"Ich würde eine Toleranzpädagogik nicht am Holocaust ansetzen"

Wolfgang Benz im Interview über alten und "neuen" Antisemitismus und die deutsche Erinnerungskultur

Von Andrea GeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Geier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Geier: Herr Benz, seit letztem Jahr wird immer wieder über den so genannten "Neuen Antisemitismus" gesprochen. Sie schreiben in ihrem Buch "Was ist Antisemitismus?", dass es keinen neuen Antisemitismus gibt. Warum erhält der Begriff Ihrer Ansicht nach so viel Aufmerksamkeit und warum lehnen Sie ihn ab?

Benz: Immer, wenn ein Phänomen in die öffentliche Aufmerksamkeit tritt, wird es als 'neu' verkauft. Das sind die Wirkungen der Mediengesellschaft. Auch der Rechtsextremismus wird alle paar Jahre, wenn wieder etwas passiert ist, wenn man aus dem Tiefschlaf des Wegsehens erwacht, plötzlich als die 'Neue Rechte' bezeichnet. Ich erkenne aber nichts Neues am Antisemitismus. Wenn man sich mit Antisemitismus beschäftigt, dann beschäftigt man sich mit einem festen Formenkanon von Ressentiments, von Vorurteilen, von Einstellungsmustern.

Herr Möllemann hat mit keinen anderen Ressentiments gearbeitet als sie nach ihm Hohmann und vor ihm schon unzählige andere bedient haben; neu sind allenfalls die Träger und die Instrumentalisierungen. Das gab es vor Möllemann nicht, dass im Wahlkampf aus einer Partei der politischen Mitte heraus antisemitische Ressentiments als Angebot an Wähler vorgeführt wurden und die Einladung, sie zu übernehmen, ausgesprochen worden ist. Aber die Ressentiments sind immer dieselben: die jüdische Weltverschwörung, das angebliche Wuchertum der Juden, dass sie den Kapitalismus oder den Kommunismus erfunden haben usw. Mit diesen Versatzstücken lässt sich beliebig spielen, und es wird beliebig gespielt. Deshalb ist auch die islamistische Judenfeindschaft nichts völlig Neues. Es ist nur für uns besonders blamabel, dass islamistische Fanatiker mit Stereotypen arbeiten, die im 19. Jahrhundert in Europa erfunden wurden, etwa den "Protokollen der Weisen von Zion", und es ist beschämend, dass sie in ihrem Kampf gegen Israel und die Juden Stereotypen des Rassenantisemitismus übernommen haben, die ihnen vom Islam her völlig fremd gewesen sind.

Geier: Sehen Sie einen Unterschied zwischen antisemitischen Einstellungen der islamischen Minderheiten in den europäischen Ländern, unter denen, wie der EU-Antisemitismusreport ja auch gezeigt hat, antisemitische Tendenzen wachsen, und antijüdischen Einstellungen in der islamischen Welt? Ist das eine besondere Konstellation in Europa?

Benz: Alle Vermutungen sprechen dafür. Es ist ja eigentlich ganz einleuchtend, dass junge Männer, junge Muslime aus Nordafrika, die in Frankreich an der untersten Skala der sozialen Stufenleiter leben und keine Perspektiven haben, ihre Frustrationen in einem ungleich stärkeren Hass gegen vermeintlich Schuldige, die Juden, abreagieren, als wenn sie in ihrer Heimat mit ordentlichem sozialen Status lebten. Es gibt auch Hinweise darauf, dass islamistische Extremisten in Deutschland rigoroser gegen Israel und gegen Juden Stellung nehmen als es in ihrer Heimat üblich ist; wenn beispielsweise junge Türken in Kreuzberger Schulen in patriotischem Abscheu den Unterricht verlassen, wenn nur das Wort Israel fällt, dann ist das in Ankara oder in Istanbul nicht vorstellbar. In der Diaspora sind ja patriotische Emotionen offensichtlich immer stärker. Die Deutschen in Namibia sind nationaler bestimmt als sie in Castrop-Rauxel auftreten, das ist ein ganz natürlicher Effekt, und im Falle von Unterschichten ist er umso ausgeprägter.

