ursprung, beginnt ein Eigenleben und fängt an sich selbst fortzuschreiben, wobei die Sprache zwar ein Subjekt kennt, aber keine Person. Die Literaturkritik wäre also in diesem, wie auch in anderen Fällen, gut beraten gewesen, sich auf den Text zu konzentrieren, unabhängig davon wie alt die Autorin ist, was sie erlebt hat, oder aus welcher sozialen Schicht sie kommt. Die Kritik hat, da von überholten Konzepten ausgehend, den Text mit Aussagen überfrachtet, die die Autorin womöglich nie im Sinn hatte. Es gibt keine Frage, die das Wesen von Literatur so verfehlt wie die nach dem Autor und was und wie viel von seiner Persönlichkeit in den Text eingeflossen sei. „Haben Sie das alles selbst erlebt?“ ist eine Frage, die einem literarischen Laien nach einer Lesung gestattet sein mag, in der Literaturkritik jedoch hat sie nichts zu suchen.

Natürlich lässt sich dieses literarische Verfahren in Frage stellen, und man kann immer noch der Meinung sein, dass jeder Text – wenn es ein guter Text ist – immer auch zumindest einen Hauch von persönlicher Inspiration und Originalität enthält. Tatsache ist aber die Erkenntnis, dass kein Autor ein Werk vollständig aus sich heraus schöpfen kann, da er schon immer in einem sprachlichen, sozialen und kulturellen Verweisungszusammenhang steht. Die Welt ist für den Menschen immer schon erschlossen, und dieses implizite Welt-und-Sprache-haben geht aller Kunst stets voraus. Selbst wenn der Schriftsteller dieses Wissen offenlegt, kritisiert und neu bewertet, bewegt er sich doch trotz alledem im Kontext dieses Wissens.

„Schöpfung oder Reflexion sind hier nicht originalgetreuer,Abdruck’ der Welt, sondern wirkliche Erzeugung einer Welt, die der ersten ähnelt, sie aber nicht kopieren, sondern verständlich machen will.“ Ob es der Autorin Hegemann gelungen ist, die Welt verständlicher zu machen, darüber lässt sich streiten. Ihr Verfahren, andere fiktionale Texte zu übernehmen und fortzuschreiben, ist jedoch legitim. Nicht das Verfahren sollte uns Sorgen machen, sondern der Hype in den Feuilletons und eine völlig überforderte Literaturkritik, die eine postmoderne Autorin zum literarischen Wunderkind erklärt.

Anmerkung: Dieser Text ist selbst eine Fortschreibung von Texten Roland Barthes’, von dem auch alle Zitate stammen.

Antworten

Betreff Playgiarism - Hegemann, die postmoderne Literaturtheorie und die Rückkehr des Autors in der Literaturwissenschaft
Autor Thomas Anz
Datum 15.02.2010 23:14
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Die aufgeregte Diskussion über den Roman „Axolotl Roadkill“ der siebzehnjährigen Autorin Helene Hegemann und die angemessene Einschätzung ihrer Plagiate kann auch die Literaturwissenschaft nicht unberührt lassen. Aber der von Eckhart Löhr beschworene „Skandal der Literaturkritik, die mit den analytischen Werkzeugen des 19. Jahrhunderts an Texte des 21. Jahrhunderts herangeht“, ist keiner. Zumindest nicht der, den Löhr beschreibt. Sein eigenes Begriffswerkzeug, das in der Debatte ähnlich auch von anderen verwendet wurde, nimmt sich vielmehr selbst ziemlich alt aus. Es stammt aus den „postmodernen“ 1980er-Jahren, in denen sich die Rede vom „Tod des Autors“ nachhaltiger Beliebtheit erfreute. Die beiden Aufsätze, auf die man sich damals immer wieder berief, um die seit dem 18. Jahrhundert forcierten, „modernen“ Autonomie-, Individualitäts- und Originalitätsansprüche von und an Autoren zu verabschieden, waren noch älter. Michel Foucaults „Was ist ein Autor?“ erschien 1969, der Essay „Der Tod des Autors“ von Roland Barthes etwa ein Jahr vorher. Eckhardt Löhr übernimmt daraus demonstrativ viele Sätze, um Hegemanns freundliche Übernahme fremder Texte imitatorisch zu veranschaulichen. Aber mit einem gravierenden Unterschied: Er setzt sie in Anführungszeichen und macht mit dieser Form der Aneignung das geistige Eigentum eines anderen Autors kenntlich.

