Musik simultanen Geschehens

Über Thomas Pynchons bisher längsten Roman "Gegen den Tag"

Von Heinz IckstadtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heinz Ickstadt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von allen amerikanischen Gegenwartsautoren ist Thomas Pynchon der am wenigsten auf Amerika fixierte. Selbst da, wo sein Romanwerk den USA zu gelten scheint (wie in "The Crying of Lot 49" ["Die Versteigerung von No. 49"], "Vineland" oder "Mason & Dixon"), umfasst der Radius seines Erzählens Aspekte abendländischer Zivilisations-, Wissenschafts- und Kolonialgeschichte. In "Against the Day" (2007; "Gegen den Tag", Rowohlt 2008), seinem sechsten und - mit über 1.000 Seiten (in der deutschen Ausgabe sind es fast 1.600) - bei weitem längsten Roman, erhält dieser Radius insofern auch eine globale Dimension, als die unübersichtlich vielen Handlungsstränge an realen und erfundenen Orten in den USA, Europa und Asien spielen, an den Rändern, aber auch den Krisenherden transatlantischer Geschichte zwischen 1893 (der Weltausstellung in Chicago) und den frühen 1920er-Jahren.

Seine unzähligen Protagonisten - Anarchisten, Kapitalisten, Detektive und Geheimagenten, Wissenschaftler, Gaukler, Weltenbummler sowie ein Hund, der Henry James liest (und Eugene Sue "im französischen Original") - umrunden den Globus von einem Kontinent zum andern. Sie fliehen vor den Häschern des Kapitals, den Spionen und Agenten der Großmächte, flüchten aus den Trümmern des osmanischen Reiches, überqueren per Luftschiff Meer und Eis (oder unterqueren die innerasiatische Wüste auf der Suche nach der mythischen Königsstadt Shambhala). Sie verlangen nach Rache für erlittenes Unrecht oder suchen Transzendenz und Selbstvergessen in der Unendlichkeit der sibirischen Steppe, in der reinen Geistigkeit der Mathematik oder den orgiastischen Freuden der Körperlichkeit. Wie immer bewegen sich Pynchons Figuren zwischen transzendentaler Gespanntheit und sinnesfreudigem "Nur-in-der-Welt-sein". Sie agieren in einer konkret wahrgenommenen Außen/Innenwelt des Begehrens (nach Macht und Unterwerfung oder nach dem Unsichtbaren und dem Wunderbaren); kurz, in einem historischen Raum, der zugleich auch kollektiver Seelen- und Bewusstseinsraum der Epoche ist: ihrer wissenschaftlichen Theorien, ihrer religiösen und literarischen Fantasien, ihrer Träume, Alpträume und Obsessionen.

In den bürgerkriegsähnlichen Konflikten zwischen Arbeit und Kapital in den Minen Colorados, im revolutionsgeschüttelten Mexiko, in der Entfesselung der Elektrizität durch den genialen Nikola Tesla, in grandios-düsteren Fantasien des technologisch Möglichen, in der wissenschaftlichen Erschließung ehemals göttlicher Geheimnisse (des Äthers und des Lichts mit seinen Brechungen und Doppelungen), in alptraumhafter Prophetie des Monsters Megalopolis, in unerklärlichen Begebenheiten (wie etwa dem plötzlichen Einsturz des Campanile von San Marco (1902) oder der mysteriösen Explosion - eines Meteors? - von noch nie gekannter Sprengkraft über Sibirien, dem Tunguska Ereignis von 1908) registriert Pynchons Buch die Erschütterungen von Modernisierung und Moderne, die in der Katastrophe des Ersten Weltkriegs kulminierten.

Entsprechend versteht Louis Menand Pynchons Roman "als eine Art Bestandsaufnahme der Möglichkeiten, die einem bestimmten Augenblick der Imaginationsgeschichte inhärent sind." Doch fragt er auch ironisch: "Was hat sich Pynchon wohl bei all dem gedacht?" Um gleich darauf zu antworten: "Offenbar dachte er, was er meistens denkt: nämlich dass die moderne Geschichte ein Krieg ist zwischen Utopismus und Totalitarismus, zwischen Gegenkultur und Hegemonie, Anarchie und Kollektivismus, Natur und Technik, Eros und Thanatos, Sklaven und Herren, Entropie und Ordnung," (Louis Menand: "Do the Math", "The New Yorker", Nov. 27, 2007).

