Ein authentischer Diebstahl

Der Fall Helene Hegemann und die Authentizität

Von Antonius WeixlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Antonius Weixler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Helene Hegemanns Debütroman „Axolotl Roadkill“ ist schon einen Monat nach seinem Erscheinen zu einem literaturgeschichtlich bedeutenden Buch geworden. Dies nicht zuletzt deshalb, da es sich offensichtlich um ein Grenzphänomen handelt, das eine Kontroverse ausgelöst hat und, vielleicht das Erstaunlichste, als Provokation wahrgenommen wird. Eigentlich ist es doch ganz schön zu sehen, dass Provokationen auch 2010 noch möglich sind. Bezeichnend für den nun plötzlich konstruierten „Nullerjahre“-Generationsbegriff ist aber nicht so sehr der literarische Text „Axolotl Roadkill“ selbst. Ebensowenig bedeutend erscheint es, dass die Provokation nicht etwa durch die Gewaltfantasien der Figuren hervorgerufen würden, die, durchaus zweifelhaft, pädophile Vergewaltigungsexzesse an einem 6-jährigen Kind einschließen – nein, diese Textstellen werden von der Kritik sogar als besonders gelungen, „kokett“, „wild“ und „radikal“ gefeiert –, sondern dass die Provokation das Copyright und geistige Eigentum betrifft. In einem Jahrzehnt, in dem das Internet in der nonchalanten und sympathischen Nutzungsart durch Privatleute, aber auch in der aggressiven und sehr unsympathischen Machtgier von Google und Co. einen beständigen Angriff auf das geistige Eigentum von Kulturschaffenden darstellt, darf ein Verteidigungsimpuls in der Debatte nicht vernachlässigt werden: Wenn in der Figur Mifti und in der Autorperson Helene Hegemann die Hochkultur Literatur nun einmal zurückschlägt, dann hat das Internet in den Augen mancher Kritiker dies auch nicht anders verdient.

In der etwas heiß gelaufenen und dadurch auch zunehmend irrationaler werdenden Debatte um Helene Hegemanns Roman wird immer wieder auf den Begriff der Authentizität als Urteilskriterium rekurriert. Zunächst als authentische Stimme der heutigen Jugend gefeiert, wird nun die Unaufrichtigkeit der Autorin kritisiert, die Drogenschilderungen so nicht erlebt zu haben. Ein genauerer Blick auf Aspekte der Authentizität kann im Folgenden dazu dienen, die Diskussion etwas zu entwirren. Authentizität tritt stets als Synonym für Originalität und Innovation, für Wahrhaftigkeit und Echtheit auf. Sie ist zudem ein Substitutionsphänomen für die Autorinstanz und für die Beglaubigung durch eine solche. Authentizität wird immer dann herangezogen, wenn es gilt, moralische und/oder ästhetische Urteile zu fällen. Und, wie Helmut Lethen schreibt, über alle Epochen und Medien hinweg bleibt „Sehnsucht […] ihr erstes Merkmal“. Ja, vielleicht wäre als Diagnose für unser erstes 2000er-Jahrzehnt noch anzufügen, dass je hybrider und digitaler unsere Welt, die Künste und ihre Gattungen werden, desto größer wird auch die Sehnsucht nach dem Authentischen. Und wie es mit Sehnsüchten so ist, desto unerreichbarer.

Um die verschiedenen Authentizitätskonzepte der Hegemann-Kontroverse zu verstehen, sollte man zunächst zwischen Urheberrecht und Ästhetik unterscheiden. Rechtlich (und man könnte hinzufügen: editionsphilologisch) ist der Fall am klarsten. Hegemann hat abgeschrieben und dies auch zugegeben, die Originaltextstellen wurden ermittelt und inzwischen auch kenntlich gemacht. Nicht alle Textstellen stammen also originär von der Autorin. Ein Diebstahl geistigen Eigentums wurde begangen und eingeräumt. In der vierten Auflage des Romans wie auf der Homepage des Ullstein-Verlages werden die übernommen Stellen akribisch aufgelistet. Nicht alle Textstellen sind originär Hegemann, der Text „Axolotl Roadkill“ als Gesamtes aber ist ihr eigener. Mit dieser Diagnose könnte das Feuilleton eigentlich nun aufhören Hegemann gegen ihre Kritiker zu verteidigen, und die Kritiker könnten aufhören, Hegemann zu verurteilen. Der Fall kann editionsphilologisch aufgearbeitet werden, und das germanistisch-gründlich. So weit, so klar.