Geier: Sie bezeichnen die Judenfeindschaft als Paradigma für soziale Vorurteile. Sehen Sie Differenzen zu anderen Formen der Diskriminierung, etwa Rassismus oder Xenophobie?

Benz: Ja, natürlich. Im Einzelnen differenziert sich das sehr aus. Gegen Sinti und Roma werden zum Teil ähnliche, zum Teil aber auch ganz andere Stereotypen in Stellung gebracht. Gegenüber Schwulen sind es andere Ressentiments, die zum Teil gar nicht vergleichbar sind, aber in ihrer Wirkung natürlich sehr ähnlich. Wenn man Antisemitismus in den größeren Zusammenhang von Vorurteilsforschung einstellt, heißt das nicht, dass man damit alles nivelliert und in einen gleichförmigen Klageton einstimmt, wie elend man doch mit allen Minderheiten umgeht. Man muss die Differenzen im Auge behalten: Xenophobie ist nicht gleich Antisemitismus, obwohl es natürlich Schnittmengen gibt.

Geier: Die Antisemitismusforschung hat immer noch keine befriedigende Antwort auf die Frage gefunden, warum sich der Antisemitismus ausgerechnet in Deutschland zum Vernichtungsantisemitismus entwickelt hat, gerade angesichts der Tatsache, dass es in anderen europäischen Ländern zur Kaiserzeit und noch später eine vergleichbare Virulenz gab. Was sind für Sie die entscheidenden Eckpunkte?

Benz: Ich würde schlicht und einfach sagen, ich weiß es nicht. Je länger ich mich damit beschäftige, desto rätselhafter wird es mir, dass der Holocaust ausgerechnet in deutschen Amtsstuben ausgedacht wurde. Je stärker man sich mit Einzelheiten beschäftigt und sieht, dass der Hass der Mehrheitsbevölkerung in Litauen oder in Lettland wesentlich stärker war als in Deutschland, dass die Ukrainer einen viel unbefangeneren Judenhass gelebt haben, lange bevor sich in Deutschland Fantasten und Wahnsinnige unter der Ideologie des Antisemitismus zu organisieren begannen - umso rätselhafter und umso schwerer erklärbar wird es auch, und, um es emotional auszudrücken, umso entsetzlicher, dass politische Ratio und mustergültige Administration das alles nicht verhinderten, sondern im Gegenteil im Sinne der Perfektionierung wirkten.

Geier: Aufgrund dieser besonderen geschichtlichen Entwicklung gibt es natürlich Besonderheiten des deutschen Nachkriegsantisemitismus, den sekundären Antisemitismus, die Abwehr der Schuld. Wie schätzen sie die momentane Situation ein? Sie erwähnen, dass das persönliche antisemitische Vorurteil seit den 1960er Jahren abnimmt, aber auch, dass die Reaktionen auf Hohmann, auch von Jüngeren, ein hohes Potenzial für Weltverschwörungstheorien und latent antisemitische Einstellungen zeigen.

Benz: Je komplizierter die Welt wird, je schwieriger es ist, Zusammenhänge zu durchschauen und je mehr die Fähigkeit zu rationaler Welterklärung abnimmt, weil sie nicht mehr trainiert wird, umso stärker wird die Neigung, mit Verschwörungstheorien, Sündenbockzuweisung, sich eine unerklärliche Welt zu erklären.

Geier: Die Fälle Möllemann und Hohmann sind zwei der prominenten jüngeren Skandale, die Sie in Ihrem Buch behandeln. Sehen Sie gravierende Fehler, die man in der öffentlichen Auseinandersetzung mit den gezielten Tabubrüchen gemacht hat?