Auf der Handlungsebene entwirft "Gegen den Tag" ein Netzwerk aus überlappenden und kontrastierenden Geschichten, in dem die Leserin nach kurzer Zeit die Orientierung zu verlieren droht - ein Merkmal der meisten Pynchon-Romane. Denn mit Ausnahme von "Die Versteigerung von No. 49" sind sie monströs in ihrer Materialfülle und ihrer exzessiven Erzählenergie. Gemessen etwa am Formbewusstsein des modernen Romans (etwa eines Henry James) stellen sie ihre formalen "Defizite" offen zur Schau: So wuchern Handlungsstränge, deren "Pfeile alle in verschiedene Richtungen weisen" (wie es in "Die Enden der Parabel" heißt) und bevölkern diese mit Figuren, die nur in Ansätzen den Konventionen des realistischen Romans entsprechen, also keine "Charaktere" sind, sondern "Typen", die wir häufig bereits von anderen Fiktionen kennen - von Romanen, comic books, Filmen oder TV-Serien, selbst von Computerspielen, denn Pynchons Erzählraum ist intertextuell und intermedial. Wie alle seine Romane durchläuft auch dieser ganz unterschiedliche Stil- und Tonlagen: Er mischt mystische Erfahrung und Groteske, das Heilige mit dem Profanen, Burlesk-Satirisches mit Elegisch-Sublimem, Fantastisch-Surreales mit Realistisch-Dokumentarischem (oder auch handfest Pornografischem), setzt komische Gesangsnummern oder unsägliche Kalauer neben abstrakte mathematische Formeln. Und wie seine Vorgänger bildet auch "Gegen den Tag" ein intertextuelles Geflecht aus unterschiedlichen Genres, folgt Sprachgesten und Handlungskonventionen, die dem Western (einem literarischen Produkt der Epoche) verpflichtet sind, der Reise- und Abenteuerliteratur um 1900, Detektiv- und Spionagegeschichten, dime novels oder auch utopischen und science fiction-Romanen à la Jules Verne und H.G. Wells. All dies ist in der Tat "typisch Pynchon", macht seine Signatur aus, und dennoch liest sich "Gegen den Tag" anders als die vorausgegangenen fünf Romane.

Ihm fehlt die metaphorische Verdichtung, die im Falle seiner Vorgänger trotz aller Rätselhaftigkeit den Anschein von Bedeutungszusammenhang suggerierte. Obwohl die Leser mit Rätseln aller Art konfrontiert werden - der Zwang sie zu lösen, scheint deutlich reduziert. Während es also an Geheimnissen durchaus nicht mangelt, ist der Text selbst weniger geheimnisvoll, deshalb auch weniger "schwierig" als seine Vorgänger, - weniger ein Prüfstein für die hermeneutische Kompetenz der Leser als für ihre Bereitschaft, den verwirrenden Raumwechseln und Zeitsprüngen des Textes zu folgen, den Diskussionen mathematischer Theorien oder wissenschaftlicher Spekulationen, der überlangen Sequenz von Handlungsepisoden, deren Umfang und Abfolge oft reichlich arbiträr erscheint. Anders als im Fall von "Die Enden der Parabel", wo die V2-Rakete nicht nur als Fetisch und Inkarnation eines technologisch Sublimen fungiert, sondern auch ein ausuferndes Netz metaphorischer Bezüge generiert, sind die symbolischen Äquivalente dieses Romans (die sublime Physik und Metaphysik des Lichts und der gerade entdeckten wundersamen Kraft der Elektrizität) vergleichsweise diffus und haben weder das integrative Potential der Rakete, noch liefern sie die strukturelle Geschlossenheit (bei aller Offenheit auf der Bedeutungsebene) des unheimlichen Tristero-Systems (in "Die Versteigerung von No. 49") oder der mysteriösen V. im gleichnamigen Roman. Und doch kann man nicht sagen, dass Pynchons neuer Roman keine Struktur hätte. Die Mathematik der nach-Newton'schen Physik, die hier eine hervorgehobene Rolle spielt - wie etwa die Vektoren- und Quaternionen-Theorien der Jahrhundertwende, Bernhard Riemanns Zeta-Funktion oder Hermann Minkowskis Raum-Zeit - fungiert insofern auch als Metapher einer Struktur offenen Erzählens, das den Erzählraum als multidimensionales Raum-Zeit-Kontinuum entwirft.

