Bluffer, Blender, Halsabschneider

Bärbel Schwertfeger und Günter Ogger über die Betrüger-Gesellschaft

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den 80er Jahren war die Welt des Verbrechens noch in Ordnung. Zu dieser Zeit agierten die Polizei und ihre adretten Fernseh-Fahnder noch als Freunde und Helfer. Da informierte zum Beispiel ein akkurat gescheitelter Herr in der Sendung "Vorsicht Falle" aus der Heimeligkeit des öffentlich-rechtlichen Fernsehens heraus über die dunklen Machenschaften von Einbrechern, Trickbetrügern und anderen kriminellen Elementen. Die betulichen "Filmbeiträge", die Eduard Zimmermann von Laienschauspielern nachstellen ließ, genoss der Zuschauer in eben der Haltung, in der er es sich selbst im Wohnzimmer bequem gemacht hatte: gut gepolstert.

Wie eine alte Frau in ihrer Wohnung von zwei findigen Gaunern um ihr Erspartes gebracht wurde, löste seinerzeit noch ungläubiges Kopfschütteln und moralische Entrüstung aus. Solche Szenen waren spannend, aber doch nicht angetan, unseren Glauben an Recht und Ordnung nachhaltig zu erschüttern. Es folgten praktische Verbrauchertipps, wie man sich der Heimsuchungen der "Nepper, Schlepper, Bauernfänger" - so der Untertitel der Sendung - erwehren konnte. Und es herrschte einer gewisse Verbrechens-Romantik vor: Dort die Bösen, hier die Guten, die jenen über kurz oder lang auf die kriminellen Schliche kommen. Wir bitten die Bevölkerung um ihre Mithilfe.

Doch das Zeitalter "Ganoven-Edes", wie Zimmermann im damaligen Westdeutschland noch liebevoll genannt wurde, ist vorbei. Glaubt man den Autoren Bärbel Schwertfeger und Günter Ogger, dem Verfasser der bestsellernden "Nieten in Nadelstreifen" (1992), so sind Betrug, Schwindel und arglistige Täuschung längst aus ihrer gesellschaftlichen Randstellung entlassen worden. Die von den bürgerlichen Moralaposteln noch unter Verschluss gehaltene Delinquenz hat ihr Kellerkind-Dasein abgelegt und begehrt Einlass in die hellen Räume der Karriere und des Kommerz. Nicht von ungefähr faszinieren Hochstapler wie Gert Postel oder ausgemachte Halunken wie Dr. Jürgen Schneider die Öffentlichkeit und veröffentlichen ihren kriminellen Werdegang in auflagenstarken Biografien.

Wie das kommt, kann man erklären. Im Bereich der Wirtschaftskriminalität etwa ist, wie Hans Magnus Enzensberger einmal befand, das Verhältnis zwischen Ertrag und Risiko sehr viel besser als bei jeder anderen Form des Verbrechens. Wer seine Mitmenschen heute um ihr Hab und Gut bringt, landet nicht mehr zwangsläufig hinter Schwedischen Gardinen, sondern weit öfter in einem Balinesischen Swimming-Pool. Wachsende Anreize und laxe Kontrollen bewirken langfristig eine Verschiebung der Verhaltensnormen - bis hin zur Flucht des innerlich moralisch und juristisch entfesselten Managers in eine "narzisstische Grandiosität" (Schwertfeger), die durch die spezifischen Sozialisationsbedingungen der heute 25- bis 35-jährigen noch gefördert wird.

Die haben als Kinder der 68er-Generation gelernt, dass zwar die Gesellschaft böse ist, nicht aber das Kapital. Eine diskontinuierlichere Lebensführung, in der berufliche Integrität brüchiger und persönliche Beziehungen oberflächlicher und berechnender werden, rundet die Bluffer-Persönlichkeit ab. Was seinem Vorankommen nicht nützt, fällt durch das Raster, mit dem der Blender die Wirklichkeit filtert. "Es geht nicht mehr um das gezielte Täuschmanöver in einer bestimmten Situation", heißt es bei Schwertfeger, "es geht ums Bluffen als Lebensstil." Irgendwann freilich hat jeder seine Lektion gelernt: Wer sich an die Regeln hält, bezahlt die Untaten der anderen mit. Der Ehrliche ist - frei nach Ulrich Wickert - der Dumme, wer nicht lügt, ist blöd.