Benz: Nein, ich sehe keine Fehler und bin eigentlich ganz zufrieden - auch wenn die Vermittlung teilweise ziemlich mühevoll war. Dass Möllemann kläglich scheiterte, dass sein Angriff auf den Grundkonsens nicht funktionierte und das Angebot, eine Minderheit zum Sündenbock zu stilisieren, durchschaut wurde, dass er nicht 18 Prozent für seine FDP bekommen hat, ist ein Verdienst der meinungsführenden Eliten in diesem Lande und nicht zuletzt der Medien. Ebenso, dass Herr Hohmann mit seinem plumper gemachten, abgefeimten patriotischen Projekt so sang- und klanglos unterging und ihn die CDU-Fraktion unter dem Eindruck der öffentlichen Wahrnehmung relativ schnell fallen ließ, dass man sich deutlich distanzierte und im Nachgang auch der Parteiausschluss erfolgte. Das ist ein gutes Beispiel für einen funktionierenden politischen Grundkonsens, auch wenn sehr viele Leute aus der rechten konservativen Ecke nicht alles richtig verstanden haben und sich in vordergründiger Solidarität an die Seite Hohmanns geschlagen haben. Aber es hat keine Massenaustrittswelle geben, es ist keine neue rechte Partei gegründet worden; die Sanktion kam relativ unmittelbar und sie hat gegriffen, das ist beruhigend. Allerdings: Ich will nicht hochrechnen, wie oft so etwas noch funktionieren kann und ob nicht nach dem Motto 'steter Tropfen höhlt den Stein' mit wachsendem Abstand vom Holocaust dies irgendwann funktionieren kann.

Geier: Sie meinen, dass der Grundkonsens in Gefahr geraten könnte, wenn die Versuche der Enttabuisierung immer weiter vorangetrieben werden?

Benz: Ja, wenn die NPD und die DVU mit ihren gezielten Provokationen gegen die Erinnerungskultur der Mehrheitsgesellschaft Erfolg haben sollten. Aber ich glaube nicht daran.

Geier: Sie sagten eben, Hohmanns Provokation sei relativ primitiv gewesen. In meiner Wahrnehmung lag ein Unterschied zwischen den Skandalen um Möllemann und Hohmann darin, dass sich interessante Verständnisschwierigkeiten der Hohmann-Rede gerade bei den Leuten zeigten, die den Text zwar für antisemitisch hielten, aber dafür teilweise unpassende Argumente anführten. War die Rede nicht doch in einer bestimmten Weise relativ clever?

Benz: Für die, die nur ein paar Parolen oder Schlagworte kannten und mit vordergründigen Informationen ausgerüstet auf die Seite Hohmanns gingen, mag das cleverer ausgesehen haben. Ich habe den Hohmann-Text so oft gelesen und habe natürlich auch das nötige Insiderwissen, ich falle nicht darauf herein, wenn es heißt, 'sogar der Autokönig Henry Ford hat gesagt'; man weiß, dass Henry Ford ein Antisemit war, dass er an die "Protokolle der Weisen von Zion" glaubte, und man kennt auch die anderen Ingredienzien, mit denen Hohmann gearbeitet hat. Von daher kann man es als ziemlich clever, ziemlich abgefeimt ansehen, aber es ist doch nicht auf einem intellektuellen Niveau angesiedelt, hinter das sich Hohmann zurückziehen könnte nach dem Motto 'Nachdenken wird doch erlaubt sein'.

Geier: Die Verständnisschwierigkeiten in der Debatte waren für mich ein Zeichen, dass es wichtig ist, die antisemitischen Autoritäten und einen Kanon von Texten zu kennen, in den sich diese Rede auch einschreibt. Ist das nicht ein Unterschied zu Möllemann, der mit schlichten Parolen Antizionismus betrieben hat?