Wenn überhaupt von einem übergeordneten Erzählmuster die Rede sein kann - abgesehen vom zeitlichen Rahmen von dreißig Jahren erzählter Zeit zwischen 1893 bis 1923, in dem die zahlreichen Episoden und Handlungsstränge in aufgebrochener, doch chronologischer Sequenz platziert sind - dann wäre es das lockere Muster simultanen Geschehens. Dinge ereignen sich zur gleichen (oder fast gleichen) Zeit an unterschiedlichen, doch analogen Orten, etwa in den Bergregionen Colorados und Nordmexikos, des Balkans oder Nordwest-Chinas. Personen, Orte, Situationen und Ereignisse werden so durch ihre Parallelität miteinander in Bezug gesetzt. Zum Beispiel durch den Bezug der Bilokation "welche die im Besitz dieser Gabe Befindlichen befähigt, gleichzeitig an zwei oder mehr oft weit voneinander entfernten Orten zu sein." Die Welt, die wir zu kennen glauben, kann sich in ihrer Spiegel- oder Gegenwelt verdoppeln, - eine Verdoppelung, die durch die doppelte Reflexion des Lichts im klaren Kristall von Islandspat entsteht. Das Erschaffen von Doppel- und Gegenwelten durch die zweifache Brechung des Lichts ist daher auch eine strukturelle Metapher expansiver innertextlicher Vernetzung.

Diese räumlichen Bezüge durch Analogie, Verdoppelung und Bilokation haben Entsprechungen entlang der Zeitachse: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind porös oder verfließen ineinander. Zeitmaschinen erlauben ambivalente Einblicke in die Zukunft, und "Eindringlinge" reisen zurück in die (erzählte) Gegenwart aus Zeiten, die noch im Möglichkeitsfeld der Zukunft liegen. Sie brechen in die Erzählung ein mit ominösen Berichten über eine Zeit, die bereits im Gegenwartsraum lauert (so etwa in den Feldern Flanderns, die bald Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs werden), während die zukunftsgläubigen Protagonisten des Romans nichts von der Katastrophe ahnen, die - wie wir Leser wissen - bald über sie hereinbrechen wird. Wie einer dieser Zeitreisenden aus einer Zukunft berichtet (die der erzählten Gegenwart freilich noch weiter voraus ist als der Erste Weltkrieg): "Wir sind unter Ihnen, weil wir Zuflucht vor unserer Gegenwart - Ihrer Zukunft - suchen - einer Zeit weltweiten Hungers, erschöpfter Brennvorräte, hoffnungsloser Armut - dem Ende des kapitalistischen Experiments. Sobald wir die schlichte thermodynamische Wahrheit begriffen hatten, dass die Ressourcen der Erde begrenzt waren, ja sogar bald zur Neige gehen würden, fiel die ganze kapitalistische Illusion in sich zusammen. Diejenigen von uns, die diese Wahrheit laut aussprachen, wurden als Ketzer verschmäht, als Feinde des vorherrschenden wirtschaftlichen Glaubens. Wie religiöse Dissidenten einer früheren Zeit wurden wir zur Auswanderung gezwungen, und uns blieb kaum eine andere Wahl, als in jene dunkle, vierdimensionale See mit Namen Zeit zu stechen."

Die Adressaten dieser düsteren Botschaft sind die Freunde der Fährnis (die Chums of Chance), Helden einer fiktiven spätviktorianischen Abenteuerserie (die Pynchon wohl nach dem Vorbild der populären Jugendliteratur, den keineswegs fiktiven Tom Swift-Groschenromanen der Epoche, konzipierte). Die Freunde der Fährnis sind wohlmeinende, wenn auch nicht unfehlbare Schutzengel, die ihre Befehle von wechselnden höheren Instanzen erhalten und die mit ihrem Luftschiff den Himmel durchqueren, um das Schlimmste zu verhüten. Anders als ihre Antagonisten, die tief pessimistischen "Eindringlinge" aus der Zukunft, sind die Freunde der Fährnis überwiegend Optimisten mit kindlichem Vertrauen in den allgemeinen Fortschritt ihrer Zeit. Nicht zufällig beginnt und endet der Roman mit ihnen.

