Das höchste Gut

Eva Geber hat die beiden Essaysammlungen der Feministin Rosa Mayreder in einem Band neu herausgegeben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rosa Mayreder ist zweifellos eine der bedeutendsten österreichischen Frauenrechtlerinnen. Daher müsste es von Rechts wegen schon längst eine historisch-kritische Gesamtausgabe ihrer Schriften geben. Doch Fehlanzeige. Dabei weiß die Alpenrepublik ihre große Tochter durchaus zu schätzen. So zierte ihr Konterfei etwa den 500-Schilling-Schein. Doch der ist bekanntlich schon länger nicht mehr in Umlauf.

Über die Jahrzehnte hinweg wurde immerhin das eine oder andere ihrer Werke neu herausgegeben. Unter ihnen ragt Mayreders von ihrer damaligen Rechtsnachfolgerin Tatjana Popović verdienstvoller Weise 2008 neu herausgegebenes Spätwerk Der letzte Gott (Erstausgabe 1935) heraus. Am 1. Januar des darauffolgenden Jahres erlosch das Urheberrecht an Mayreders Schriften. Dies könnte ein Grund zur Freude sein, denn seither wurden weitere ihrer Werke von verschiedenen Verlagen und HerausgeberInnen neu aufgelegt. Tatsächlich legt sich die Freude bei manchen dieser Publikationen allerdings, sobald man sie in der Hand hält, denn sie sind teilweise denkbar miserabel ediert. So zum Beispiel der 2014 im Servus Verlag erschienene Band Askese und Erotik.

Nun hat Eva Geber im Mandelbaum Verlag eine Essaysammlung Mayreders mit dem Titel Zur Kritik der Weiblichkeit auf den Markt gebracht. Die Herausgeberin ist unter Mayreder-KennerInnen keine Unbekannte, trat sie doch vor genau 20 Jahren schon einmal als Herausgeberin zweier Bände von Mayreder hervor. Ihre Titel lauten Geschlecht und Kultur sowie Zur Kritik der Weiblichkeit. Es sind dies zugleich die Titel der beiden Essaysammlungen, die Mayreder 1923 und 1905 selbst veröffentlichte. Ihnen entspricht auch der Inhalt der beiden Ausgaben aus dem Jahr 1998. Ergänzt wurden sie von Geber durch Lebensdaten Mayreders, Bibliografien und Personenregister. Außerdem verfasste die Herausgeberin für einen der Bände ein Vor-, für den anderen ein Nachwort.

Nun also wiederum ein Band mit dem Titel Zur Kritik der Weiblichkeit. Man erwartet, dass sein Inhalt dem seiner gleichnamigen Vorläufer entspricht. Dies trifft auch zu – zumindest teilweise. Denn er enthält die Essays beider Bände, also auch diejenigen von Geschlecht und Kultur. Mithin führt der Titel in die Irre, denn das Buch bietet mehr, als er erwarten lässt.

Der titelstiftende Begriff „Kritik“ ist weniger im landläufigen Sinne als eher im Kantischen zu verstehen. In der Kritik der reinen Vernunft definiert der Königsberger Philosoph Kritik als „die Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfangs und der Gränzen“ eines Phänomens. Während Kant diejenigen von menschlichen Vermögen wie der reinen und der praktischen Vernunft oder der Urteilskraft untersuchte, sind es bei Mayreder die der Weiblichkeit respektive des Geschlechts, denen sie in ihren nun in einem Band vereinten beiden Büchern unter verschiedenen Aspekten nachgeht. Im Vorwort von Geschlecht und Kultur erläutert sie:

In der Kritik der Weiblichkeit habe ich mich vornehmlich mit der Geschlechtspsychologie als einem Problem der individuellen Anlage beschäftigt – eine Untersuchung, die in der Freiheit der Individualität von apriorischer Beschränkung durch das Geschlecht ihr Ergebnis fand. Hier aber betrachte ich in erster Linie die Werte sozialer und kultureller Art, die den Lebensformen der Geschlechter zugrunde liegen und über den Einzelnen, soweit er ein soziales Wesen und durch Kultureinflüsse bestimmbar ist, Macht ausüben.

Wie Mayreder in der Einleitung zu Geschlecht und Kultur weiter darlegt, geht es in beiden Büchern mithin jeweils um die Beantwortung einer bestimmten Frage:

Die Kritik der Weiblichkeit geht von der Frage aus, was ‚das Weib seiner Natur nach istʻ und zeigt, daß sie in dieser generellen Fassung gar nicht beantwortet werden kann, während dieses Buch eher auf die Frage hinzielt, was das Weib seiner Natur nach sein soll – eine Frage, die, wie es scheint, in ihrer generellen Fassung ebensowenig zu beantworten ist.

