Fakten statt Fiktionen

Ein Ausstellungskatalog des Archäologischen Museums in Freiburg räumt mit Steinzeit- und Geschlechtermythen auf

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Steinzeit scheinen die Geschlechterverhältnisse noch „ziemlich einfach“ gewesen zu sein. „Er war der Beutejäger, sie die Nesthüterin“, phantasieren beispielsweise die ErfolgsautorInnen Allan und Barbara Pease munter drauf los. Aber das ist natürlich barer Unsinn. „Doch selbst wenn diese einfachen Wahrheiten die einstigen historischen Realitäten abbilden würden: Weshalb sollte für uns heute überhaupt relevant sein, wie Urmenschen vor Tausenden, ja sogar vor Millionen von Jahren ihren Alltag organisierten und die anstehenden Arbeiten aufgeteilt haben“, fragt Brigitte Röder in der Einleitung des von ihr herausgegebenen Begleitbuchs zu einer Ausstellung des Archäologischen Museums Colombischlössle mit dem Titel „Ich Mann. Du Frau.“ Röders Frage ist keineswegs nur rhetorisch zu verstehen. Denn ihre Antwort erklärt, warum sich heutzutage viele Menschen an die vermeintlich unumstößlichen und natürlichen Geschlechterverhältnisse zu Zeiten der Steinzeitmenschen klammern. „Angesichts unklarer Zukunftsaussichten und sich auflösender Gewissheiten soll der Blick zurück in die Vergangenheit Orientierung und festen Boden unter den Füßen verschaffen.“ Das, was sich die Menschen unter ‚Der Steinzeit‘ vorstellen, „wird so zu einer Referenz und einer Orientierungsinstanz, die vermeintlich vorführt, wie die grundlegenden Formen des Zusammenlebens ‚am Anfang der Menschheitsgeschichte waren“. Sie wird somit zur „Chiffre für einen Anfangspunkt, für einen Ur- und Naturzustand“.

Tatsächlich aber gab es die Steinzeit im Sinne einer menschheitsgeschichtlichen Ära, in der stets und überall die gleichen Verhältnisse herrschten, gar nicht. Nicht einmal die Naturzustände, unter denen die Menschen lebten, waren stets und überall die gleichen. Dies kann man sich leicht vor Augen führen, indem man sich vergegenwärtigt, dass sich die Menschen über mehrere Kontinente verteilten und sich die Steinzeit über einen Zeitraum von sage und schreibe zweieinhalb Millionen Jahre erstreckte, in die Warmperioden und Eiszeiten fielen. Dabei wirkten sich die überaus unterschiedlichen klimatischen Verhältnisse etwa auf die Ernährungsmöglichkeiten der Menschen aus. Gab es überhaupt etwas zu jagen? Gab es etwas zu sammeln? Falls ja, was? Und welche Rolle spielte der jeweilige Ertrag des Jagens und Sammelns für die Ernährung. Zudem änderte sich im Laufe der Jahrmillionen die Biologie des Menschen selbst, wobei verschiedene Menschenarten nicht nur nach, sondern auch nebeneinander existierten und sich dabei vermutlich vermischten. Es ist also kaum vorstellbar, dass sich die unterschiedlichen und sich verändernden Naturverhältnisse nicht auf das Zusammenleben und so auch auf das Geschlechterverhältnis ausgewirkt haben sollten. So kann Röder die im Untertitel des Bandes gestellte Frage „Feste Rollen seit Urzeiten?“ bereits in der Einleitung „eindeutig und sicher“ beantworten. „Nein – Männer und Frauen haben keine feste Rollen seit Urzeiten.“ Andere Beitragende, wie beispielsweise Sebastian Brathner, halten ebenfalls fest, dass  „Unterschiede in der sozialen Stellung und den Rollen von Frauen und Männern für viele prähistorische Gesellschaften wahrscheinlich sind, wobei mit großer kultureller Variabilität zu rechnen ist“.  Denn, so nun wieder Röder, „die archäologischen Quellen zeichnen ein facettenreiches Bild, das auf vielfältige, komplexe und sich stets wandelnde Geschlechterrollen hindeutet“.  Das ist allerdings auch schon alles, was sich für die gesamte Steinzeit einigermaßen gewiss sagen lässt.