Benz: Ja, Möllemann hat ein paar Schuldige benannt, die unsympathisch sind und die man aus dem Fernsehen kennt, sodass man sich leicht mit ihm identifizieren kann. Im Falle von Hohmann erleichtert es natürlich das Geschäft, wenn man die Textsorten und den Formenkanon kennt - aber auch, wenn man sie nicht kennt, muss man schon sehr einfach gestrickt sein, um das nachzuvollziehen, wenn er etwa alle diese Kommunisten vorführt, die Juden sind, dann muss doch auch ein normaler Mensch ins Grübeln kommen, wie definiert man eigentlich den Juden? Unterstellen wir, Sie sind Protestantin, dann sprechen Sie jetzt mit mir als Vertreterin der protestantischen Kirche? Auf diese Idee kommt normalerweise niemand, nur beim angeblichen Juden kommt man sofort auf diese Idee, und das bedient Hohmann. Deshalb waren es wahrscheinlich eher die Anspruchsloseren, die auf ihn hereingefallen sind, oder wie dieser General, Reinhard Günzel, der den Hut nehmen musste, der nur die Überschrift gelesen hat, "Gerechtigkeit für Deutschland", da sind wir alle dafür ...

Geier: ... für das patriotische Projekt ...

Benz: ... ja, da kann man gar nichts dagegen sagen, da muss man nichts weiter lesen - und dann fällt man eben herein.

Geier: Sie beschreiben mit der Formel, "der Antisemit weiß, was er glaubt", dass sich die Judenfeindschaft einer rationalen Argumentation entzieht, weil es um Emotionen geht und nicht um Faktion. Aber antisemitische Texte zeichnen sich vielfach durch eine sehr rationale Vorgehensweise aus, mit der diese Emotionen geweckt werden, man sieht durchstrukturierte Argumentationen, Bezüge auf antisemitische Autoritäten, Kenntnis der Tradition. Wie stellt sich für Sie das Zusammenspiel von Irrationalität und Rationalität dar, zwischen Judenfeindschaft als Ausdruck von eigentlich Irrationalem, von Paranoia, von Verfolgungsangst einerseits und andererseits der Funktionalisierung - was sich ja nicht ausschließen muss, wenn dieselben Leute, wie beispielsweise Goebbels, Antisemiten waren, aber den Antisemitismus sehr differenziert zu instrumentalisieren wussten.

Benz: Dieses Verhältnis ist natürlich ganz schwierig. Nehmen wir doch einen aktuellen Fall eines rabiaten Antisemiten, Horst Mahler. Man kennt seinen Werdegang, noch vor 20 Jahren stand er ganz woanders und jetzt ist er der Vordenker der Rechten in Sachen Antisemitismus. Es ist schwer erklärbar. Horst Mahler kann zweifellos lesen und schreiben. Er hat zweifellos Verstandeskräfte, die möglicherweise weit über dem Durchschnitt liegen, denn wer Schriftsätze nach allen Regeln der juristischen Kunst verfasst, kann nicht dumm sein. Er benutzt also jetzt diese 11 Monate seines Prozesses in Berlin wie weiland Adolf Hitler 1924, um in stundenlangen, schriftlich formulierten Tiraden zu beweisen, wie schlecht die Juden sind, und tischt den ganzen alten Rassenhass auf, den er in seiner linksextremen Zeit für vollkommen idiotisch gehalten hätte. Ich weiß nicht, was ihn bewegt. Ich weiß auch nicht, ob Horst Mahler glaubt, was er in endlosen Beweisen mit gefinkelten Argumenten vorträgt. Möglicherweise hat ein Wandel stattgefunden und er ist so paranoid, wie er sich darstellt, oder aber er ist nur ein geltungssüchtiger, egomanischer Brandstifter, der nicht glaubt, was er sagt, sondern der aus reinem Zynismus hunderte, tausende von Menschen mit seinen Gedankengängen verführt. Niemand wird das entscheiden können, wenn er nicht eines Tages ein Bekenntnis ablegt, aber dann ist es so ähnlich wie bei Goebbels, dem man eine Lebensbeichte vermutlich nicht abgenommen hätte. Fest steht: Emotionaler Hass kann durchaus intellektuelle Kräfte mobilisieren, die dann in den Dienst gestellt werden, um diesen Hass zu befördern.

