Roque Dalton aus El Salvador: Ein intellektueller Dichter im bewaffneten Widerstand

In „¡Fusilemos la noche! Erschiessen wir die Nacht!“ fließt poetische Zärtlichkeit mit dem Pulver der Revolution zusammen

Von Jana FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Während der Frankfurter Literaturtage 2016 konstatierte der angolanische Schriftsteller José Eduardo Agualusa, dass die Realität immer schon das Absurde beinhalte, Patrick Chamoiseau aus Martinique sprach sich in Anlehnung an Édouard Glissant dafür aus, dass das Unvorstellbare in unser Denken integriert werden müsse und auch Ilja Trojanow schreibt, dass der Westen nicht gelernt habe, mit gespiegelten Täuschungen umzugehen und das Paradoxon bei uns eine lästige Unstimmigkeit sei, die es zu überwinden gelte.

In der nun von Tina Leisch und Erich Hackl herausgebrachten Auswahl und Übersetzung einiger zentraler Gedichte des salvadorianischen Dichters Roque Dalton (1935-1975) – den der mexikanische Schriftsteller Paco Ignacio Taibo II als den salvadorianischsten Salvadorianer, den zentralamerikanischsten Zentralamerikaner bezeichnet – und der dazugehörigen Dokumentation über Wesen und Werk des Poeten scheint das Absurde, aber auch das Symbolische, integraler Bestandteil der Realität zu sein: Vom verrückten Glück – la suerte loca – spricht Ricardo Castrorrivas, ein befreundeter Autor des Dichters, wenn er von den zwei Todesurteilen spricht, die wie ein Damoklesschwert über dem Haupt von Roque Dalton hingen, dessen gefährlicher Schneide dieser aber stets im letzten Moment entweichen konnte. Einmal, weil einen Tag vor dem Exekutionstermin der damalige Präsident José María Lemus gestürzt wurde, und ein zweites Mal, weil vier Tage zuvor ein Erdbeben die Gefängnismauern zum Einsturz brachte. Einen hohen symbolischen Wert schreibt weiterhin sein Sohn, Juan José Dalton, den Blumen, die niemals welken – den siemprevivas – zu, die sich genau in jener Fläche der Sonne entgegenstrecken, an denen die sterblichen Überreste seines Vaters vermutet werden. In ¡Fusilemos la noche! Erschiessen wir die Nacht! scheint Roque Dalton seinen eigenen Tod literarisch vorwegzunehmen und somit das Absurde, das Unvorstellbare in seiner Reinform, in seine Lyrik zu integrieren: „que mi propio cadáver decapitado en la arena / als meine im Sand enthauptete Leiche“.

Das tragische Paradoxon im Leben Roque Daltons lässt sich nicht auflösen, waren es doch letztlich nicht seine Widersacher, die seinen Tod herbeiführten, sondern Leute aus den eigenen Reihen. Der Dichter hatte sich dazu entschieden, seine Waffe der Feder gegen eine echte einzutauschen und sich der revolutionären Guerillatruppe ERP angeschlossen, da seiner Auffassung nach nur durch eine bewaffnete Revolution die repressiven Machtstrukturen, die die Gewalt zur Protagonistin El Salvadors machten, aufgelöst werden könnten. So schreibt er in seinem Gedicht Lo terrible / Das Schreckliche: „Ahora la ternura no basta. / He probado el sabor de la pólvera. / „Jetzt reicht Zärtlichkeit nicht. / Ich habe den Geschmack von Pulver gekostet“. Der Gegensatz zwischen Dichtung und Leben soll demnach überwunden werden, so dass es zu einer vollkommenen Übereinstimmung von Einsichten und Taten kommt. Hierin folgt der Dichter jenem philosophischen Existentialismus Jean-Paul Sartres, der in Der Intellektuelle als Revolutionär äußert, dass Reflexion und Praxis miteinander einhergehen sollten und sich der kritische Intellektuelle mehr als Politiker und der Politiker mehr als kritischer Intellektueller betätigen solle. Das, was theoretisch durchdacht wird, soll im konkreten politischen Kampf in die Tat umgesetzt werden.