Der Authentizitätsbegriff und seine Substitute werden indes immer auch dann herangezogen, wenn es gilt, ein Werturteil zu fällen, also eine moralische oder – in diesem Zusammenhang ist dies kaum voneinander zu trennen – ästhetische Aussage zu treffen. Eine der „Frontlinien“ in der Debatte verläuft einerseits entlang der Positionen rund um eine poststrukturalistische Schreibstrategie der Web-2.0-Generation und der „sharing-Kultur des Internets“ (Felicitas von Lovenberg, FAZ) mit Roland Barthes’ Verdikt vom „Tod des Autors“ und andererseits der „Rückkehr des Autors“ (Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez und Simone Winko; in der Hegemann-Debatte aktuell angeführt unter anderem von Thomas Anz), die zwangsläufig zum Diebstahls- und Plagiatsvorwurf führt. Interessant dabei ist, dass sämtliche Kritiker, die sich auf Positionen des Poststrukturalismus beziehen, selbst einem klassischen und konventionellen Autorenbegriff anhängen. Warum würden sie sonst beständig von „Wunderkind“ (Tobias Rapp, Spiegel), vom „blutjungen Originalgenie“ (Andreas Kilb, FAZ) sprechen? Das Alter der Autorin, ja noch nicht einmal ihr Name und schon gar nicht biografische Details dürften dann eine Rolle in der Diskussion spielen. Doch das Alter der 17-Jährigen ist ein gebetsmühlenhaft wiederholtes Attribut. Am Alter der Autorin hängt indes nicht weniger als die Beurteilung eines originellen Textes. Als Roman einer 17-Jährigen ist „Axolotl Roadkill“ in der Tat erstaunlich und außergewöhnlich. Poststrukturalistisch und unabhängig vom Autorsubjekt betrachtet, müsste man ihm dieses Urteil zu weiten Teilen absprechen, denn dann gibt es bessere und originellere Texte.

Ein andere Trennlinie der Debatte verläuft zwischen authentischer Generationsaussage, originellen und klugen Sätzen in einem ganz neuen und eigenen Stil auf der einen Seite sowie Mangel an „genuiner Autorschaft“ (Bernd Graff, SZ) und notwendigem Plagiat aus „substantiellem Mangel an Erfahrung“ (Thomas Steinfeld, SZ) auf der anderen Seite. René Pollesch wird im Nachwort explizit gedankt, die biografischen Überschneidungspunkte der Hegemanns mit der Berliner Volksbühne sind inzwischen allgemein bekannt. Helene Hegemann hat an der Volksbühne die sehr postmoderne Arbeitsweise kennengelernt, Literatur, Theater und Medien lediglich als Materiallieferanten zu verstehen: Der Volksbühnen-Sprech ist „Axolotl Roadkill“ deutlich anzumerken. Der Roman wäre dann aber mitnichten eine Sensation, sondern nur ein weiteres Exemplar des Volksbühnen-Produktionskollektivs. Dieser Zwickmühle ist nicht zu entkommen: Um dem Roman Außergewöhnlichkeit zu bescheinigen, bedarf es des Rekurses auf das Autorsubjekt „Helene Hegemann“. Dann aber hat sie plagiiert. Beruft man sich auf den Poststrukturalismus oder avantgardistische Internet-Generationsmodelle, muss man dem Roman seine Außergewöhnlichkeit absprechen. Tertium non datur?

Ein dritter Weg besteht darin, jenseits von poststrukturalistischen Gedankenmodellen, die nie gänzlich erreicht wurden und werden, ganz neutral das Entstehen immer neuer hybrider Gattungen zu konstatieren. Auf Remix und Mashup, Collage und Bricolage, Sampling, Dokufiction und Infotainment lassen sich herkömmliche Kategorien wie Fiktion und Fakt, Autor und Werk nur noch bedingt anwenden. Eine weitere Rechtfertigung zeigt die historische Einordnung der Vorstellungen vom Autor und der damit verbundenen Originalität durch Autorisation: Dies ist eine Vorstellung, die nach der Etablierung der Genieästhetik im späten 18. Jahrhundert bereits mit Beginn der Historischen Avantgarden um 1900 schon wieder überwunden wurde. Umso erstaunlicher ist das Fortbestehen dieser Vorstellung auch in der gegenwärtigen Diskussion, die eine völlig irrationale Sehnsucht nach dem Autor und seiner Autorisation offenbart.

