Weltreisender oder Weltbürger?

Joachim Sartorius fährt in „Für nichts und wieder alles“ reiche Ernte ein

Von Christophe FrickerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christophe Fricker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem Weltreisenden und einem Weltbürger? Machen wir uns auf die Suche nach Antworten im neuen Gedichtband eines Mannes, der es wissen muss. Joachim Sartorius war als deutscher Diplomat auf drei Kontinenten präsent, als Generalsekretär des Goethe-Instituts von Berufs wegen mit den Kulturen der Erde befasst, vor allem aber als Autor von Unterwegs-Büchern, zum Beispiel einem wunderbaren Band über die Istanbuler Prinzeninseln, und als Herausgeber globaler oder jedenfalls unsteter Schriftsteller wie Malcolm Lowry oder William Carlos Williams daran beteiligt zu zeigen, dass es kein Ausland gibt. In seiner eben erschienenen Sammlung Für nichts und wieder alles lassen sich viele dieser Meilensteine und Erkundungen nachvollziehen.

Dass Sartorius Weltreisender ist, schließen wir zunächst einmal aus Versen, die den Charakter von Unterwegs-Notizen haben. Es ist nicht nur die Vielzahl von Orten, von Ghana über Nikosia, Istanbul und Brandenburg bis nach New York, die auf einen ständig wachen Schreibimpuls verweisen, sondern auch das weite Spektrum musikalischer, literarischer, bildkünstlerischer und vor allem geselliger Anlässe sowie der bunte Reigen an Strophenformen, in denen immer wieder einzelne Passagen einen regelmäßigen Rhythmus oder eine größere klangliche Dichte haben als andere. Die klassische Buchgestaltung vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, dass der Leser oft das Gefühl hat, live dabei zu sein.

Das macht Spaß. Man freut sich über gelungene Wendungen, die auch aus vielbefahrenen Spuren souverän herausfinden, darunter Genitivmetaphern („der Hüftschwung der braunen Amphoren“) und Adjektive („die genaue Wespe“). Ebenso über kleine und große Erzählungen, in denen an den verschiedenen Orten ganz verschiedene Zeitschichten zur Sprache kommen: „Besuch bei einer verbannten Dichterin“ über Ilse Blumenthal-Weiss und das flott dahergesprochene „Hüzün in Istanbul“ zum Beispiel. Erstere sei „alt und schön, bald tot. Ernsthaft, / aber tot, klug, aber tot, bitter, aber nicht mehr da.“ Der türkische Dichter wiederum würde, wenn er denn reisen würde, nach Istanbul fahren – „Und was sähe ich da? Ich wäre erstaunt.“ Man hört genüsslich zu, was ihn erstaunen würde. Manche dieser Momente sind so lebendig beschrieben, dass man selbst ins Notieren kommt, um eine Version jener Begebenheit beizusteuern, die man doch gar nicht erlebt hat.

Wie steht es aber nun mit dem Weltbürger? Sartorius ist nicht überall der angenehme, gesittete und aufgeschlossene Gast. Brandenburger Bauern hält er für eine „Sekte abstruser Melancholiker“. In Ghana stellt er lakonisch fest: „Ich freute mich auf nichts.“ Am Dnjepr fühlt er sich „in einem flachen, rückständigen Land“. Er scheut sich auch nicht vor Hypostasierungen, bei denen sich postkoloniale Literatur- und Gesellschaftstheoretiker im Grabe herumdrehen würden: „Die Beduinen verstehen nichts“, wenn sie einen deutschen Film aus den 19030er-Jahren sehen.

Gerade an solchen Stellen ist aus dem deutschen Diplomaten und Kulturmanager ein Weltbürger geworden, der nicht überall alles loben oder gut finden, nicht alles glattbügeln oder systematisch und effizient zu einem evaluierbaren Ergebnis bringen muss. Für nichts und wieder alles ist weder nichts noch alles, aber vieles von dem Schönen, Ärgerlichen, Einsamen und irgendwie Gemeinsamen dazwischen. Nur wem genau das eine oder andere gemeinsam ist, wird nicht immer deutlich. Der Leser wird auch dort beinahe zum Autor, wo er sich fragt, wer denn mit „wir“ – „Wir vögeln im Getreide“ – gemeint ist. Vor lauter Welt verschlägt es hier dem Bürger fast die Sprache. Doch ist die Erklärung nicht weit: „Von vorn beleuchtet Sprache die Dinge“. Nun denn!

Titelbild

Joachim Sartorius: Für nichts und wieder alles. Gedichte.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016.
92 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783462048223

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