In diesem narrativen Labyrinth von Handlungssträngen bewegen sich die Protagonisten wie in einem nichtlinearen Feld multidimensionaler Raum-Zeit, angezogen oder angestoßen von Kräften, die sie nicht (be)greifen können. Die Handlungslinien, die sie bilden, entstehen aus einer Sequenz von Erfahrungsmomenten oder Ereignissen - Schaltstellen, die verdeutlichen, dass Kehrtwendungen und alternative Richtungen durchaus möglich sind (oder gewesen wären). Die Protagonisten sind in gewisser Hinsicht selbst Vektoren, die den Antrieben folgen, die ihre Lebens- und Handlungslinien bilden, - auf Wegen, die sich manchmal kreuzen, manchmal aufeinander zu- oder auch nebeneinander herlaufen: "Man könnte sich es als riesiges Eisenbahndepot vorstellen, von dem Tausende Gleise radial in alle Dimensionen führen, in alle möglichen alternative Verläufe von Geschichte."

Pynchons Protagonisten fungieren in diesem Sinne als postrealistische "Vektoren", dass heißt als Figuren, die primär durch Bewegung und Richtungswechsel definiert sind. Die Eigenschaften, die "stabil" bleiben, auch wenn ihre Besitzer die Richtung wechseln, sind entsprechend "Eigenwerte". Die Diskussion von "Eigenwerten" bildet den Teil einer heftigen Debatte über Riemanns und David Hilberts Theorien in Göttinger Mathematikerkreisen. Obwohl diese Debatte nichts mit der herkömmlichen Vorstellung von Charakter zu tun hat, ist ihre Terminologie offensichtlich von ihr abgeleitet - so wie diese auch umgekehrt Ideen assoziiert, die jenseits der Mathematik liegen: "Da ist auch" argumentiert die Mathematikstudentin Yashmeen Halfcourt mit ihrem Lehrer Hilbert, "dieses Rückgrat der Wirklichkeit." Aber was bedeutet "Eigenwert" und "Rückgrat von Wirklichkeit" in der multidimensionalen Welt erzählter Raum-Zeit?

Im ersten Teil des Buches klagt eine der vielen Randfiguren, dass "im Gefüge der Welt ein schweres Ungleichgewicht eingetreten sei, das korrigiert werden müsse." Die Frage der Gerechtigkeit könnte in der Tat jenes "Rückgrat der Wirklichkeit" sein, an dem entlang sich der Gang der Menschheitsgeschichte entfaltet und durch das alle Protagonisten auf die eine oder andere Weise definiert sind: als Täter, als Opfer oder Rächer, als Propheten der Veränderung oder als Welt- und Geschichtsflüchtige. Im selbstparodistischen Spiel mit den ideologischen Grundmustern seiner früheren Romane setzt Pynchon die Macht des Kapitals - verkörpert im Großkapitalisten Scarsdale Vibe und seinen Handlangern - gegen die Ohnmacht derer, die sich ihm entgegen stellen, manifest im Schicksal des Bomben legenden Anarchisten Webb Traverse, den Vibe umbringen lässt und den Webbs Söhne Reef, Frank und Kit mit nachlassender Intensität zu rächen versuchen. Dabei steht der Erzähler deutlich auf der Seite der Verlierer, die, wie die Traverses (deren Name Programm ist), Identität nur im Übergang finden.