Von Helene Hegemann wird neuerdings denn auch die Intertextualität ins Feld ihres Rechtfertigungskampfes geführt. Julia Kristevas bekanntes Diktum besagt: „Jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache lässt sich zumindest als eine doppelte lesen.“ Als intertextueller Text ist „Axolotl Roadkill“ großartig und ein Genuss. Wenn die Debatte um „Axolotl Roadkill“ eines offenbart, dann die eigentlich wenig überraschende völlige Unvereinbarkeit der Theorie der Intertextualität mit dem deutschen Urheberrecht.

Aber auch die andere Seite hängt einem überkommenen Konzept an: einem naiven Authentizitätskonzept, das lediglich synonym für das Autorsubjekt steht. Bei faktualen Erzählungen kann man sich über die Wahrhaftigkeit und Echtheit der präsentierten Fakten streiten, bei fiktionalen Romanen verbietet sich diese Diskussion. Es ist folglich egal, ob Helene Hegemann die Sex- und Drogengeschichten selbst erlebt hat und sie demnach als authentische Beschreibungen anzusehen sind, oder nicht. Man kann nicht ihren „Mangel an Erfahrung“ kritisieren. Aus der Perspektive von Mifti, der Ich-Erzählerin in „Axolotl Roadkill“, sind es authentische Schilderungen, auch wenn sie von der Autorin Hegemann auf fantastische Art und Weise erfunden (oder auf weniger fantastische Art irgendwo abgeschrieben) worden sind. Der Ruf nach Authentizität offenbart hier eine Sehnsucht, die fiktionale Gattungen nie und selbst faktuale nur als Idealvorstellung erreichen. Der beleidigte Stolz, der nun vielen polemischen Kritikerstimmen anzumerken ist, hängt wohl auch damit zusammen, einem naiven Authentizitätsbegriff auf den Leim gegangen zu sein. Sehr geschickt spielt Hegemann in ihrer Pressemitteilung denn auch verschiedene Authentizitätssynonyme gegeneinander aus: „Originalität gibt’s sowieso nicht, nur Echtheit.“ Ob man den Text als echte und damit authentische Lebenserfahrung einer 17-Jährigen im Berlin der Nullerjahre ansehen möchte, ist indes eine subjektive Entscheidung. Befremdlich sind in diesem Zusammenhang lediglich die sich beständig wiederholenden und dadurch auch schon wieder höchst konventionellen und langweiligen Geschmacksurteile der Feuilletonkritiker. Warum werden eigentlich immer solche Texte als authentische Generationsäußerungen bezeichnet, die möglichst derb und krass Sex- und Drogenexzesse beschreiben? Ist das wirklich immer wieder neu und authentisch? Hier sagt das Urteil wohl mehr über den Urteilenden als über das Werk.

Authentizität als Begriff für unmittelbare, echte, wahre und wahrhaftige (und im Gegensatz zu abgeschriebenen, plagiierten, manipulierten) Äußerungen eines Autorsubjekts verweist auf den Aspekt der Referenz zum wirklich Erlebten und damit auf Zeugenschaft. Eine feine Ironie der ganzen Text- und bisherigen Rezeptionsgeschichte von „Axolotl Roadkill“ liegt im Zusammenhang von Giorgio Agambens Theorie der Zeugenschaft, der expliziten Nennung Agambens im Text sowie zuletzt in Hegemanns in der Harald-Schmidt-Show eingestandener völliger Unkenntnis des Werkes Agambens. So viel Frechheit muss von Bildungsbürgern als Provokation empfunden werden. Doch kann sich eine Authentizitätszuschreibung nach Susanne Knaller und Harro Müller auch retrospektiv auf ein Kunstwerk beziehen: Warum also sollte das Werk „Axolotl Roadkill“ nicht klüger (und damit authentischer) als seine Autorin sein?