Schon im Kleinen wird getrickst und getäuscht. Heute ist bereits jede dritte Bewerbung gefälscht. Schere, Kleber und ein guter Kopierer genügen, um ein schlechtes Zeugnis in eine Top-Referenz zu verwandeln. Vielleicht, argwöhnt Schwertfeger, geschehe das aber nicht ganz zu Unrecht. Denn mit ihren unrealistischen Ansprüchen produzieren die Unternehmen gerade die Bluffer, die sie eigentlich nicht wollen. Das Konzept der Ich-Aktie ("da wird die Schaumschlägerei zur Überlebensstrategie"), die schöne neue Welt der New Economy, deren zehnjähriger Boom auf viele wie eine Droge gewirkt hat, wirken ebenso wie leichtgläubige Analysten und Journalisten daran mit, dass die Darstellung der eigenen Fähigkeiten oft zur Luftnummer verkommt und selbst die größten Scharlartane zu High Potentials hochgejubelt werden.

Zusätzlichen Anschauungsunterricht erteilt Schwertfeger in ihrem Rundgang durch die Halbwelt der Strukturvertriebe, der Motivationstrainer (Emile Ratelband, Jürgen Höller, Bodo Schäfer) und der International Buisiness School (IBS), nicht zu vergessen die dubiosen Geschäfte mit Gütesiegeln oder akademischen Titeln. Das Aufrüttelnde an diesem Pandämonium der hinterhältigen Lügen und der vorsätzlichen Augentäuschungen ist aber nicht die Konsequenz, mit der sie heute in allen Bereichen unseres Lebens praktiziert werden, sondern die Tatsache, dass uns diese Schilderungen weder abstoßen, noch in Erstaunen versetzten. Der Leser quittiert Schwertfegers Abrechnung mit der herrschenden Verkommenheit mit einem fragenden Schulterzuckenden. Schlimm genug.

Als ebenso deplatziert mag er das "Plädoyer für mehr Ehrlichkeit" am Schluss empfinden. Bluffen habe verheerende Folgen, meint Schwertfeger, für den Betrogenen ebenso wie für den Betrüger selbst. Wer mogelt, bekommt vielleicht einen Job, ist ihn aber auch auch gleich wieder los, sowie die schillernde Seifenblase geplatzt ist. Das mag schon stimmen, aber Schwertfeger bleibt die Antwort schuldig, auf welchem Wege die Rückbesinnung auf Glaubwürdigkeit, Vertrauen und Ehrlichkeit denn vonstatten gehen soll: "Auf jede Welle gibt es eine Gegenwelle." Ein Gezeiten-Modell, das diffus eine bessere Zukunft verspricht, ist jedenfalls kein Motor gesellschaftlicher Veränderung. Denn nicht jeder Irrweg führt irgendwann automatisch auf den Pfad der Tugend zurück.

Auch Ogger beklagt den nicht nur mit dem Zusammenbruch der Finanzmärkte immer härter und brutaler werdenden Verteilungskampf. Schon im Supermarkt werden wir über den Wühltisch gezogen. Geheime Kartelle sprechen eine skandalöse Preisgestaltung ab, die früher grundsoliden Banken verwandeln sich in verwegene "Zockerbunden", Politiker, Beamte und Ärzte wirtschaften in die eigene Tasche. Manager plündern ihre eigenen Konzerne aus oder betreiben Bilanzkosmetik zum Schaden ihrer Aktionäre. Überall lauert der schnelle Deal, das krumme Geschäft, der gewitzte Steuertrick, die halblegale Bereicherung. "Raffen ist die erste Bürgerpflicht", lautet ein Unterkapitel in Oggers Buch, "Blutspur von Banken und Sparkassen" ein anderes.

Auch wenn Ogger ebenfalls eine Litanei der dunklen Machenschaften verfasst hat, ist er sich der desensibilisierenden Wirkung der Berichterstattung doch bewusst: "Der Empörungspegel des Publikums sinkt von Affäre zu Affäre [...]. Obwohl er weiß, dass er die Zeche zahlen muss, regt das alles den Bürger immer weniger auf. Wie ein gelangweilter Fernsehzuschauer zappt er sich durchs Affärenprogramm". Und: "Betrug ist quasi die Geschäftsgrundlage der modernen Wirtschaft." Wer aber glaubt, Ogger würde seinen ernüchternden Befund à la Schwertfeger durch einen Aufruf zum Innehalten oder zur Rückkehr abfedern, der irrt. Ogger ist umgekehrt gepolt: In den Zeiten der Betrüger-Ökonomie müssen wir lernen, Lug und Trug zu erkennen, Tricks und Täuschungsmanöver zu durchschauen.