Denn wie sich die sozialen Verhältnisse und so auch die Geschlechterrollen „im Einzelnen gestalteten, lässt sich aufgrund der Quellenlage lediglich etwa für die letzten 100.000 Jahre detailliert rekonstruieren“, konstatiert Röder. So stehen sich „zwei ‚steinzeitliche Parallelwelten’“ gegenüber: „zum einen die historischen Epochen, mit denen sich die Prähistorische Archäologie befasst, zum anderen die fest im Alltagswissen verankerte, fiktive Steinzeit des Jägers und der Sammlerin, die als Ur- und Naturzustand figuriert“. Letztere basiert auf der „Projektion eines Geschlechter- und Familienmodells“, „mit dem wir alle bestens vertraut sind“, nämlich dem der heutigen westlicher Gesellschaften, genauer gesagt, deren konservativer Variante. Um eine „geradezu sensationell erfolgreiche Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse“ kann es sich dabei allerdings nicht handeln. Denn es gibt keine einzige „wissenschaftliche Studie, die dieses vermeintliche Wissen für 2,5 Millionen Jahre Menschheitsgeschichte plausibel belegen würde“.

Die Beiträge des Bandes verteilen sich auf die fünf Abschnitte „Geschlechterbilder und Klischees heute“, „‚Männlich‘ – ‚Weiblich‘. Darstellungen von ‚Geschlecht‘“, „‚Frauenkulte‘ – ‚Männerkulte‘“, „Männer und Frauen, Mädchen und Jungen im Alltagsleben“ sowie „Neubesetzungen von Geschlechterrollen“. Damit hat die Herausgeberin eine kluge Reihenfolge gewählt, die zunächst einmal gängige Klischees ad absurdum führt, um dann über künstlerische Darstellungen, die mit ihnen verbundenen Kulte bis hin zu Erkenntnissen über die alltäglichen Lebensumstände voranzuschreiten und dem auf die Steinzeit gemünzten Geschlechterrollenklischee schließlich anhand von archäologischen Funden ‚Neubesetzungen’ gegenüberzustellen. Bei all dem beziehen sich die erlangten Erkenntnisse nicht etwa auf die gesamten 2,5 Millionen Jahre, welche die Steinzeit währte, sondern ‚nur‘ auf die letzten 100.000. Denn nur für diese Zeit liegen aufschlussreichere Funde vor als bloße Fossilien menschlicher Kieferknochen und dergleichen, die keinerlei Rückschlüsse auf die Geschlechterrollen der damaligen Menschen zu lassen. Den Beiträgen sind „Steckbriefe“ zwischengeschaltet, die archäologische Funde in Wort und Bild präsentieren.

Im ersten der fünf Abschnitte legt die Biologin und Hirnforscherin Sigrid Schmitz unter dem Titel „Das Gehirn von Jägern und Sammlerinnen – Evolutionäre Mythen für die Gegenwart“ eindrücklich dar, dass und wie „populärwissenschaftlich aufbereitete und scheinbar einfache evolutions- und hirnbiologische Erklärungen für moderne Phänomene wie einparkende Männer, Schuhe kaufende Frauen, männliche Börsenhaie, weibliches Helfersyndrom durch die Forschungslage Lügen gestraft“ werden. Hierzu referiert sie etwa drei ganz verschiedene Thesen zur gesellschaftlichen Organisation in der Steinzeit. Sie wurden von verschiedenen Forschenden aufgrund ein und desselben archäologischen Fundes aufgestellt, den sie jedoch ganz unterschiedlich interpretierten. Die erste besagt, es habe eine Gesellschaft von Jägern und Sammlerinnen bestanden; die zweite, Frauen, nicht Männer seien WerkzeugmacherInnen gewesen; die dritte, die Menschen dieser Zeit seien Aasfresser gewesen, die Jagd habe keine Rolle gespielt. „Welche Geschichte den tatsächlichen Entwicklungen in ihrer ganzen Vielfalt näher kommt, ist nicht zu klären“, räumt Schmitz ein. Das aber ist gerade der Clou ihrer Darlegungen. Denn „die Querschau zeigt eines sehr deutlich: Die unterschiedlichen Narrationen zeugen von der Konstruktionshaftigkeit der Wissensproduktion“.