Geier: Sie betonen immer wieder, dass es sich beim Antisemitismus um Projektionen, um beliebige Ressentiments handelt, und man sich mit Antisemiten beschäftigen muss, wenn man etwas über Antisemitismus erfahren will, nicht mit Juden. Mir scheint ein Dilemma der Forschung darin zu liegen, dass sie antisemitische Behauptungen immer wieder mit Blick auf die jüdische Lebenswelt zu widerlegen sucht, also Stereotype ernst nimmt und sich in dem Widerlegen von Statistiken à la 'wie viele Juden arbeiteten denn wirklich in der Presse' verheddert, weil sie dann auch ab und an auf Statistiken trifft, die scheinbar den Antisemiten zuarbeiten. Müsste es nicht ausschließlich um die Frage gehen, welcher Wert einzelnen Fakten im antisemitischen Diskurs zukommt?

Benz: Ich vertrete einen Forschungsansatz, der sich mit Stereotypen auseinander setzt, um sie zu entlarven, nicht um sie zu widerlegen. Wenn jemand der tiefen Überzeugung ist, der Mond ist aus Käse, dann trete ich nicht in die Falle, ihm zu beweisen, dass der Mond nicht aus Käse ist oder sein kann, sondern ich versuche herauszufinden, warum er das behauptet, was seine Beweggründe sind, so einen Irrsinn zu verzapfen, aber ich versuche nicht, ihm oder dem Publikum zu beweisen, dass der Mond aus anderer Materie geschaffen ist. Wenn der Antisemit offenkundig Lügen platziert und sagt, 94 Prozent der Juristen in Berlin sind Juden, dann ist man natürlich versucht zu sagen, es waren nur 48 Prozent, dann wird das Publikum sagen, ja, 48 Prozent sind ja eigentlich immer noch zu viele - dann habe ich mich auf die Bahn begeben, auf die der Antisemit mich eingeladen hat. Den positiven Beweis zu erbringen, nach dem Motto 'schau her, die Juden sind Menschen wie du und ich', das funktioniert nicht. Ich verstehe mein Geschäft der Aufklärung über Antisemitismus als Wissenschaftler darin, die Augen zu öffnen, zu fragen, welchen Sinn ergibt das, warum muss der Antisemit diese Beschuldigungen aufstellen, warum argumentiert er so. Nach meiner Überzeugung ist Antisemitismus ein Defekt der Nicht-Juden, ein Defekt der Mehrheitsgesellschaft, deshalb muss ich nicht nach den Charaktereigenschaften der Juden suchen, überspitzt formuliert: die sind mir völlig egal.

Geier: In "Was ist Antisemitismus" bezeichnen sie die Judenfeindschaft nicht nur als Paradigma für soziale Vorurteile, sondern auch für Gruppenkonflikte. Gerät man nicht in genau dieses Dilemma, da man sich in diesem Fall nicht nur mit der Wir-Gruppe, der Mehrheitsgesellschaft, beschäftigt, sondern mit dem gegenseitigen Verhalten, der Interaktion zwischen der Mehrheitsgesellschaft und der ausgegrenzten, diffamierten Minderheit?

Benz: Das ist dann der zweite Schritt, der dadurch evoziert wird. Wenn ich der Gruppe einer Mehrheit so lange einrede, dass eine Minderheit diese oder jene schlechten Eigenschaften hat, dann muss die Mehrheit reagieren und sich damit auseinander setzen. Natürlich erzeugt es immer wieder Erstaunen, gerade auch bei gutartigen und freundlichen Menschen, wenn ich sage: was die Juden für Eigenschaften haben, ihre Kultur und Religion, das ist zur Betrachtung des Antisemitismus vollkommen egal. 'Das kann doch nicht sein, es geht doch um die Juden, ich kenne einen ...'. Diese Art der Betrachtung hinterlässt vielfach tiefe Unzufriedenheit und kommt insbesondere bei den Mitgliedern mancher christlich-jüdischen Gesprächskreise gar nicht gut an, weil die ja das Gute im gemeinsamen Tun suchen sollen und nach dem Motto angetreten sind, 'schaut her, die Juden sind so gut wie andere Menschen auch'.