Kit, der jüngste und begabteste von Webbs Söhnen, entdeckt seine Leidenschaft für Mathematik und Physik, als er Tesla trifft, der gerade seine bahnbrechenden Experimente mit Wechselstrom und elektrischer Hochspannung in Colorado Springs durchführt. Scarsdale Vibe, Teslas Sponsor, "kauft" das wissenschaftliche Talent Kits, indem er ihm das Studium in Yale bei Gibbs finanziert. Nach Gibbs' Tod geht Kit auf Rat Teslas zu Hilbert nach Göttingen. Von dort beginnt er eine lange Reise ostwärts, auf der Flucht vor dem Zugriff Vibes und auf der Suche nach "einem reineren Zustand", die ihn bis zu den Flaming Mountains im Nordwesten Chinas führt. Andere Protagonisten treffen andere Entscheidungen. Cyprian Latewood zum Beispiel, einer der vielen Geheimagenten des Romans, der - obwohl Homosexueller mit ausgeprägtem Hang zum Masochismus - die schöne und geheimnisvolle Yashmeen liebt, eine Studienkollegin Kits in Göttingen.

Cyprian trifft sie und ihren derzeitigen Liebhaber, Kits Bruder Reef, in Venedig. Während des Karnevals - mit seinen rituellen Grenzüberschreitungen, seinen Umkehrungen von Rollen und Positionen - gehen sie eine komplexe Beziehung ein, die alle drei verändert. Es ist Yashmeens freier Geist, der konventionelle Regeln fantasievoll außer Kraft setzt, und deren Intensität dem sexuellen Dreierspiel eine tiefere Dimension gibt. Sie hat die Unbedingtheit ihrer Hingabe an die abstrakte Reinheit Riemann'scher Mathematik gleichsam vom Geistigen auf das Körperliche verlagert. Den "unschuldig gläubigen Gesichtsausdruck", den Cyprian wahrnimmt, wenn sie sich auf Zahlen und Funktionen konzentriert, ist auch jener "Heiligenbild-Blick", den er sieht, wenn Reef sie zum Orgasmus bringt. Aus der Verbindung resultiert eine Schwangerschaft, an der auch Cyprian auf komplizierte Weise beteiligt ist.

Nach der Geburt des Kindes verlässt Cyprian die beiden und wird Mönch in einem der abgelegenen Bergklöster Thrakiens. Yashmeen und Reef bietet jedoch der Nomadenstatus die Möglichkeit, zugleich in der Welt zu sein, doch nicht an ihr zu haften. Auf ihrer Flucht aus den Wirren des Balkankrieges von 1912 bilden sie und ihr Kind eine "Heilige Familie" anarchistischen Nomadentums - während zur gleichen Zeit in den Bergzügen von Süd-Colorado Reefs Bruder Frank seine eigene Familie gründet. Beide kommen schließlich zusammen und bilden den Kern einer anarchistischen Gemeinschaft, die "getrieben von [Reefs] alten Glauben an den westwärts gerichteten Vektor" (1581), nach Westen zieht und deren sichtbares utopisches Potential das "Kind" ist.

Kann das "Rückgrat der Wirklichkeit", die Wirklichkeitskonstante in der multidimensionalen Raum-Zeit, auch als ethische Konstante betrachtet werden, die "Eigenwert" definiert? Die Protagonisten, denen Eigenwert zugesprochen werden könnte (das heißt jene, die beständig sind und dennoch in Bewegung), sind die Mystiker, die Sucher nach einer besseren Welt; aber auch die Nonkonformisten und Neinsager gegenüber dem, was und wie sie ist. Während die Gruppe der Widerständigen in ihren Zielsetzungen säkular ist, sind die Mitglieder der ersten Gruppe religiös in ihrer Sehnsucht nach einem Gott, der entweder verschwunden ist oder nur in "Visionen des Unvermuteten" erscheint oder sich auf ganz unterschiedliche Weise "im Licht des Tages" verborgen hält.

Wenn es eine Entwicklung in der persönlichen Geschichte der Sucher gibt, dann ist es die Bewegung weg von allem Ersatz für verlorene Transzendenz (seien es die abstrakten Religionen der Wissenschaft, der Mathematik oder der Technologie) und ihre Zuwendung zu jenem flüchtigen Aufleuchten, jenen "Zufallsbegegnungen" mit "Gottes unsichtbarer Welt", die sich durch den Körper und über die Sinne offenbart. Dieser Richtungswechsel im Verlauf individueller Lebensgeschichten findet ein Echo auch auf der symbolischen Ebene. Die zentrale Metapher des Lichts wird mit Momenten mystischer Erfahrung assoziiert, mit der Offenbarung des Göttlichen in den "Brüchen der Schöpfung": wie etwa in der atemberaubenden Macht der Elektrizität oder dem apokalyptischen Tunguska Ereignis. Wie alle Erscheinungen des Wunderbaren sind jedoch auch diese nur flüchtige Augenblicke, die dem ständigen Sog des Alltäglichen erliegen.