Im Einzelnen analysiert und kritisiert Mayreder etwa die von Frauen gleich „zwiefach“ zu duldende „Tyrannei der Norm“ sowie die von Friedrich Nietzsche im Zarathustra unternommenen Rehabilitationsversuche der „primitiven männlichen Instinkte“ und die „ungerechten Urteile“, die der Philosoph mit dem Hammer über die Protagonistinnen der Frauenbewegung fällte. Weiter vergleicht Mayreder die Weiblichkeitstheoreme Lou Andreas-Salomés und Laura Marholms und zeigt an Beispielen aus den einschlägigen Werken diverser kreativer Köpfe von Dante über Goethe bis zu Wagner, dass „‚das Weib‘ nur ein Produkt des männlichen Gehirns, eine ewige Täuschung, ein Schemen ist, das alle Gestalten annehmen kann“. Zudem entlarvt sie die „doppelte Moral“ der die „sexuelle Lebensführung von Mann und Frau“ mit zweierlei Maß beurteilenden Männergesellschaft, geht „sexuellen Lebensidealen“ nach, folgt dem „Weg der weiblichen Erotik“ sowie den kulturgeschichtlichen „Wandlungen der Ehe“ und geht der „Krise der Väterlichkeit“ auf den Grund.

Die „freie Selbstbestimmung nach Individualität“ war für Mayreder zeitlebens „schlechtweg das höchste Gut für den Mann wie für die Frau“. Vor und um 1900 engagierte sie sich im radikalen Flügel der Frauenbewegung. Wegen zunehmender theoretischer oder – wenn man so will – ideologischer Differenzen trat sie jedoch von Beginn des neuen Jahrhunderts an des Öfteren eher als Einzelkämpferin für Frauenrechte in Erscheinung. So trat sie 1903 aus dem Komitee des von ihr 1893 mitbegründeten Allgemeinen österreichischen Frauenvereins aus. Vier Jahre später gründete sie allerdings mit einigen GesinnungsgenossInnen den Verein zur Bekämpfung der Prostitution. Außerdem war sie 1907 eine der MitbegründerInnen der Soziologischen Gesellschaft in Österreich. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs engagierte sie sich in der internationalen Frauenfriedensbewegung. Zu Beginn der 1920er Jahre wurde Mayreder zur Vizevorsitzenden der neu gegründeten österreichischen Sektion der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit gewählt.

In allen diesen Organisationen vertrat sie oft ganz eigene und originelle Auffassungen. Das schlägt sich selbstverständlich auch in den Texten des vorliegenden Bandes nieder. So übt sie etwa heftige Kritik an der auch von weiten Teilen der Frauenbewegung geteilten „hohlen Phrasenhaftigkeit der üblichen Mutterschaftsverherrlichung“. Den Preis, den Frauen für Mutterschaft „bezahlen“ müssen, sei nicht weniger als „die geistige Freiheit und die Ebenbürtigkeit“. Ihre Argumentation verbindet biologische und kulturelle Erklärungen. Denn ihr zufolge habe „die Natur […] mit dem Weib nichts anderes vor, als es zur Mutterschaft geeignet zu machen, selbst um den Preis, daß es an allen anderen Fähigkeiten gegen den Mann zurückstehen musste“. Doch „erst unter den Bedingungen der Zivilisation“ werde „das Weib vermöge der Mutterschaft zu einem untergeordneten und abhängigen Wesen, zu einem Menschen zweiter Ordnung.“ Letztendlich aber werde „die Annahme, daß in der Mutterschaft die höchste Aufgabe des Weibes bestehe“, „durch die Kulturgeschichte widerlegt“. Aus all diesen Gründen macht sich Mayreder für kinderlose Frauen stark und erklärt, dass „gar kein Grund [besteht], warum jene Frauen, die um geistiger Interessen willen auf die Mutterschaft verzichten, ein Vorwurf treffen sollte“.

Für den vorliegenden Band hat Eva Geber die von ihr für die Ausgaben von 1998 erstellte schon damals nicht ganz vollständige Bibliografie Mayreders unverändert übernommen. So fehlen mit Über die Ursachen einer Frauenbewegung und Zur Geschichte einer Petition etwa zwei kleinere selbstständige Publikationen aus dem Jahr 1907. Zudem verharrt die Bibliografie auf dem Stand von vor 20 Jahren und endet mit dem Jahr 1988. Seither sind allerdings verschiedene Schriften Mayreders – teils unter abweichenden Titeln – neu aufgelegt worden. Zwei der literarischen seien hier genannt: Fabeleien über göttliche und menschliche Dinge (2013) und Traugott Wendelin (2015). Trotz dieses eher kleinen Mankos ist es zu begrüßen, dass Mayreders wichtige feministische und geschlechtertheoretische Essays auch im 21. Jahrhundert zu erwerben sind.

Titelbild

Rosa Mayreder: Zur Kritik der Weiblichkeit. Essays.
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Eva Geber.
Mandelbaum Verlag, Wien 2018.
438 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783854765592

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