Immigration – wirklich nichts Neues

Grundsätzliches zum Einwanderungsland Deutschland

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein schön aufgemachter Sammelband mit Beiträgen von nicht weniger als 46 Experten verspricht Aufklärung über das in der Tagespolitik nach wie vor virulente und immer wieder gern zu polemischen Zwecken benutzte Themenfeld „Deutschland als Einwanderungsland“. Knapp 16 der rund 82 Millionen in Deutschland lebenden Menschen haben einen sogenannten Migrationshintergrund, was einem Anteil von 19,5 Prozent an der Gesamtbevölkerung entspricht – wobei über Fakten wie diese gleich gesagt sei, dass sie spätestens den Stand des Jahres 2012 wiedergeben konnten. Manche Zahlen sind sogar erheblich älter. Das ist einerseits unvermeidlich, andererseits sehr zu bedauern. Aber es geht ja nicht allein um Faktenwissen und Zahlenmaterial, sondern ebenso um grundlegende Begriffe sowie sozialwissenschaftliche Präzisierungen zu den zahlreichen Kontroversen um die Themen „Migration“ und „Integration“. Im Vorwort heißt es zu Recht: „Viele Begrifflichkeiten aus diesem Bereich sind jedoch nicht immer geläufig oder werden nicht immer trennscharf benutzt.“ Hier möchte das Buch Abhilfe schaffen, wobei es den Herausgebern insbesondere „um die Pointierung, um die konzentrierte Zusammenschau und um die verständliche Darstellung für ein breites Publikum“ geht. In seiner Einleitung stellt Karl-Heinz Meier-Braun zusammenfassend fest, dass die Integration von Menschen aus anderen Ländern in Deutschland „besser als ihr Ruf“ ist und, allen Sarrazin-Debatten zum Trotz, einigermaßen funktioniert, selbst wenn die Deutschen nach wie vor eine „widersprüchliche Haltung zur Zuwanderung“ haben. Diese verhalten optimistische Sicht auf das Thema zieht sich durch das ganze Buch.

Die Darstellung beginnt mit Ausführungen zu „Grundlagen und Geschichte“ des längst unumkehrbar gewordenen Phänomens der Einwanderung, das vor allem in den letzten vier Jahrzehnten Menschen aus fast aller Welt nach Deutschland gebracht hat. Hier wird der Begriff „Migration“ genauer erläutert, es werden die wichtigsten „Migrationstheorien“ in Grundzügen vorgestellt, man kann sich über die Geschichte der Zuwanderung in die Bundesrepublik und in die DDR informieren, und auch die Auswanderung aus Deutschland wird nicht vergessen: „Deutschland war in seiner Geschichte meist Ein- und Auswanderungsland zugleich. Heute gilt dies in besonders starkem Maße.“ Im zweiten großen Abschnitt geht es dann um die für den Zeitraum von 1950 bis heute bedeutendsten „Zuwanderergruppen“, zunächst um die Migranten aus Italien, Spanien, Griechenland und der Türkei, aus dem ehemaligen Jugoslawien, Portugal und Polen, dann aber auch um die Spätaussiedler aus Osteuropa, die jüdischen Kontingentflüchtlinge, um Sinti und Roma, um die Asylbewerber und politischen Flüchtlinge sowie um „irreguläre Migranten“. Hier wird mit so mancher Fehleinschätzung aufgeräumt, zum Beispiel mit der weit verbreiteten Meinung, die strukturelle Integration italienischer Zuwanderer in Deutschland sei schon immer unproblematisch gewesen und stets glücklich verlaufen. Politisch brisant ist die Feststellung: „Zuwanderer aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawien spielen […] bis heute zumindest finanziell eine entscheidende Rolle, was die finanzielle und wirtschaftliche Stabilität ihrer Herkunftsregionen angeht.“ Dass polnische Immigranten von allen Zuwanderergruppen am besten gebildet sind, die meisten Kontakte zu Einheimischen haben und über das höchste Erwerbseinkommen verfügen, ist nicht überall bekannt. Mit kritischen Bemerkungen wird in diesem Abschnitt nicht gespart – man kann sich leicht ausmalen, was es im Einzelfall bedeutet, dass die Wahrnehmung grundlegender sozialer Rechte bei „Menschen ohne Aufenthaltsstatus“ noch immer „großen Unsicherheiten und Einzelfallentscheidungen“ unterliegt.