Die Absorbierung des Außergewöhnlichen in den Bereich des Gewöhnlichen ist das Kennzeichen des Modernisierungsprozesses, der einen enormen Schub durch die industrielle Produktion elektrischer Energie erhielt. Elektrizität hat die Nacht in Tag verwandelt und das einmal Wunderbare in das Normale und Selbstverständliche: die nächtliche Beleuchtung der Städte, die täglichen Segnungen des Wechselstroms, die drahtlosen Verbindungen von einem Kontinent zum andern. Als die Freunde der Fährnis den amerikanischen Kontinent westwärts in Richtung Kalifornien überfliegen, wird ihnen deutlich, "wie viel stärker als früher das unter ihnen vorbeiziehende Terrain mit Licht behaftet ["infected" im Original, also eher: infiziert] ist". Der Sieg des Lichts über die Dunkelheit wird daher auf paradoxe Weise assoziiert mit dem Fürsten der Finsternis, der allerdings auch "Luzifer, Sohn des Morgens, Lichtbringer..." genannt wird.

Wenn dies paradox ist, indiziert es andererseits auch eine Gleichgewichtung. Gegenüber einem Zuviel an Licht wirkt das Dunkle als heilsame Gegenkraft. Je dominanter das Licht, desto eher kann die Dunkelheit zur geheimnisvoll-faszinierenden Gegenwelt werden. "Gegen den Tag" sein, scheint so vor allem Widerstand gegen den westlichen Kult von Licht und Aufklärung zu implizieren, doch ist der Gegensatz weniger scharf, als es den Anschein hat. Das macht bereits der Aphorismus von Thelonius Monk deutlich, den Pynchon seinem Roman voranstellt: "It's always night, or we wouldn't need light" ("Es ist immer Nacht, sonst bräuchten wir das Licht nicht"). Obwohl Monk augenzwinkernd dem Dunklen/Schwarzen mehr Gewicht einräumt als weißer Helligkeit, betont er doch, wie notwendig beide sind. Die Metaphern von Licht und Dunkelheit geben so auch dem Titel des Romans mehrere Bedeutungen. Wenn wir "gegen" als Terminus von Widerstand verstehen, dann mag die Annahme des Dunkeln in der Tat helfen, sich dem zu widersetzen, was den Tag beherrscht. Wenn jedoch "gegen" als Richtung weisendes "Entgegen" oder als vorsorgendes "Für" verstanden wird, dann wird der Tag auch Ziel. Sich "gegen den Tag" zu bewegen, schließt daher die Annahme des Alltäglichen (dessen lebenserhaltenden Rituale und Gewohnheiten) nicht aus. Weiter enthält es die vorbereitende Erforschung dessen, was "das Halbdunkel der Zukunft" noch bringen könnte: einen Tag der Rettung oder auch der Abrechnung. Darauf scheint der Titel Bezug zu nehmen, der dem zweiten Petrus-Brief entnommen ist: "Die jetzigen Himmel aber und die jetzige Erde sind durch dasselbe Wort für das Feuer aufgespart und aufbewahrt für den Tag [against the day] des Gerichts und des Verderbens der gottlosen Menschen." (2 Petrus: 3,7) Die Implikationen des Titels verbinden so Widerstand gegen die Welt, wie sie ist, mit dem Erkunden eines reichen Spektrums des noch (oder nicht mehr) Möglichen, Fantastischen und Wunderbaren.