Geier: Das scheint mir auch ein zentrales Problem für den Umgang mit dem Antisemitismus im Schulunterricht. Die Vergangenheitsbewältigung hat dort ihren festen Platz, aber vielfach wird offenbar die Empathie mit den Opfern in den Vordergrund gerückt wie auch der positive Beweis, dass die Juden ja gar nicht so sind, wie Antisemiten behaupten. Wie müsste Ihrer Ansicht nach eine Immunisierung gegen Antisemitismus aussehen?

Benz: Ich würde eine Toleranzpädagogik nicht am Holocaust ansetzen. Das verstößt natürlich gegen viele lieb gewonnene Denkgewohnheiten, das stößt alle Leute, die mit diesem entsetzlichen Begriff "Holocaust Education" arbeiten, vor den Kopf. Aber ich kann Vierzehn- und Fünfzehnjährigen nicht sagen, 'seht her auf das Leid dieser Gruppe, seht, was Entsetzliches passiert ist, und morgen gehen wir in die KZ-Gedenkstätte, da müsst ihr traurig sein, und hinterher seid ihr gute Menschen'. Das funktioniert einfach nicht. Ich muss Jungen und Alten und allen Menschen erklären, dass ich nicht diese Katastrophe des 20. Jahrhunderts, den Holocaust, stets bemühen muss, um zu vermitteln, dass ich einen Menschen anderer Hautfarbe, anderer Religion, anderer ethnischer Herkunft oder anderer sexueller Gewohnheiten nicht ausgrenzen, verfolgen, schließlich vernichten darf. Man muss an alltäglichen Beispielen ansetzen und Kindern und Jugendlichen sagen: Es ist unser höchstes Gut, dass der Andere, ganz egal, wie er aussieht und wie er betet und ob er betet, als gleichberechtigter Mensch geachtet wird. Das kann man an konkreten Beispielen tun, ohne sich mit immer neuen Rezepten auf die Vergangenheit zu stürzen. Man muss doch einfach der Tatsache Rechnung tragen, dass Geschichte nicht von vorneherein das Lieblingsfach der Schüler ist. Wenn man ihnen mit einer Überlast an Moral kommt, dann bleibt für Didaktik kein Raum mehr, dann machen die zu - 'was geht uns das an?' -, und sie haben ja eigentlich auch Recht, warum sollen sie sich schämen oder schuldig fühlen, für das, was der Großvater oder Urgroßvater vielleicht getan hat oder wobei er zugesehen hat?

Geier: Das Verbrechen der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden hat in unserer Erinnerungskultur einen festen Ort. Gleichzeitig gibt es eine Konkurrenz von Opfergruppen. Derzeit gibt es ja immer noch Streit, wie man das Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma nennen soll. Wie sehen Sie diese Konkurrenz und wofür würden Sie in der Frage dieses Denkmals plädieren?