Schriftsteller (und viele Journalisten) haben beim Abschreiben weit weniger Skrupel und bewegen sich damit in bester Gesellschaft – und in ehrwürdigen, vormodernen Traditionen. Die „unoriginelle Literaturgeschichte“ des Plagiats (siehe literaturkritik.de 10/2009), die der Literaturwissenschaftler Philipp Theisohn kürzlich veröffentlichte, liefert dazu viele wunderbare Beispiele.

Im Umfeld der Postmoderne bekam der literarische Umgang mit anderen Texten einen betont spielerischen Charakter. Der im Oktober letzten Jahres gestorbene Schriftsteller und Wissenschaftler Raymond Federman kreierte dafür in den 1970er-Jahren ein Wortspiel, eine Mischwortbildung aus "play" und "plagiarism": "playgiarism". Die spielerische Anlehnung an andere Texte tangierte damals einen der zentralen Begriffe postmoderner Literaturtheorie, den der "Intertextualität". Er meint das Phänomen, dass sich literarische Texte mehr oder weniger exzessiv auf andere, ihnen vorangegangene "Prätexte" beziehen, sie zitieren, imitieren, plagiieren, ironisieren oder mit ihnen in einen Dialog treten. Für den Autor kann das intertextuelle Spiel eine lustvolle Befreiung sowohl von den übermächtigen Zwängen einzelner literarischer Traditionen als auch vom Innovationsdruck der Moderne sein. Wo tradierte Texte respektlos zum Spielmaterial gemacht werden, sieht sich der Autor von seiner Angst vor ihrem übermächtigen, autoritativen Einfluss befreit, und wo er auf Traditionen in Form eines ironischen Spiels mit ihnen zurückgreift, kann er sich vom Vorwurf bloßer Epigonalität oder des Plagiats entlastet sehen.

Der Fall Hegemann ist allerdings anders geartet. Von einem Spiel kann hier bei der wörtlichen und unmarkierten Übernahme anderer Texte keine Rede sein. Der existentielle Ernst ihres Romans ist unverkennbar. Er zeigt sich auch da, wo die sechzehnjährige Protagonistin in ihr Tagebuch schreibt: „Mir wurde eine Sprache einverleibt, die nicht meine eigene ist, es sind so viele Gedanken da, dass man seine eigenen gar nicht mehr von den fremden unterscheiden kann.“ Wie fragwürdig es ist, auch eigene und fremde Sätze nicht zu unterscheiden, sei hier dahin gestellt. Fragwürdig ist indes mittlerweile eine Literaturwissenschaft geworden, die sich als reine Textwissenschaft versteht und sich den Blick auf jene angestrengt versperrt, die Texte schreiben und lesen. Das hat sich inzwischen geändert. Der Rede vom „Tod des Autors“ ist in der Literaturwissenschaft längst die von der „Rückkehr des Autors“ gefolgt. Sie lässt sich mittlerweile nicht mehr ignorieren.

 
Betreff Artikel zu Helene Hegemanns „Axolotl Roadkill“ in Spiegel, FAZ, FAS, SZ und ZEIT
Autor Redaktion literaturkritik.de
Datum 15.02.2010 17:43
Nachricht

Im Netz veröffentlichte Artikel:

Der Spiegel

Spiegel vom 18.1.2010 (Tobias Rapp)

Spiegel vom 8.2.2010 (Daniel Haas)

Frankfurter Allgemeine (F.A.Z. und F.A.S.):

FAZ vom 22.01.2010 (Mara Delius)

FAS von 23.01.2010 (Maxim Biller)

FAZ vom 8.2.2010 (Felicitas von Lovenberg)

FAZ vom 9.2.2010 (Andreas Kilb)

FAZ vom 10.02.2010 (Jürgen Kaube)

FAZ vom 12.02.2010 (Tobias Rüthers Gespräch mit Airen - mit Textgegenüberstellungen)

FAS vom 15.02.2010 (Volker Weidermann)

FAZ vom 23.2.2010 (Durs Grünbein)

FAZ vom 24.2.2010 (Durs Grünbein [outet sich als Plagiator])

Süddeutsche Zeitung

SZ vom 8.02.2010 (Willi Winkler)

SZ vom 8.02.2010 (Redaktion)

SZ vom 8.02.2010 (Lisa Sonnabend)

SZ vom 10.02.2010 (Thomas Steinfeld)

SZ vom 10.02.2010 (Bernd Graff)

SZ vom 11.02.2010 (Redaktion)

SZ vom 12.02.2010 (Bernd Graff)

SZ vom 12.02.2010 (Redaktion)

SZ vom 12.02.2010 (Ruth Schneeberger)

SZ vom 13.02.2010 (Thorsten Schmitz)

SZ vom 24.02.2010 (Lothar Müller)