Entsprechend sind es die Freunde der Fährnis - jene immer hoffnungsvollen, doch langsam alternden Helden der Lüfte - die den Roman beschließen, wenn auch nicht zu Ende bringen. Auf den letzten Seiten heiraten sie nicht nur glücklich-trivial eine komplementäre Mannschaft fliegender junger Frauen, sondern ihr Luftschiff ist inzwischen auch auf die Größe einer Kleinstadt angewachsen und zu einer sich selbst genügenden Welt geworden. Sich gegen ein Zuviel an Licht schützend, indem sie ein gewisses Maß an Dunkelheit willkommen heißen, fliegen die Freunde der Fährnis mit kindlichem Vertrauen "gegen den Tag" und einem ungewissen Schicksal entgegen: "Doch sie wissen", so endet der Roman, "dass es irgendwo ist, wie ein heranziehender Regensturm, nur unsichtbar. Bald werden sie bemerken, dass die Messgeräte einen Druckabfall anzeigen. Sie werden spüren, wie der Wind dreht. Sie werden die geschwärzten Brillen aufsetzen, um die Herrlichkeit sehen zu können, die den Himmel zerreißen wird. Sie fliegen der Gnade entgegen."

Wenn wir uns noch an das Urteil der Eindringlinge über die Freunde der Fährnis und ihren "rührenden Ballonjungen-Glauben" erinnern, stellt sich die Frage, ob solche "Gnade" tatsächlich ein Segen ist oder doch nur eine von vielen optimistischen Fehleinschätzungen und Selbsttäuschungen. Und doch scheint die Annahme nicht abwegig, dass das Luftschiff "Inconvenience" - wie der Ballon in Donald Barthelmes gleichnamiger Kurzgeschichte - am Ende des Romans zu einer Metapher für das ganze narrative Unternehmen Thomas Pynchons geworden ist. Indem er "gegen den Tag" schreibt, verwandelt er sein Buch in eine Arche Noah des Imaginären und Imaginierbaren, in eine fantastische Gegenwelt, welche die reale in sich aufnimmt, bewahrt und übersteigt.

Jene gefährliche und chaotische Offenheit dessen wiederzugewinnen, was einmal Erfahrungsaugenblick in einer noch unbegradigten und noch unentschiedenen historischen Gegenwart war - dies ist ein Aspekt von Pynchons Schreiben "gegen den Tag". Ein anderer ist die prinzipielle Annahme der Welt gegen besseres Wissen, selbst wenn ein solcher Glaubensakt nur mit Ironie und/oder Sentiment aufrechterhalten werden kann. In seinem Vorwort zu George Orwells "Nineteen Eighty-Four", scheint Pynchon sich in einer vergleichbaren Geste Orwells wieder zu erkennen, wenn er eine Fotografie kommentiert, die Orwell 1946 mit seinem Adoptivsohn zeigt:

"Es lässt sich unschwer vermuten, dass Orwell in 1984 eine Zukunft für die Generation seines Sohnes entwarf, - eine Welt, die er ihr freilich nicht wünschte, sondern vor der er sie warnen wollte. Er hatte wenig Geduld mit Voraussagen des Unvermeidlichen, er vertraute der Fähigkeit einfacher Leute, Dinge zu verändern, wenn sie es nur wollten. Es ist jedenfalls das Lächeln des Jungen, dem wir uns immer wieder zuwenden, dieses direkte und strahlende Lächeln, aus dem der ungebrochene Glaube spricht, dass die Welt letztendlich gut ist und dass menschliche Anständigkeit, wie Elternliebe, immer vorausgesetzt werden kann - ein Glaube, der so ehrenwert ist, dass wir uns beinah vorstellen können (wenigstens einen Augenblick lang), dass Orwell (und vielleicht auch wir selbst) schwören, alles zu tun, damit dieser Glaube nie betrogen wird", so Pynchon in seiner Einführung zu "1984" aus dem Jahr 2003.

Es ist dieses Urvertrauen, das den Riesenballon von Pynchons Erzählwelt antreibt, der - wenn er auch die reale Welt nicht ändern oder gar ersetzen kann - dennoch hoch genug über ihr schwebt, um als Gegenteil noch Teil von ihr zu sein; der sich gegen den Tag und doch auch in ihm und mit ihm bewegt.

Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren haben dieses monströs lange und unüberschaubare Buch in bemerkenswert kurzer Zeit auf eine Weise übersetzt, die der Vielzahl seiner sprachlichen Herauforderungen (seinen verschiedenen Diskursen und Idiolekten, den häufigen und abrupten Tonlagewechseln) bewundernswert gerecht wird.


Titelbild

Thomas Pynchon: Gegen den Tag. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008.
1595 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783498053062

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