Benz: Das ist natürlich alles viel zu spät. Als Vorsitzender des Beirats des Denkmals für die ermordeten Juden Europas habe ich die Pflicht, in einem Gremium Frieden zu stiften und zu überlegen, wie der anderen Opfergruppen, die nicht in der Denkmalwidmung des großen Denkmals erscheinen, gedacht wird. Da bin ich in einer schwierigen Lage. Ein Ensemble von abgestuft hierarchischen Denkmalen für die anderen Opfergruppen ist etwas ganz Unerfreuliches, das kann man nicht wollen, aber genau das geschieht. Man hätte dieses Denkmal allen Opfern des Nationalsozialismus widmen müssen, aber das ist politisch vor zehn Jahren ausdiskutiert worden, es gibt einen Beschluss des Bundestages und das Denkmal wird jetzt eröffnet. Dieser Zug ist also abgefahren. Aber es bleibt unbefriedigend, dass sich ein Ensemble von kleineren Denkmälern um das große gruppieren wird. Es ist mir nicht oder nur in Ansätzen gelungen, die Idee durchzusetzen, dass es nicht immer Stein und Stahl sein muss, sondern dass es sehr viel wichtiger wäre, die Erinnerung an den Völkermord an Sinti und Roma, die Erinnerung an den barbarischen Umgang mit Deserteuren durch Veranstaltungen und durch Interesse in den Medien im Alltag wach zu halten. Wir haben in unserem Beirat allerlei angestoßen, aber wir konnten diesen Mechanismus nicht außer Kraft setzen: Hier gibt es das große Denkmal für die Juden, wo ist das Denkmal für die Schwulen, wo ist das Denkmal für die Euthanasieopfer, wo ist das Denkmal für diese Gruppe und jene. Ich hatte den Vorschlag gemacht, dass einmal jährlich der Bundespräsident oder Bundestagspräsident oder eine andere würdige Figur die Rede im Parlament zu einer Opfergruppe hält oder die Berliner oder die Münchner Philharmoniker feierlich mit Regierung in den ersten Reihen und dem Bundespräsidenten ein Gedenkkonzert zu Ehren der ermordeten Schwulen veranstalten. Wenn der Bundespräsident kommt, dann muss die Presse darüber berichten, so könnte man es, das war meine naive Vorstellung, in die Alltagsgedächtniskultur einbringen. Dagegen das Denkmal aus Stein: Wenn die Eröffnung vorbei ist, dann erinnern sich diejenigen, die ohnehin in der Erinnerungsarbeit tätig sind, aber nicht der Vorbeigehende, nicht der Zeitungsleser ... aber da sind die Zeichen einfach gesetzt und erzeugen nach dem Modell des großen Denkmals Gleichartiges.

Geier: Zum Abschluss: Gab es für Sie in letzter Zeit ein fatales Beispiel für antisemitische Einstellungen oder aber auch ein besonders ermutigendes Beispiel für positive Tendenzen?

Benz: Mir fällt nichts ein, was ich mit dem Preis des besonders Fatalen auszeichnen würde. Ein positives Zeichen: Da denke ich gerne an einen 27. Januar, als der Landtag von Rheinland-Pfalz beschlossen hat, zur Erinnerung an die vertriebenen, ermordeten, erschlagenen Bürger des Landes eine reguläre Landtagssitzung in der KZ-Gedenkstätte Osthofen abzuhalten. Es war eine sehr würdige Veranstaltung, die auch über den Landessender in alle Schulen übertragen wurde. Der Landtagspräsident hat die Sitzung eröffnet, der Ministerpräsident hat eine kurze Rede gehalten, ein Historiker, Sie ahnen, wer das war, hat dann 30 Minuten über die Geschichte gesprochen, eine Schauspielerin hat rezitiert, ein Rabbiner hat gesprochen, der Landtagspräsident hat die Sitzung geschlossen. Das fand ich eine sehr vernünftige Idee. Der Wermutstropfen war dann, dass ein bekannter jüdischer Publizist am selben Tag verkündet hat, das sei die größte Heuchelei, die ärgste Dummheit und eine Frechheit, da sehe man es wieder, mit welcher Chuzpe man sich solcher edler Dinge bemächtigen würde. Da war ich mit Henryk Broder überhaupt nicht einig, und die Menschen in Rheinland-Pfalz waren monatelang zutiefst verstört und wollten wissen, was sie eigentlich falsch gemacht haben. Das ist mir, auch wenn es nicht mehr ganz aktuell ist, als besonders glücklich, möglicherweise auch als besonders fatal aufgefallen.

Geier: Herr Benz, herzlichen Dank für dieses Gespräch.

Prof. Dr. Wolfgang Benz ist Professor für Geschichte an der Technischen Universität Berlin und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung.
Das Interview fand am 18.03.2005 in Leipzig statt.

Titelbild

Wolfgang Benz: Was ist Antisemitismus?
Verlag C.H.Beck, München 2004.
272 Seiten,
ISBN-10: 3406522122

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