Diese Widersprüche und Absurditäten bestimmen jedoch nicht nur das individuelle Schicksal des salvadorianischen Dichters, dessen Werk immer noch einen großen Widerhall in der Gesellschaft El Salvadors findet, sondern auch die gesamte Geschichte El Salvadors. Roque Dalton zeigt dies in seiner Dichtung auf, wenn er beispielsweise schreibt: „Y el Presidente de los Estados Unidos es más Presidente de mí país / que el Presidente de mí país / Und der Präsident der Vereinigten Staaten ist mehr Präsident meines Landes / als der Präsident meines Landes“. Für Dalton gilt es zurück zu den eigenen Wurzeln zu finden, sich von der Einflussnahme der USA abzugrenzen und die Werte neu zu bestimmen: „Hay que llevar al niño / a su música antigua. / Hay que volver a fabricar muñecas / y hay que sembrar maíz en las ciudades / Hay que dinamitar los rascacielos / y dar lugar para que ascienda el trigo. / Es gilt, das Kind / zu seiner alten Musik zu bringen. / Es gilt, wieder Puppen zu fertigen / und es gilt, Mais in den Städten zu pflanzen. / Es gilt, die Wolkenkratzer zu sprengen / und Platz zu schaffen für den Weizen, sein Wachsen“.

Roque Dalton thematisiert die Konflikte des mittelamerikanischen Landes in seiner Lyrik, stellt innovative Ideen vor, damit der Mensch sich seiner Probleme bewusst werde und gegen deren Ursachen angehe. Er sah es als seine Aufgabe an, dem salvadorianischen Volk durch seine künstlerische Fähigkeit eine Stimme zu verleihen und verwendete hierfür als erster Dichter Mittelamerikas die Sprache der Straße, der Spelunken, der Bordelle und Gefängnisse: „Nueve, carajo / nueve años disfrazados de pescozón / y uno amarrado; / […]. Francisco Sorto, hermoso / con su cara de mono / Neun, verdammt, / neun Jahre verkleidet als Ohrfeige / und man selbst angekettet; / […]. Francisco Sorto, schön / mit seinem Affengesicht“. Seine Lyrik kann exemplarisch für eine neue Ausrichtung in der Literatur Zentalamerikas gelesen werden, die eine ethische wie auch ästhetische Revolution vollzog. Die Literatur solle die politische und soziale Einflussnahme zu ihrem primären Anliegen machen und ihr eigentliches Ziel der konkrete Widerstand sein, wofür sich Roque Dalton jedoch bei der Lyrik entschuldigt: „Poesía / Perdóname por haberte hecho comprender / Que no estás hecha sólo de palabras. / Poesie / verzeih mir, dass ich dir geholfen habe zu begreifen, / dass du nicht nur aus Wörtern gemacht bist“.

In der Dokumentation von Tina Leisch wird deutlich, dass Roque Dalton auch heute noch in allen Schichten in El Salvador rezipiert wird, wenn ein Jugendlicher, der nur schlecht lesen kann, seine Gedichte vorträgt, oder Gefängnisinsassen sich an den Dichter in wärmsten Tönen erinnern. Wenn eine Frau, die ihr Land verlassen musste, um im Ausland, in der Fremde, zu leben, Roque Daltons Gedicht Alta / Anklageschrift vorliest, wird für den Zuschauer schmerzlich fühlbar, wie es sein muss, wenn die Straßen, die Städte, die Flüsse, die Seen und die Berge immer anderen gehören, nicht mehr die eigenen sind. Doch während diese Momente Nähe zum Leben und Wirken Roque Daltons erzeugen, bricht das unablässige Spiel mit den Pappfiguren – mittels welcher Tina Leisch eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu evozieren versucht – diese Unmittelbarkeit auf, da die Aufmerksamkeit des Zuschauers hier viel zu sehr auf die Form anstatt auf den erzählten Inhalt gelenkt wird. Und auch, wenn ein roter Faden zwar durch die einzelnen Orte, in denen Roque Dalton lebte, hergestellt wird, wirkt die Menge der Stellungnahmen doch am Ende zu collagenhaft, zu überfrachtet. Wenn man sich im Vergleich hierzu die Dokumentation von Paco Ignacio Taibo II Roque Dalton: El poeta guerillero anschaut, wird die gewaltige Präsenz, die der salvadorianische Dichter gehabt haben muss, fühlbar, da der mexikanische Schriftsteller sehr einfühlsam den Spuren des Poeten nachspürt. Auch wird der Inhalt – das tragische Schicksal des Dichters, seine Auflehnung gegen bestehende Machtstrukturen und die Wirkkraft, die seine vanguardistische Poetik noch heute auf die lateinamerikanische Dichtung hat – nicht durch formale Spiele in den Hintergrund gedrängt.