Dominique Grisard befasst sich in ihrem Beitrag „Rosarot und Himmelblau“ mit Theorien, die begründen sollen, warum Mädchen – angeblich seit Urzeiten – Rosa lieben. Sie besagen etwa, dass Sammlerinnen gelbe und rote Beeren vor dem Hintergrund des grünen Blätterwaldes erkennen mussten, was sich noch heute in der mädchenhaften Vorliebe für rosa Töne niederschlage. Auf dem popularisierenden Weg in die Medien wird aus Gelb und Rot unter der Hand Rosa und das Grün der Blätter fällt ganz weg. Eine andere dieser Theorien wiederum behauptet, Frauen reagierten auf die Farbe Rosa positiv, weil die Gesichter von Babys rosa seien. Damit aber offenbart sie nur ihren impliziten Rassismus. Denn bekanntlich sind allenfalls die Gesichter einer bestimmten Minderheit der Babys auf dieser Erde rosa. Schließlich verweist die Autorin noch darauf, dass den meisten empirischen Erhebungen zufolge tatsächlich Blau „die Lieblingsfarbe von Jungen und Mädchen“ ist. Die Farbe Rosa spielt hingegen überhaupt erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in Untersuchungen zu Farbpräferenzen eine Rolle.

Miriam Sénécheau wiederum zeigt, dass im Geschichtsunterricht verwendete Schulbücher keineswegs darüber informieren, wie sich die Geschlechterrollen in der Steinzeit gestalteten, sondern nur darüber „Auskunft“ geben, „wie sich Menschen unserer Gesellschaft das Leben in der Ur- und Frühgeschichte vorstellen“. Kritisch zu ergänzen ist, dass die Geschichtsbücher, diesen Unterschied allerdings selbst nicht thematisieren, sondern vorgeben, ihre Rollenbilder beschrieben das damalige Leben, so wie es wirklich war. Ärgerlicher aber ist noch, dass sie auf diese Weise heutige konservative Geschlechterrollen und -vorstellungen zugleich als vermeintlich natürliche „zementieren“.

Im dritten Teil analysiert Helmut Schlichtherle „weibliche Symbolik auf Hauswänden und Keramikgefäßen“ der Jungsteinzeit und geht der Frage nach, ob sie Hinweise auf „frauenzentrierte Kulte“ bieten. Dass Frauen nicht nur leichte Beeren sammelten (falls sie das überhaupt taten), sondern etwa in der Hallstatt-Zeit vor 2.500 Jahren schwere Bergwerksarbeit verrichteten, weisen Doris Pany-Kucera und Hans Reschreiter im vierten Abschnitt anhand „anthropologischer Untersuchungen der Skelette“ von Frauen und diverser Fundstücke in den ehemaligen Arbeitsstätten nach. Sibylle Kästner wiederum stellt im fünften Teil „Ethnographische Jägerinnen-Beispiele“ von der Arktis bis Australien zusammen und zeigt, dass Jägerinnen etwa bei Pygmäengruppen in Zentralafrika ebenso üblich sind wie bei nordamerikanischen Naskapi und Shoshonen, arktischen Inuit oder zentralaustralischen Aborigines.

Die hier nur kurz vorgestellten Beiträge mögen verdeutlichen, auf welch vielfältige Weise der vorliegende Band zu informieren vermag, da AutorInnen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen die Fragen nach den steinzeitlichen Geschlechterrollen erhellen. Dabei geben sie allerdings keineswegs vor, schon eine Antwort auf jede dieser Fragen parat zu haben. Die Ausstellung des Archäologischen Museums Colombischlössle endete leider im März 2015. Ihr Begleitbuch aber ist glücklicherweise nach wie vor erhältlich.

Titelbild

Brigitte Röder (Hg.): Ich Mann. Du Frau. Feste Rollen seit Urzeiten?
Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung des Archäologischen Museums Colombischlössle, 16. Oktober 2014 – 15. März 2015.
Rombach Verlag, Freiburg 2014.
240 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783793051145

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