Daher enthält das Buch zunächst - schlichte - Tipps für den Umgang mit Banken oder Kampfstrategien für den einsamen "Bürokrieger". Bis an die Zähne mental und juristisch aufgerüstet soll der Ego-Fighter die Ellbogengesellschaft mit ihren eigenen Waffen schlagen. Denn der durch die Betrüger-Wirtschaft gewappnete Kunde kennt seine Macht. Informiert und clever wie er ist, unterläuft er alle Hochpreissysteme und Täuschungsabsichten. Seine Kleidung kauft er beim Hersteller, sein Auto vom Reimpoteur, und selbst dem Handwerker begegnet er mit gesundem Misstrauen. Den Übergang von der markenbewussten 'Generation Golf' zur erfolgsorientierten 'Generation Ego' hat er ebenso vollzogen wie den von der dümpelnden 'Ich-AG' zur sauber durchkalkulierten und wirtschaftliche Prosperität verheißenden 'Ego-AG'.

Weit besser als mit Integrität und Vertrauenswürdigkeit fährt er mit Halbwissen und Chuzpe. Er jagt nicht zugeknöpft auf einem durch Festanstellung und Lohnsteuerjahresausgleich befriedeten Terrain, sondern hemdsärmelig in freier Wildbahn. Seine bevorzugte Fortbewegungsart ist die Gratwanderung: mit einem Fuß auf dem Gipfel des Erfolges, mit dem anderen im Zuchthaus. Vielleicht auch mit beiden, denn wie viele andere hat auch Ogger selbst den Bogen überspannt: der Wirtschaftsjournalist wurde 1994 wegen Steuerhinterziehung zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe und einer Geldstrafe von 100.000 Mark verurteilt.

Auch bei der Lektüre der "Ego-AG" wird dem Leser ganz metallern ums Herz. So sehr hat sich der Autor einer erfolgreichen Bluff-Strategie befleißigt: dem Abkupfern. Ungeniert bedient sich Ogger bei Schwertfegers Recherchen - gerade so, als habe er dort das Kapitel "Mehr Schein als Sein", das sich mit dem unrechtmäßigen Plagiieren befasst, besonders aufmerksam studiert. Nicht, dass man mich missverstehe: Ogger begeht mit der freundlichen Übernahme keinen Verrat an seinen Ideen, sondern bleibt ganz auf der Linie seiner Ego-Apologie. Dabei befindet er sich gar nicht einmal in schlechter Gesellschaft, wie ein einschlägiger Aphorismus Ulrich Horstmanns beweist: "Geistiger Diebstahl bleibt unfein, aber gegen eine gepflegte Ideenhehlerei wäre postmodern nichts einzuwenden."

Schwertfegers und Oggers Ego-Fibeln laufen bei im Grunde identischen Diagnosen doch auf unterschiedliche Konsequenzen hinaus: Rückkehr zu mehr Fairness und Ehrlichkeit lautet die eine, die gegebenen Verhältnisse in seinem Tun berücksichtigen und egoistisch 'durchstarten' die andere Forderung. Vielleicht ist Oggers Lösung bei allem nassforschen Willen zur mehr oder weniger schonungslosen Durchsetzung der eigenen Interessen die ehrlichere, und Schwertfegers Hoffnung dagegen eine romantische Illusion. Der Zug ist längst abgefahren, und das auf gut geschmierten Gleisen. Trotzdem bleibt eine Frage, die schon den Aufklärer Pierre Bayle in ähnlicher Form bewegt hat: Wie ist eine Gesellschaft von Egoisten möglich?

Titelbild

Bärbel Schwertfeger: Die Bluff-Gesellschaft. Ein Streifzug durch die Welt der Karriere.
Wiley-VCH Verlag, Weinheim 2002.
276 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3527500383
ISBN-13: 9783527500383

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Günther Ogger: Die Ego-AG. Überleben in der Betrüger-Wirtschaft.
C. Bertelsmann Verlag, München 2003.
320 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3570006638

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