DIE ZEIT

Zeit vom 21.01.2010 (Ursula März)

Zeit vom 28.01.2010 (Jana Simon)

Zeit vom 5.02.2010 (Susanne Schmetkamp)

Zeit vom 8.2.2010 (David Hugendick)

Zeit vom 11.02.2010 (Christoph Schröder)

Zeit vom 15.02.2010 (Gerrit Bartels)

Zeit vom 18.02.2010 (Iris Radisch)

 
Betreff Was Helene Hegemanns „Axolotl Roadkill“ übernommen und verarbeitet hat
Autor Redaktion literaturkritik.de
Datum 19.02.2010 19:14
Nachricht

Der Ullstein Verlag hat inzwischen eine Liste von Zitaten veröffentlicht, die einen Vergleich zwischen Romanpassagen und Passagen aus jenen Texten erleichtert, die Hegemann ab- und umgeschrieben hat.

http://www.ullsteinbuchverlage.de/media/0000461234.pdf

Die Liste wird mit dem Satz eingeleitet:

"Aus folgenden Quellen (Bücher, Songs, Filme, Blogs etc.) sind Teile in den Text eingeflossen, als wörtliches Zitat, modifiziertes Zitat oder Inspiration:"

Ein Beispiel:

Hegemann, S. 79/80: [...] erbsengroße Plastikkugel [...] Anstatt mir zu antworten, wickelt sie die Plastikfolie ab. Schlussendlich liegt auf dem Mahagonitisch eine Messerspitze bräunlichen Pulvers, das wie Instanttee aussieht und nach einer Mischung aus Zigarettenkippen, Müll und Essig riecht. Aus einem Stück Silberpapier dreht sie sich ein Röhrchen, auf ein weiteres schüttet sie die Hälfte des Pulvers. Als sie ein Feuerzeug unter die Folie hält, schmilzt das Heroin und zieht eine kleine Rauchschwadehinter sich her. [...]

Airen: [...] erbsengroße Plastikkugel [...] Schicht um Schicht wickle ich Plastikfolie ab, bis in der Mitte eine gute Messerspitze bräunlichen Pulvers zum Vorschein kommt. Sieht in etwa so aus wie Instant-Tee und riecht säuerlich, wie eine Mischung aus Zigarettenkippen, Müll und Essig. Diacetylmorphin. Dann hole ich Alufolie. Aus einem Stück drehe ich mir ein Röhrchen. Auf ein anderes schütte ich ein Viertel des Pulvers. Sobald ich ein Feuerzeug unter die Alufolie halte, schmilzt das Heroin […] und zieht eine kleine Rauchfahne hinter sich her.

Die Auflistung endet mit dem Hinweis:

"Dieser Roman folgt in Passagen dem ästhetischen Prinzip der Intertextualität und kann daher weitere Zitate enthalten. Der Verlag hat sich bemüht, alle uns bekannten Rechteinhaber zu ermitteln. Sollten dennoch Inhaber von Urheberrechten unberücksichtigt geblieben sein, bitten wir sie, sich mit dem Verlag in Verbindung zu setzen."

Im Roman hat Hegemann den Blogger Airen zwar nicht namentlich genannt, aber doch geich auf den ersten Seiten einen Hinweis auf ihn gegeben - in einem Dialog, der die Aneignung fremder Texte zum Thema macht und  dabei Airen zitiert:

"[...] Berlin is here to mix everything with everything, Alter!"
„Ist das von dir?“
„Berlin is here to mix everything with everything, Alter? Ich bediene mich überall, wo ich Inspiration finde und beflügelt werde, Mifti. Filme, Musik, Bücher, Bücher, Gemälde, Wurstlyrik, Fotos, Gespräche, Träume ...“
„Straßenschilder, Wolken ...“
„...  Licht und Schatten, genau, weil meine Arbeit und mein Diebstahl authentisch werden, sobald etwas meine Seele berührt. Es ist egal, woher ich die Dinge nehme, wichtig ist, wohin ich sie trage.“
„Es ist also nicht von dir?“
„Nein. Von so ’nem Blogger.“

 
Betreff Re: Helene Hegemanns „Axolotl Roadkill“ und die überforderte Literaturkritik
Autor Norbert Kuge
Datum 24.02.2010 12:19
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In der Sache ist in der Erwiderung von Thomas Anz alles gesagt. Nur ein Hinweis zu der Behauptung, dass in der Literaturkritik die Frage nach dem Autor nichts zu suchen habe. Dann hätte man Benjamin Wilkomirskis "Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939 - 1948" nicht kritisieren dürfen. Das wäre in der Tat absurd.