Etwas anders verhält es sich freilich damit, dass der Text „Axolotl Roadkill“ einerseits trotz seiner paratextuellen Kennzeichnung als fiktionaler Roman einen, nach Philippe Lejeune, „autobiographischen Pakt“ mit dem Leser und damit Authentizität, eine scheinbare Identität von Erzählerin und Autorin, suggeriert. So sucht Mifti den biografischen Schulterschluss mit der Autorin: „Ich persönlich würde mich wirklich freuen, wenn Sie als Publikum in diesem geschilderten Abend etwas Brauchbares finden, das über das Individuell-Psychologische der Autorin hinausgeht.“ Und an anderen Stellen wird der literarische Text „Axolotl Roadkill“ mal als „Tagebuch“, mal als „Tagebuchkram“ bezeichnet. Andererseits spart der Text aber auch nicht mit Hinweisen auf seine galvanische Gemachtheit:

„Berlin is here to mix everything with everything, Alter!“
„Ist das von dir?“
„Berlin is here to mix everything with everything, Alter? Ich bediene mich überall, wo ich Inspiration finde und beflügelt werde, Mifti. Filme, Musik, Bücher, Gemälde, Wurstlyrik, Fotos, Gespräche, Träume …“
„Straßenschilder, Wolken …“
„… Licht und Schatten, genau, weil meine Arbeit und mein Diebstahl authentisch werden, sobald etwas meine Seele berührt. Es ist egal, woher ich die Dinge nehme, wichtig ist, wohin ich sie trage.“
„Es ist also nicht von dir?“
Nein. Von so’ nem Blogger.“

Hegemann begeht also, hier in den Worten der Figur Edmond, einen authentischen Diebstahl am Blogger Airen. Der Diebstahl ist im doppelten Sinne authentisch: Zum einen ist er als Diebstahl authentisch, da er sich wirklich ereignet hat, zum anderen ist das geklaute Material authentisch, da es sich in seiner Referenz auf tatsächlich von Airen erlebte, historisch benennbare Ereignisse bezieht. Durch den Diebstahl hat auch die „Arbeit“ Hegemanns an dieser Referenzauthentizität teil. Zugleich leidet damit jedoch die Autor-Authentizität, da Hegemann diese eben nicht selbst erlebt hat. Das Material, die Inspiration, muss durch die „Seele“ hindurchgeschleust werden, um zur originären Äußerung der Autorin Hegemann zu werden. Oder in Hegemanns Worten: um nicht Originalität, sondern Echtheit zu erreichen. Die Anrufung der Neuen Medien ersetzt in diesem Zitat („meine Seele berührt“) die antike Anrufung der Musen.

Matías Martínez unterscheidet vier Bedeutungsaspekte von Authentizität: Autor, Referenz, Gestaltung und Funktion. Die Autor-Authentizität verweist auf die Zeugenschaft und muss für die fiktionale Gattung Roman nicht vorhanden sein. Dass dies dennoch zu ästhetischen Urteilen führt, zeigen die beleidigten Kritiker, die Hegemann vorwerfen, die Sexgeschichten nicht selbst erlebt zu haben. Die Referenz-Authentizität wird durch den Text-Diebstahl sogar erst ermöglicht. Im Bereich der Gestaltung wird Authentizität paradoxerweise oftmals durch besonders artifizielle Kunstformen erzeugt. So bezeichnet Rainald Goetz seine Poetik etwa als „konstruierte Authentizität“, Manfred Hattendorf spricht in einem anderen Zusammenhang von „Authentizitätsfiktionen“. „Axolotl Roadkill“ könnte demnach gerade durch die Vielperspektivität und Vielstimmigkeit des zusammengeklau(b)ten Materials ein authentisches Kunstwerk der Internet-Generation sein. Von diesem Urteil wiederum hingen dann auch die Funktion und das Prestige des Textes ab.

Der literarische Text „Axolotl Roadkill“ erzeugt ein Spannungsfeld zwischen der Authentizität des suggerierten „autobiographischen Pakts“ und den durchaus auch vorhandenen Anspielungen auf die Mix-Art des „authentischen“ Diebstahls. Betrachtet man die schiere Masse allein der Airen-Übernahmen, die Verteidigungsgesten in den Presseerklärungen und den Anhang der vierten Auflage, muss man die Intentionalität der kolportierten Intertextualität jedoch als eine nachträgliche, bloß rechtfertigende bezeichnen. Dieser fade Beigeschmack der nachträglichen Intentionalität wird bleiben. Bei allem Talent, das Helene Hegemann, und allem Reiz, der dem Text „Axolotl Roadkill“, nicht abzusprechen ist. „Talent borrows, geni[o]us steals.“

Anmerkung der Redaktion: Beiträge und Hinweise zu der Debatte über Helene Hegemanns Roman enthält unser Kulturjournal.

Titelbild

Helene Hegemann: Axolotl Roadkill. Roman.
Ullstein Verlag, Berlin 2010.
203 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783550087929

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