Das, was die wirklich sehr gute Auswahl seiner Gedichte und die Dokumentation von Tina Leisch leistet, ist, dass sie Roque Daltons Werk und somit auch ein Stück zentralamerikanische Wirklichkeit für unseren Kulturkreis zugänglich macht. Nur wenig erfahren wir im europäischen Kulturraum über Zentralamerika, in dem der Austausch zwischen den einzelnen Ländern eher durch „incomunicación“ (Nichtkommunikation), wie der nicaraguanische Schriftsteller Sergio Ramírez es nennt, bestimmt ist. So gibt es zwar vereinzelte Bestrebungen die literarische Kulturwelt enger zu vernetzen – wie zum Beispiel die zentralamerikanische Literaturzeitschrift Centroamérica Cuenta, die von Ramírez geleitet wird –, doch prinzipiell handeln die zentralamerikanischen Länder kaum länderübergreifend, wie es Helmut Schippert, der Leiter der Zusammenarbeit mit Mittelamerika und der Karibik vom Goethe-Institut Mexiko, beschreibt.

In ¡Fusilemos la noche! Erschiessen wir die Nacht! steht jedem Gedicht nicht nur eine deutsche Übersetzung gegenüber, sondern die Auswahl wird auch noch von einem sehr aufschlussreichen Artikel des salvadorianischen Schriftstellers Horacio Castellanos Moya – neben Manlio Argueta einer der wenigen Autoren El Salvadors, der in Deutschland wahrgenommen wird – begleitet.

Dem Schriftsteller Rafael Lara Martínez zufolge personifiziert Roque Dalton die Unabhängigkeit des Denkens, die kreative Autonomie und die innovative literarische Produktion El Salvadors. Nach ihm kann es keine Reflexion über El Salvador geben, ohne auf Roque Dalton zu referieren.

Wenn Édouard Glissant aus Martinique in Kultur und Identität. Eine Poetik der Vielheit konstatiert, dass einer Poetik des Welt-Ganzen zu folgen bedeute, eine Beziehung zwischen dem Ort der Entstehung des literarischen Textes und dem Welt-Ganzen herzustellen, dann betrifft dies unsere Entscheidung, welche Texte wir rezipieren. Auch wenn eine Annäherung an die salvadorianische Wirklichkeit über den literarischen Text stets eine Annäherung bleiben muss – ja sogar Gefahr läuft, verklärende Illusionen, Konstruktionen und Diskurse zu erzeugen, die wie eine Bühnenkulisse das Eigentliche nur abzubilden vermag –, so ist es doch eine Annäherung an ein Land, von dem die meisten von uns wahrscheinlich nur wenig Kenntnis haben. Die Rezeption der Gedichte und des Dokumentarfilmes stellen eine wunderbare Möglichkeit der Begegnung dar, welche die Salvadorianer selbst zur Sprache kommen lässt – ganz so wie Roque Dalton dem einfachen Volk eine Stimme verlieh – und gleichzeitig hilft, diese sich erhebende lyrische Stimme in den Gesamtkontext einzuordnen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Roque Dalton: ¡Fusilemos la noche! Erschießen wir die Nacht! Gedichte Spanisch und Deutsch.
Verlag Johannes Heyn, Klagenfurt 2015.
106 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783708405537

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