Es folgt ein informativer Abschnitt über „Wirtschaft und Recht“, in dem man über den Fachkräftemangel auf dem Arbeitsmarkt, die Arbeits- und Erwerbslosigkeit von Migranten, die Familienzusammenführung, das Staatsangehörigkeits- und Ausländerrecht, das Asyl- und Flüchtlingsrecht oder die deutschen Zuwanderungs- und Integrationsgesetze in der hier gebotenen Kürze alles Notwendige erfährt. Sehr instruktiv ist der Teil des Sammelbandes geraten, der sich mit „Gesellschaft und Religion“ beschäftigt. Dass immer mehr Zugewanderte auch im Alter in Deutschland bleiben möchten, ist bekannt – dass man die Zahl der über 65-Jährigen mit Migrationshintergrund im Jahr 2030 auf knapp drei Millionen schätzt, und dass viele von ihnen durch „kultursensible Altenhilfe“ unterstützt werden müssten, ist allerdings noch kaum ins allgemeine Bewusstsein gedrungen. Die dem Arbeitsbereich „Deutsch als Fremdsprache“ verbundenen Leser werden sich für die differenzierten Anmerkungen zu den Themen „Spracherwerb und sprachliche Vielfalt im Kontext der Migration“ oder „Migrationsliteratur“ sicherlich mehr interessieren als für das politisch überkorrekte, ausschließlich um sich selbst kreisende und deshalb völlig überflüssige Kapitel zu „Migration und Gender“. Im Kapitel über den Islam in Deutschland erfährt man nicht nur, dass sich über 80 Prozent der knapp fünf Millionen Muslime in Deutschland, die „allerdings keinen monolithischen Block“ bilden, „als religiös bzw. als eher religiös“ bezeichnen, sondern auch, dass sich die Schere zwischen den gut ausgebildeten Eliten und der muslimischen Basis immer weiter zu öffnen scheint. Weniger überraschend sind die Anmerkungen zu „Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus“ und das Kapitel zum in der Öffentlichkeit oft lebhaft diskutierten Thema „Migranten und Kriminalität“, in dem es zusammenfassend heißt: „Die Kriminalität von Zuwanderern zeigt sich im Hellfeld im Vergleich zur Kriminalitätsbelastung der Deutschen erhöht. Überproportional belastet zeigen sich vor allem jugendliche Immigranten einzelner Zuwanderergruppen bei der Gewaltkriminalität […]. Die Annahme eines direkten und spezifischen Zusammenhangs von Migrationshintergrund und Kriminalitätsbelastung ist unzutreffend.“ Nebenbei ist diese Feststellung ein treffender Beleg für den bisweilen etwas unbeholfenen Jargon der deutschen Sozialwissenschaften, der weite Strecken des Sammelbands prägt.

Der vorletzte Teil ist mit „Integrationspolitik und politische Teilhabe“ überschrieben und bietet Überblicksdarstellungen zur Migrations- und Integrationspolitik der Europäischen Union, des Bundes, der Länder und der Kommunen, zu den wichtigsten einer besseren Integration dienenden deutschen Einrichtungen sowie zu den Themen „Wahlen und politische Repräsentation“ und „Diskriminierung und Antidiskriminierung“. Und am Schluss geht es um klärende Worte zu „Begriffen und Kontroversen“, die die öffentlichen Debatten in Deutschland in den letzten Jahren dominiert haben – „Parallelgesellschaft“ zum Beispiel, „Leitkultur“, „Kopftuch“, „Zwangsheirat und Ehrenmord“, aber auch „Diversity Management“ oder „Willkommenskultur“. Gerade der letzte Teil des Sammelbands führt recht eindrucksvoll vor Augen, wozu dieses angenehm übersichtliche Buch gut ist – zur Richtigstellung von unscharfen Popularismen und zur Präzisierung des Sprechens über das Einwanderungsland Deutschland. Man wird es kaum einmal in einem Atemzug durch-, aber man wird öfter in ihm nachlesen. Auch nachschlagen, denn es enthält viele wertvolle Hinweise auf weiterführende Literatur und einschlägige Websites. Selbst wenn das Buch nicht ohne Makel ist und der Sprachduktus mancher Beiträge nerven kann: Dieser Sammelband ist anregend und nützlich – und er wird seinem selbstgestellten Anspruch durchaus gerecht.

Titelbild

Karl-Heinz Meier-Braun / Reinhold Weber (Hg.): Deutschland Einwanderungsland. Begriffe – Fakten – Kontroversen.
Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2013.
255 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783170223264

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